vonWolfgang Koch 15.06.2015

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Der Wiener Philosoph Walter Seitter, für den der Gebrauchwert der Arbeit die Arbeitslust ist, führte im langen Sommer der Theorie einer Schar besessener Leser an.

Die wilde Akademie, die zwischen 1960 bis 1990 in deutschen Studierstuben tagte, die in Hängematten und auf WG-Matratzen las, ersetzte dabei auf verschlungenen Wegen die Autoren der Kritischen Theorie durch die Schriften sogenannter französischer Modephilosophen. Heute wärmen sich die Teilnehmer dieses Lesemarathons einer ganzen Generation an den Lagerfeuern des Kunstbetriebs und braten immer kleinere Kartoffelpuffer.

Nicht so Seitter. Der überhaupt nicht. Dieser glatzengeschmückte Wiener Denker und Autor nimmt zweimal die Woche in einem Nobelcafé hinter den Blättern von Le Monde Platz und veranstaltet weiterhin jeden Mittwoch ein Platon-Seminar (Hermesgruppe). »Intensität« und »Dispositiv«, »Nomadologie« und »Tumult«, »Simulakrum« und »Wunschrevolte« – diese Codes der damaligen akademischen Avantgarde sind für ihn nie wieder zu leeren Worthülsen geworden, sein Philosophentum besteht immer noch in emphatischem und respektlosem Lesen.

Im Augenblick beschäftigt sich Seitter hingebungsvoll mit Otto Weininger und den Denkern des Wiener Kreises, mit Otto Neurath und dem vergessenen Außenseiter der Zwischenkriegsepoche, dem österreichischen Wissenschaftssoziologen Edgar Zilsel.

Die wilde Akademie der Frankophilen, die mag in den letzten dreißig Jahren im Gleichschritt mit den Traditionsbuchhandlungen dahingeschmolzen sein, an unerschrockener Entdeckerfreude und an intellektueller Unberechenbarkeit hat sie jedenfalls nichts eingebüßt.

Mit Seitter kann man so trefflich über Grillparzers Hegel-Satire schwätzen wie über Nietzsches Grillparzer-Begeisterung. Er ist ein vor Aperçus sprühender Intellektueller, ein mit dem maßlosen Glauben an den Unterhaltungswert von Ideen ausgestattet Renaissancemensch, den es durch irgendwelche Winke des Schicksals nacheinander in die Studentenrevolte 1968, dann unter heilige gotische Kuppeln, in die Strandkörbe von Sylt und nun eben –  ja, warum nicht? – in das Rokoko-Interieur einer Zuckerbäckerei verschlagen hat.

Für den österreichischen Geist, falls es so etwas überhaupt gibt, zeigt Seitter wenig Interesse, er betrachtet dieses Phantom wie ein rätselhaftes Insekt, vorsichtig von der Seite.

»Schauen Sie, Wien ist die kleinste Weltstadt der Welt. Vor sechzig Jahren ist Lacan hierher gefahren, um seinen Vortrag Das Freudsche Ding oder Sinn einer Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse zu halten. Während des Vortrags vollzog er eine überraschende Hinkehr zum Pult und erteilte ihm das Wort. Diese Wendung Lacans zu seinem aktuellen Nächsten, seinen momentanen Zeit- und Ortgenossen, greife ich immer wieder auf, um die topischen Dimensionen des Denkens zu erörtern«.

Ein Mitkurator der vielen Theoriewerke aus dem heißen Sommer, der Deutsche Ulrich Raulff, nannte Seitter in seinem im Vorjahr erschienen Rückblick (»Wiedersehen mit den Siebzigern«) einen »österreichischen Katholiken« und einen »Ikonophilen«.

»Ein österreichischer Katholik ist eigentlich eine Tautologie«, sagt Seitter schmunzelnd, und man erinnert sich, in dem Mann ja auch einen Thomas Bernhard-Leser vor sich sitzen zu haben. Wer war denn das unter Österreichs Gebildeten in den letzten Jahrzehnten nicht – ein Thomas-Bernhard-Leser?

Heute ist Bernhard schon fast so vergessen wie Roland Barthes, Jean Baudrillard oder Gilles Deleuze – diese Lichtgestalten jener Lesegeneration, die tatsächlich erfolgreich Theorie in ein ästhetisches Erlebnis und ein Lifestyle-Accessoir verwandelt hat.

Seitter, der Ende der 1960er-Jahre bei Heideggerianern in Freiburg studierte, fuhr ab 1967 immer öfter nach Paris, hörte sich bei Raymond Aron in die französischen Vorlesungsstil ein und wechselte auf seiner Wahrheitssuche bald zu Claude Lévi-Strauss und Michel Foucault.

Sechs Jahre davor hatte Foucault seine fulminante Großstudie Naissance de la Clinique/ Die Geburt der Klinik –  eine Archäologie des ärztlichen Blick – in Wien abgeschlossen. Dafür hatte es kleinen geeigneteren Ort in Europa gegeben. Die Donaumetropole war schließlich die medizinischen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gewesen.

Im Archiv des Josephinums in der Währingerstrasse sitzend, nur einen Steinwurf von der Berggasse entfernt, hatte Foucault unter anderem Peter Johann Franks, ab 1776 in sechs Bänden publiziertes Hauptwerk System einer vollständigen medicinischen Polizey nach allen Regeln seiner Kunst seziert.

Da der Suhrkamp Verlag null Anstalten machte, Foucaults Studie aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen, setzte sich Seitter ans Werk. Als nächstes lernte er den Gründer des Berliner Merve Verlags, Peter Gente, beim Hanser in München kennen und bald saßen die beiden gemeinsam im Wohnzimmer von Foucault, der sich bei Diskussionen über die RAF vor seinen Gästen am Teppich entspannte.

Auf solch kommunikative Weise entstand in den 1970er-Jahren ein natürliches Biotop der Gegenkultur: eine von Begeisterung für schwierige Texte getragene Lektürebewegung, ein »Rezeptionszusammenhang«, wie das Philipp Felsch in seiner gerade erschienen Rückschau auf den langen Sommer der Theorie nennt.

»Felsch hat da mit viel Enthusiasmus eine kluge Milieustudie vorgelegt«, lobt Seitter. Er könne gut verstehen, dass sich die heutige Intellektuellengeneration für den damaligen Theorie-Import aus Frankreich interessiert.

Auch das intellektuelle Milieu braucht schließlich eine Geschichte, will es als Minderheit anerkannt werden.

© Wolfgang Koch 2015

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960-1990,  326 Seiten, München 2015, ISBN 978-3-406-66853-1, EUR 24,95

Foto: Peter Kubelka

 

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