vonWolfgang Koch 29.10.2015

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Drei Tage benötigt ein Schutzsuchender aus den Bürgerkriegszonen im Nahen Osten, um bis an die deutsche Staatsgrenze in Bayern zu gelangen. Drei kurze Tage, um in der Menge von täglich mehreren Tausenden eine »Gefährdung der deutschen Sicherheit« darzustellen, wie das der bayerische Innenminister soeben genannt hat. Drei kurze Tage – statt, wie noch in diesem Sommer, drei lange Wochen –, seit Polizei, Hilfsorganisationen und Militär das Schleuserwesen in den Transitstaaten lückenlos verstaatlicht haben.

Eine der wichtigen Nichtorte auf dieser Flucht aus den Archipelen des Elends und zugleich die letzte Station vor dem Zielland Deutschland ist der Salzburger Bahnhof, genauer gesagt: die mit gelber Signalfarbe designte Tiefgarage tief unter den Bahnsteigen. Man gelangt über eine funktionierende Rolltreppe hinunter in diese Unterwelt des Humanitären; der Gegenlauf nach oben aber steht symbolkräftig still und muss erst Schritt für Schritt wie ein Hochgebirgsgipfel bewältigt werden.

Drunten, in dieser Unterwelt: unaufgeräumte Schlafsäcke und Decken auf Feldbetten, Kinder, die mit Jungsoldaten fangen spielen, heiße Würstchen und Käsesemmeln auf einem Tapezierertisch, Erwachsene stehen wie bei einem Pfarrbazar rund um Pappkartons herum und fischen in den Kleiderhaufen.

Etwas abseits haben fünf Leute aus Afghanistan, Syrien und dem Libanon um ein Paar weißer Sportschuhe mit Adidasstreifen einen Kreis gebildet. Man probiert die Treter reihum an den Füßen und der, dem sie am besten passen, der bekommt sie.

In den Fluren durchtrainierte Polizeimänner und blondbeschopfte Politessen, Rotkreuzhelfer mit Atemschutzmasken, finstere Gesichter über Handydisplays; ein strenggläubige moslemische Familie mit verschleierten Frauen belegt fern der anderen Matratzen im verkachelten Bereich vor den Toiletten.

Keine drei Kilometer Luftlinie von diesem Rettungslager entfernt thront das Museum der Moderne über den gediegenen Bauten der Salzburger Altstadt. Dort sind dieser Tage auf mehrerer Stockwerken Kunstexperimente und Performances aus den 1960er und 1970er-Jahren ausgestellt. Man dokumentiert einen heute fast absurd erscheinenden, grenzenlosen Zukunftsenthusiasmus von US-amerikanischen Ingenieuren und Kreativen, die sich damals in der Formation E.A.T. zusammengetan haben.

E.A.T. stand am Ende des 20. Jahrhunderts für Experimente in Kunst und Technologie, die heute so etwas wie die Dinosaurierphase der IT-Epoche darstellen. Da sind die schallverstärkten Schläge eines Tennisspiels zu hören; bewegliche Skulpturen auf ferngesteuerten Plattformen zu bewundern; das Selbstmordwägelchen, das von Jean Tinguelys Homage to New York (1960) übrig geblieben ist; ein Tisch voller Kunst-Geld; Andy Warhols Silver Clouds; rotierende Siebdruckscheiben von Robert Rauschenberg; und der Pepsi-Pavillon für die Weltausstellung in Osaka 1970.

Wir staunen heute über die amüsierten und verblüfften Gesichter der zeitgenössischen Betrachter dieser Kunstwerke auf dem dokumentarischen Schwarzweißmaterial. Heute enthusiasmieren die gezeigten Objekte und Skizzen kaum einen der jährlich rund 110.000 Besucher am Mönchberg, Schulklassen mitgezählt. Die Vernetzungs-Euphorie ist längst allen lästig und die Sinnsuche in der Daten-Lawine anstrengend geworden.

Die einst bahnbrechenden Projekte verzaubern jedenfalls keine gewöhnlichen Besucher mehr. Seit aber die nahöstliche Kriegsrealität das Touristenschmuckkästchen Salzburg erreicht hat, gibt es doch einen Besucher, den die Artefakte in ein abgrundtiefes Staunen zu setzen vermögen. Um den auf ihrer Flucht am Bahnhof gestrandeten Menschen aus den zerstörten Metropolen Syriens für ein paar Stunden eine Ablenkung von ihrem völlig ungewissen Schicksal zu bieten, lädt sie das Museum ein, die preisgekrönten Werke zu erkunden.

»Um soziale Barrieren abzubauen«, begründet das Museum der Moderne sein Besuchsangebot für Migranten und Flüchtlinge. In Zusammenarbeit mit der Diakonie und dem Flüchtlingshaus in Mülln werden von Kunstvermittlern des Hauses Familienprogramme angeboten. Mittlerweile stapften schon fünf Flüchtlingsgruppen mit jeweils zirka zehn Kindern, Müttern und Vätern durch die seltsamen Projektdokumente am Mönchsbergs.

Jean Dupuy_Hearts Beats Dust

Viele Schutzsuchende sind ohnehin technikaffin. Das Mobiltelefon gehört noch vor dem wärmenden Schuhwerk zur Grundausstattung der neuen Deutschlandreisenden.

Muss es diesen Museumsbesuchern nicht schier unglaublich erscheinen, dass da den ganzen Tag eine bezahlte Aufsichtsperson neben einem fast fünfzig Jahre alten Kasten steht, auf Wunsch den Strom anknipst und ihm, dem Besucher, ein akustisches Stethoskop aushändigt?

Der Flüchtling hält das Bruststück mit dem Membran in seine Herzgegend oder an eine beliebige Schlagader und kann dann sehen, wie sich eine Polyäthylenplatte hinter Glas langsam erwärmt und sich von der Oberfläche zartes Rubinpigment im Schlag seines Herzens in die Luft erhebt. Das Museum am Mönchsberg zeigt den Transitgästen mit dem Werk von Jean Dupuy, dass sie dem Krieg in ihrer Heimat tatsächlich entkommen sind, dass sie überlebt haben und ihr Herz nunmehr in Erinnerung an ein unmögliches Zuhause rasend schlägt.

© Wolfgang Koch 2015

Fotos: Brooklyn Museum Archives – Ausstellungseröffnung Some More Beginnings, 1968 (Ausschnitt); Rainer Iglar – Heart Beats Dust von Jean Dupuy, 1968 (Ausschnitt)

 

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