vonWolfgang Koch 07.11.2016

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Deutscher Gesellschaftsroman? Filmische Staatsfratze? Bis zur Halbzeit der Obduktion stehen Pfabigans Thesen zum einflussreiche TV-Format auf schwachen Beinen.

Erst dort, wo es um die »Ästhetik der Gewalt« geht, kommt Schwung in die Sache. Mit welchen Mitteln untersucht nun der Wiener Analytiker die in die Storys verwobenen Werte und Haltungen? Durch Zuschauen vor allem, und Vergleichen.

»Die Deutschen mögen das Durchschnittliche«, befindet der Universitätsprofessor im sicheren Süden, und er sieht das perfekt verkörpert in Figur und Knittergesicht von Lena Odenthal.

Es stimmt gewiss auch, dass Professor Boerne eine Karikatur des beamteten Akademikers ist; dem Münsteraner Tatort fehlt zur bohrenden Gesellschaftssatire jedes Chilli. Aber deshalb die Fans von Thiel und Boerne gleich der »zivisatorisch gezähmten Wutbürgerschaft« zu verdächtigen, das lässt sich selbst nur als komödiantischer Versuch von Kritik qualifizieren.

ARD/SWR TATORT, "Wofür es sich zu leben lohnt", am Sonntag (04.12.16) um 20:15 Uhr im ERSTEN. Josef Krist (Thomas Loibl) wurde für seine letzte Fahrt sorgfältig im Boot arrangiert. Flankiert von Kerzen ist er langsam verblutet … © SWR/Patrick Pfeiffer, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter SWR-Sendung bei Nennung "Bild: SWR/Patrick Pfeiffer" (S2). SWR-Pressestelle/Fotoredaktion, Baden-Baden, Tel: 07221/929-22202, foto@swr.de

Jeder Sonntag handelt von dem, was nicht hätte geschehen dürfen, der Tatort führt eine »untergründige Staatsdiskussion«, gut, aber nicht nur über den Staat, sondern auch über den Gesellschaftsvertrag, vor allem über den mobiler gewordenen urbanen Raum und die gegenseitigen Aversionen seiner Bewohner.

Gier gilt als mächtige Chiffre für den Kapitalismus. Die Bedeutung der Zerstörung eines Menschenlebens werde im Tatort ähnlich gering gewertet wie in Videospielen, die Traumatisierung der Sekundäropfer in deutschen Filmen kaum zugelassen. Trotzdem erblickt Pfabigan in den Gewaltdarstellungen einen »stabilisierenden Faktor der Zivilisation«. Es tue unser physischen Gesundheit gelegentlich einfach gut, andere leiden zu sehen.

[Schluck, Hust!]. Man erinnert sich, dem Gedanken bei Montaigne deutlich differenzierter begegnet zu sein. Zitat: »Es macht uns doch angenehme Empfindungen, unser Mitleid durch die sonderbare Katastrophe aufgeregt und ins Spiel gesetzt zu sehen«. Das Behagen am Unbehagen der anderen ist bei diesem Klassiker eine Belohnung dafür, dass man Abstand zum Schrecken hält.

Auch nach Pfabigan wird dem Zuschauer in der zutiefst schwermütigen Gattung eine Struktur der Belohnung vorgegaukelt. Aber ganz anders. In der Aufklärung des gewaltsame Tod, sagt er, steckt eine effektiv tröstende Funktion: Dass der am Mord Schuldige von den Ermittlern zur Strecke gebracht wird, lässt in mir die Hoffnung keimen, dass es vielleicht auch in meinem Fall Gerechtigkeit geben werde und ich nicht sterben werde.

NDR Fernsehen TATORT, "Vergessene Erinnerung", am Samstag (05.11.16) um 20:15 Uhr. Tom (Niels Bormann) © NDR/Christine Schröder, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter NDR-Sendung bei Nennung "Bild: NDR/Christine Schröder" (S2). NDR Presse und Information/Fotoredaktion, Tel: 040/4156-2306 oder -2305, pressefoto@ndr.de

Die Zurschaustellung der Leiche: Ästhetik des Hässlichen, also irgendwo in der Mitte zwischen dem Schönen und dem Komischen. »Die Zahl der aufgebrochenen Türen ist wohl ähnlich hoch wie die der nackten weiblichen Leichen«.

