vonWolfgang Koch 27.06.2015

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Wahrheit ist nach Foucault nicht einfach im Austausch der Kommunikation zu vermuten. Es lag diesem diskurskritischen französischen Philosophen darum einiges daran, Fachgrenzen im Denkgeschäft zu ignorieren und sich an der Fragmentierung der Wissensformen zu beteiligen.

Wenn jede Form eine gar nicht anders mögliche Verbindung von Kräfteverhältnissen ist, wie er dachte, kann die Geschichte wohl kein Bericht über soziale und ökonomische Wechselfälle sein und man muss auf die Konstruktion großer Synthesen verzichten.

Dieser Ansatz hat unter Historikern und Philosophen, Kulturwissenschaftern und Kunsttheoretikern bis heute seine Gültigkeit behalten. Ihm verdanken einige sogenannte Orchideenfächer an den Universitäten, dass sie im Statuswettbewerb der Exzellenzen überhaupt noch existieren. Es sind diese Geistes- und Kulturwissenschafter, die sich heute am stärksten bemühen, evolutionistisch zu denken und dabei die Verbindungen ihrer Untersuchungen trotzdem nicht mit ideologischen und gesellschaftlichen Auslegungen zu umgeben.

Der iwk-Forscher Gerhard Unterthurner versuchte das Denken Foucaults dem Tagungsteilnehmerinnen in Wien über das Begriffspaar Inklusion/Exklusion zu erschließen. Noch in den 1960er-Jahren sei Foucault – beeinflußt von George Batailles sakralsoziologischem Transgressionsdenken – begeistert gewesen von einem emphatischen Außen.

Mit dem Studium der juridischen Machtkonzeption sei Foucaults Traum von der Entgrenzung aber allmählich verflogen. In den 1970er-Jahren verstand er unter Exklusion ausschließlich eine negative Macht und differenzierte die Mechanismen der Disziplinierung nach drei griffigen Modellen: Lepra, Pest und Pocken.

Das mittelalterliche Modell Lepra, so Unterthurner, zog klare räumliche Grenzen, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Das davon abgesetzte und jüngere Modell der Pest nahm vielfältige Trennungen vor und wies im 19. Jahrhundert jedem Betroffenen einen ganz bestimmten Platz zu, um Masseneffekte von Seuchen zu vermeiden.

Das historische Resultat aus diesen beiden, einander überschneidenden Tendenzen, so Unterthurner, sei jener »Normalismus«, von dem der deutsche Literaturwissenschafter Jürgen Link gezeigt habe, wie er im 20. Jahrhundert immer flexibler geworden sei und nur mehr auf graduelle Unterscheidungen der Individuen gesetzt habe.

Als Drittes brachte Unterthurner das Modell Pocken ins Spiel, das nach Foucault die Menschen im Rahmen der Biomacht wieder gesamtheitlich erfasst habe. Dabei würden statistische Wahrscheinlichkeiten festgestellt, um die Gesunden gegen Ansteckungsherde im Inneren immunisiert.

In diesem Zusammenhang erzeugt jede sozialstatistische Definition von Risikogruppen neue »Lebensverbesserungs-Manien«. Jeder Mensch wird nur mehr als Ressource für die Lebensverlängerung eines andern gesehen.

Walter Seitter stellte bei der Tagung sein außergewöhnliches Format zur Schau, indem er es dem französischen Denker gleich tat und unter dem Titel »Menschenformen« zwei weit auseinander liegende geistesgeschichtliche Phänomene so geschickt aufeinander bezog, dass daraus Funken in alle Richtungen sprühten.

Ausgehend von Foucaults Begriff der Infamie, der im Gegensatz zum medizinischen Begriff des Anormalen aus der Sphäre des Rechts stammt, habe Foucault gefragt: »Wie geht ein Staat mit störenden Elementen um?«

Mit infamen Menschen seien die kleinen Existenzen gemeint gewesen, die von der eigenen Familie oder der näheren Umgebung der Polizei gemeldet worden sind, mit den flehentlichen Bitten, die »unerträglichen Personen« mögen aus dem Verkehr gezogen werden, um fortan für immer ungesagt und ungesehen zu bleiben. Königliche Siegelbriefe waren im 18. Jahrhundert dazu da, die betroffenen Individuen in sogenannten Hospizen oder Spitälern festzusetzen.

