vonWolfgang Koch 10.07.2015

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Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Eine gute Theorie muss leicht sein, wie der Schatten einer Forelle im Wasser. Das lässt sich mit einiger Berechtigung von dem Beitrag des Frankfurter Kulturwissenschafter Andreas Reckwitz zur Wiener Foucault-Tagung im Juni 2015 behaupten.

Für Reckwitz lieferte Foucaults lebenslange denkerische Anstrengung im Kern eine Sichtbarkeitsordnung der spätmodernen Gesellschaft. Der ungeheure Raum dieser Ordnung war disziplinär, seine Kräfte bezogen sich über den Sehsinn weit hinaus auf alle Aufmerksamkeiten der Lebenswelt und er stellten das Überwachen und Strafen von Normabweichungen in den Mittelpunkt.

Reckwitz nennt die überkommene Sichtbartkeitsordnung auch »Rationalisierungsdispositiv«, weil das Überwachen und Bestrafen abweichenden Verhaltens nicht einfach feudalherrschaftlich mit dem Recht des Stärkeren, mit der schützenden Autorität, o. ä. begründet wurde, sondern mit aufklärerischem Fortschrittsglauben.

Reckwitz erinnerte daran, dass Foucault seit mehr als dreißig Jahren tot ist und seither nur wenige Steine aufeinander geblieben sind. Das Rationalisierungsdispostiv sei mittlerweile von einer »postdisziplinären Sicherheitsordnung« abgelöst worden, bei der die Produktion von affektiv aufgeladenen Zeichen im Zentrum des Sozialen steht.

Reckwitz nennt den neuen Rhythmus der Zeit darum auch »Kulturalisierungs- oder Kreativitätsdispositiv«. Dieses hat nichts mehr mit der tiefen Erniedrigung des Ausgeliefertseins an unansprechbar namenlose Machthaber zu tun, wie das Foucault noch als Standard-Ausrüstung der Moderne beschrieben hat.

Bereits 2010 definierte der deutsche Kulturwissenschafter Kreativität als jenes »Eigenschaftsbündel einer wünschenswerten und zugleich allgemein erwarteten Subjektivität, die in der Lage ist, Neues zu schaffen und dabei sich selbst immer wieder auf überraschende Weise erneut« (edition Suhrkamp 2573).

Der Künstler und Bohemien, meinte Reckwitz in dem besagten Essay, werde als ästhetisch-ökonomisches Hybridprodukt in die postfordistische Ökonomie injiziert. Der entscheidende Schub habe um zirka 1900 mit dem Taylorismus eingesetzt und er sei durch die Digitale Revolution noch einmal gehörig verschärft worden.

Reckwitz bezieht seine These auf rechnerunterstützte Selbstoptimierung in der Gesundheitskontrolle (SQL) sowie auf das Erstellen von Konsum- und Riskoprofilen (Oneline Tracking). Im Kulturalisierungsdispostiv hätten die strenge Strafandrohung und der asymmetrische Blick eines Kontrollsregimes, wie sie Foucault beschrieben hat, ihre universelle Gültigkeit verloren. Das Subjekt würde sich nicht mehr verbergen, sondern um jeden Preis Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollen.

Das Rationalisierungsdispositiv hat den Beobachteten auf seinen Körper reduziert. In den neuen Sichtbarkeitszusammenhängen hingegen ist der Gorillakäfig die eigene Datenspur in den Netzwerken: das Profil, die Avatare, der Verlauf der Online-Aktivitäten. Die Affektstruktur, die noch im 19. Jahrhundert das Künstlergenie ausgezeichnete, expandiert damit in das gesamte soziale Feld – die »Sichtbarkeitsordnung kompetetiver Singularitäten«, wie das Reckwitz nennt, wird im hohen Maß unberechenbar und verwandelt sich unter der Hand in den Zwang präsent zu sein.

Hat unter den alten Griechen Schlichtheit noch als eine Vornehmheit gelten können, zählte es damals als Tugend, sich selbst zu beruhigen und sich unter Menschen zurückhaltend zu geben, sind wir nun beim anderen Extrem angelangt: Wer nicht dabei ist, existiert schlichtweg nicht.

In dieser Situation erfasst den Einzelnen leicht ein Gefühl der Wertlosigkeit. Am Boden liegend, betrachtet er endlose Himmelserscheinungen. An die Stelle der panoptischen Ordnung, der sich die Delinquenten zu entziehen versuchten, treten Selbstherabsetzung und Depression als Volkskrankheiten. Man befreit sich nicht mehr aus dem Zwang der Geschäfte, und Selbstgenügsamkeit gilt als grenzenlose Einfalt.

Reckwitz blieb freilich nicht bei dieser scherenschnittartigen Gegenüberstellung von zwei Sichtbarkeitsordnungen stehen. Er meinte bereits ein drittes Dispositiv heraufdämmern zu sehen: nämlich »eine Politisierung der Sichtbarkeit«.