Der TV-Krimi sei medienhistorisch die Fortsetzung der Oper. – Oper, was meinen Sie? – Na, tief dekollierte Immobilienspekulatinnen, glatzköpfige Rechtsextremisten, urinierende Polizisten, Oper, Sie wissen schon…

Die Sonntagsoper namens Tatort kombiniert bei Pfabigan zwanglos Unterhaltung und Information, sie bildet eine Zwischenwelt, einen Traumkosmos. Und das Leben der nicht-intellektuellen Menschen organisiert sich immer mehr nach den Filmplots, die bildungsfernen Schichten surfen quasi auf dem ihnen unterschobenen Strohhalm durch einen Lebensfilm.

In solchen Verbreiterungen kommt Pfabigan dem kulturellen Pessimimus Kampers bedenklich nahe.

»Der Ansprüche an die Integrität von Polizisten sind in deutschen Polizeifilmen recht gering«. Beziehungsunfähige Kommissare, alleinerziehende Väter, skurrile Wohngemeinschaften.Rücksichtslose Behandlung von Zeugen und Verdächtigen, faktische Suspendierung von Bürgerrechten. Befangenheitsfragen stellen sich nie, gehören nicht in die moderne Amtsstube.

Der Gesetzesbruch beim der Aufklärung wiederum rechtfertigt sich durch seinen Erfolg. Remember Schimanski, die Dampflok der gebremste Selbstjustiz.

Tatort-Foren im Netz nimmt der Wiener Forscher allerdings gar nicht zu Kenntnis. Dabei diskutieren dort kundige Fans der Serie, die bis zu 500 Folgen gesammelt haben. Auch auf die Städtekonkurrenz, der doch die Renaissance von Tatort erst zu verdanken ist, geht Pfabigan überhaupt nicht ein.

ONE TATORT: QUARTETT IN LEIPZIG, Regie Kaspar Heidelbach, am Samstag (05.11.16) um 23:15 Uhr. Die Kommissare Ehrlicher (Peter Sodann) und Kain (Bernd Michael Lade) begutachten mit Walter (Walter Nickel, v.l.n.r.) die Leiche von Dr. Frei. © MDR, honorarfrei - Verwendung gemäß der AGB im engen inhaltlichen, redaktionellen Zusammenhang mit genannter Sendung bei Nennung "Bild: MDR" (S1). WDR Presse und Information/Bildkommunikation, Köln, Tel: 0221/220 -7132 oder -7133, Fax: -777132, bildkommunikation@wdr.de

»Lokale Idiome und spezifische Mentalitäten sind globalisierungs- und zuwanderungsbedingt am Rückzug«, meint er. Das mag ja auf den Wiener Migrantenbezirk, in dem der Tatort-Forscher philosophisch praktiziert, zutreffen. Im Fall des Bösen als des Diabolischen, im Fall der dislozierten Tatorte, ist es schlicht falsch.

Richtig ist, dass Ermittler und Familie ihre zentrale Bedeutung verloren haben und die amerikanische Technik des Flashes überhand nimmt. Doch über diese Beobachtungen hinaus fällt Pfabigan zu den Drehbüchern der Polizeifilme wenig ein.

Ich habe kürzlich eine Folge aus der Stralsund-Serie gesehen, deren Plots zwar aus Action und Beziehungskram der Ermittler gestrickt war und deren Bösewicht einem Superheldencomic entsprungen schien, alles furchtbar simpel und flach, aber in diesem fremdartigen ZDF-Krimi fiel der Ermittlerin eine übereinstimmende Wortwahl bei zwei Verdächtigen auf. Für den Zuschauer unausgeprochen erkennbar an einem kurzen Zögern in ihrem Gesicht.

Ganz so unbedarf scheint der deutsche Polizeifilm also doch nicht zu sein. Solche aus der Welt der Literalität geborgte Feinheiten muss man in US-Krimis lange suchen.

© Wolfgang Koch 2016

Alfred Pfabigan: Mord zum Sonntag. Tatortphilosophie. 205 Seiten, ohne Abbildungen, Residenz Verlag: Salzburg/Wien 2016, ISBN: 9783701733989, EUR 20,00

Foto: ARD, aus: Es lebe der Tod; Wofür es sich zu leben lohnt; Vergessene Erinnerung; Quartett in Leipzig

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