In Wien sei im tintenklecksenden Jahrhundert der merkantilistische Ökonom Johann Joachim Becher [1635-82] als Berater des Kaisers tätig gewesen. Becher gründete da ein Werkhaus, dessen hochtechnologische Ambitionen sich direkt mit der thematisierten Menschenbehandlung berühren.

Um eine gedeihliche Wirtschaftsentwicklung der Monarchie zu sichern, verlangte Becher, dass man sich verstärkt der »Aufferziehung der Jugend« widme, und das hieß im Jargon der Aufklärung: Kinder aus dem Stand der Bestialität heben und sie – weil ihnen wie dem »Weiber-Volck« angeblichder Verstand fehlte – mit pädagogischen Mitteln zu Menschen machen. Er bedürfe einer »Anthropogogia«, so Becher, die denselben Gesetzen wie das Goldmachen unterliegt.

Der merkantile Alchemist Becher wollte nämlich das Edelmetall aus Donausand herstellen, indem er der darin enthaltenen wertvollen Substanz zunächst allerlei geheimnisvollen Stoffe beimischte. Derselben »Transsubstantions-Illusion« unterlag Becher auch bei der Kindererziehung.

Das »Menschenformen«, diese Behandlung von als wertlos erachteter Kindheit zum mündigen Menschen, stand auch bald darauf bei der Geburtstunde der Psychiatrie Pate, nunmehr in Form der Masturbationsproblematik. Nervenärzte, Psychiater und Psychologen– sie alle sahen in der Kindheit lediglich einen generellen Schwächezustand. Bereitwillig übernahm diese akademische Elite eine Richterrolle, um mit Hilfe von rassistischen Vererbungs- und Degenerationstheorien den Gesellschaftskörper zu traktieren.

Von diesem scharfen Befund sprang Seitter direkt zu Otto Weininger [1880-1903], einem Enfant terrible des Wiener Fin de Siècle, das in seiner groß angelegten Charakterologie zum ultimativen Schluss kam, dass es dem Geschlecht der Frau wie dem jüdischen Volk gleichermaßen an wesentlichen Menschheitsqualitäten mangle.

Weininger verwandelte den seelischen Konflikt von Ich und Über-Ich in einen Kampf zwischen Mann und Weib; das heisst, da jedes menschliche Wesen bisexuelle ist, in ein inneres Ringen zwischen männlicher und weiblicher Substanz. Er war wie besessen von diesem Gedanken. »Die disjunktiv geteilte Sexualität übernimmt die Regie, die Logistik, die Zuteilung der Wesenseinheit«, so Seitter.

Weininger verband mit seinem Wahn übrigens die Forderung nach einer verstärkten Individualisierung der Erziehung, die die Kinder nicht allzu rasch in Knaben und Mädchen trennen sollte. Während der Jude zum Menschen werden konnte, indem er zum Christ konvertierte, blieb der »seelenlosen« Frau der Aufstieg zum Vollmenschen schicksalhaft tragisch versperrt.

Am Unglück der Frau, an ihrer »ontologischen Verlogenheit«, war nach Weininger letztendlich der Mann schuld. Der Antifeminismus dieses Brachialdenkers, argumentierte Seitter, sei letzthin ein Antimaskulinismus gewesen; Adolf Hitler habe Weiningers Nähe zum jüdischen Antisemitismus richtig erkannt und ihn wohl deshalb »den bravsten Juden« genannt.

Damit stellte Seitter gleich zwei Dinge in dem Raum der Foucault-Tagung: Erstens die »Menschenbehandlung« bei Becher und Weininger habe so etwas wie einen unschmeichelhaften philosophischen Genius loci von Wien formuliert; und zweitens Weinigers Suizid nach der Veröffentlichung seiner Streitschrift sei tatsächlich die logische Konsequenz seiner »Theorie-Gewalttat« gewesen.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Volksgarten Pavillon

 

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