Als Beispiel diente dem Theoretiker aus Frankfurt das politische und gesellschaftliche Sichtbarmachen von homosexuellen Paaren. In den letzten Jahrzehnten seien Schwule, Lesben und Transgender-Personen immer stärker in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Das begann mit den Outingskandalen und Regenbogendemos der 1980er-Jahre und führte schließlich zum Kampf um rechtliche Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften. Jede von der Mehrheit wahrgenommene sexuelle Differenz sollte endlich als normal hingenommen werden.

Diese Sicht der Dinge relativiert einiges an der Kritik der Genderpolitik, wie sie Tjark Kunstreich vorgenommen hat. Also, dass die Queers an der Eskalationspirale einer fortwährenden gegenseitigen Konstruierung kurbeln und dass sich die Subkultur tendenziell im Internet verläuft, dass die Homosexuellenpolitik keinen geographischen Ort mehr hat und sich das gesellschaftskonstitutionelle Projekt der Aufklärung in Foren verliert, die gar kein Forum sind, sondern Dienste zum ständigen Faktencheck. Es relativiert die an und für sich richtige Beobachtung, dass der Kampf um gesetzlich abgesicherte Privatheit in der Liebe einem Wettlauf um Follower weicht, der überhaupt nichts mehr garantiert.

Was, darf man heute fragen, wenn die Antidiskriminierungsarbeit der Homo-Ehe zuerst einmal das Sprechen einer jüngeren Generation wäre? Was, wenn die neuen Online-Offline-Hybriden ein Maximum an Meinungen integrieren, wenn sie eine viel größte Vielfalt an Themen bearbeiten als klassische Politikformen, und wenn die Genderpolizei schlicht auf unglückliches Bewusstsein und Melancholie im Kampf verzichten will?

Es stimmt schon: Die Fetischisten der Disziplinarordnung straft die Geschichte, aber das heißt doch nicht, dass das Kreativititätsdispositiv nicht auch überwunden werden kann.

Reckwitz’ Thesen zeichnen dadurch aus, dass dieser Forscher im Gegensatz zu anderen Foucault-Vermessern ohne große Klage im Jetzt angekommen ist. Es würde sicher nicht schaden, sein Kreativsujekt mit der außergewöhnlichen Geschichte der Gewalt von Bildern, mit dem Diktat der Sichtbarkeit, wie es Marie-José Monzain 2002 beschrieben hat, zu konfrontieren.

Erst in der Zusammenschau der Sichtbarkeitsordnungen mit der kulturell unangefochtenen Vorherrschaft des Sichtbaren wird ein Schuh aus der These von der Politisierung der Sichtbarkeit.

Wenn wir nämlich Rechwitz Recht geben, dass die Politisierung durch den Genderdiskurs die schwarze Legende von der häretischen Liebe entdramatisiert, und zugleich Kunstreich Recht geben, dass die homosexuelle Bürgerrechtsbewegung die Unterdrückerkultur in Frage stellt, so gibt es gute Hinweise darauf, dass die Emanzipationsbewegung nicht von der Straße, sondern aus dem Nonkonformismus der Filmproduktionen ihren wichtigsten Anstoß erhalten hat.

Vor dem Hintergrund dieses dezidierten Neuerungswillens in der Kultur mag es sinnvoll sein, einen Moment in der Geschichte Emanzipation innezuhalten.

Es war Dominique Fernandez, der in seiner beeindruckenden Studie Le Rapt de Ganymède (1989) auf eine Reihe von Filmen verwiesen hat, die das Bild vom tragischen, krankhaften oder hysterischen Homosexuellen nachhaltig überwunden haben. In John Schlesingers Sunday, bloody Sunday von 1971 drehte sich erstmals die Handlung ganz um Persönlichkeiten und den Charakter der jungen Männer und nicht um die Hoffnung, eines schönen Tages einen würdigen schwulen Ehepartner zu finden.

Wie später Pedro Almodovar verabschiedete sich Schlesinger von der heroischen Darstellung der Liebesleidenschaft, die aus dem inneren Masochismus oder durch den Zusammenstoß mit der Gesellschaft zerstört wird. Das sei ein neuer Stil von Filmen gewesen, so Fernandez, den nicht mehr Erbarmen mit dem Unglück prägte, sondern Begeisterung für die Kühnheit homosexueller Beziehungen.

Die genuine Politisierung der Homosexualität wäre demnach nicht erst das Resultat einer neuen Sichtbarkeitsordnung in der Wechselrede der Political Correctness, und auch nicht die Konfrontation der Mehrheitsgesellschaft mit ihren Vorurteilen in einem Bürgerrechtskampf, wie das Kunstreich vorschwebt, sondern die Produktion von mutigen Meisterwerken, die die seit zweitausend Jahren über Homosexualität angehäuften Irrtümer und Verleumdungen durch erzählerische Mittel beiseite geräumt haben.

© Wolfgang Koch 2015

Foto: Volksgarten Pavillon

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kommentare

  • Foucault ist wirklich mehr Historiker vom Feinsten und weniger Begriffserfinder und Neo-Poststrukturalist wie sein Freund und Ausleger Deleuze.

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