vonWolfgang Koch 24.06.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Islamisten mögen keine Staatsnation im modernen Sinn. Darum ist die »tunesische Identität« seit dem Sturz der Diktatur ein regelrechtes Reizwort für alle Salafisten und Fundamentalisten des Magreb.

Wieso soll die Nation nicht mehr als Bezugrahmen für eine neue Gesellschaft herhalten dürfen? Weil das Ziel der populären Ennahda-Partei von Anfang an die Islamisierung des Landes, die Einführung der Scharia und Aufgehen Tunesiens in der grossen Gemeinschaft der islamischen Umma zu bedeutet hatte.

Die grimmigen Bartträger des Islam mögen keine neutralen Staat. Unparteiische Zurückhaltung in Fragen der letzten religiösen Wahrheit kann es in ihren Augen nicht geben. Das Reich der Politik, das die Menschheit auf eine ihrem Begriff widersprechende Weise vereint, muss zerstört werden.

»24. November 2015, im Zentrum von Tunis, etwa hundert Meter vom Innenministerium entfernt: Am Nachmittag steigt ein Mann in den Bus, der jeden Tag Mitglieder der Präsidentengarde, einem Elitecorps aus Polizisten und Nationalgardisten, von einem Sammelplatz im Zentrum zum Präsidentenpalast bringt. Der Fahrer des Busses sieht, dass der Betreffende offenbar nicht zur Einheit gehört und fordert ihn zum Aussteigen auf – da zündet der Mann kurzerhand seinen Selbstmordgürtel: zwölf tote Gardisten plus der Attentäter, 17 Verletzte«.

Der politische Verfassungsprozess ist für die grimmigen Bartträger eine herzzerdrückende Schlinge. Sie akzeptieren lieber jede offensichtliche Lächerlichkeit als gütige Wahrheit.

Weinberger berichtet: »Am Nachmittag des 13. November die Enthauptung eines minderjährigen Hirtenbuben bei Sidi Bouzid: Sein Kopf wurde seinem ebenfalls anwesenden älteren Bruder mitgegeben ins elterliche Haus – zur Warnung vor Zusammenarbeit mit den tunesischen Sicherheitskräften. ›Allah mag keine Verräter‹, sollen sie dem Bruder mit auf den Weg gegeben haben. Hingegen – so die indirekte Botschaft – liebt er offenbar diejenigen, die einen 12-jährigen Hirtenjungen köpfen. Die Mörder haben aber vielleicht ihrer Warnung ohnedies das vornehmste Epitheton Allahs hinzugefügt: der Allbarmherzige«.

Die vergangenen zehn Jahre sind eine glorreiche Zeit für den Terrorismus in Tunesien und anderswo gewesen. Weinbergers Schilderung der repressiven Praxis des Islamismus bleibt freilich auf die Orte der Politik, des Tourismus, der gesellschaftlichen Elite (Hochschulen, Museum) und auf das Militär beschränkt.

Nie versucht er den Islam dort »hautnah« zu erleben, wo er herkommt und friedlich praktiziert wird; nie erfährt der Diplomat seine rhetorische Selbstherrlichkeit direkt in den Moscheen, nie wagt der Österreicher einen Schritt in die Slums hinein, nie zeigt er uns das tunesische Hinterland oder die Realität der subsaharischen Migranten an der Küste, von denen heute der demographische Druck auf Europa ausgeht.

Und wie auch! Das wäre für ihn schon zeitlich nicht möglich gewesen. Viel zu oft hat es der Diplomat im Dienst mit verängstigte Landsleuten zu tun, die sich vor dem Terror der Islamisten tagelang irgendwo versteckt halten. Diese Begegnungen reichen jedenfalls für eine klare Botschaft an den heutigen Leser.

Nach dem, was Weinberger gesehen hat, empfindet er nur mehr Unverständnis für diejenigen in Europa, die vermeinen, die Kopftuchfrage als Frage der persönlichen Freiheit in Bekleidungsfragen abtun zu können. Und wir Europäer sollten endlich auch ernsthaft beginnen, arabischen Intellektuellen zuzuhören. Sie sind es, die die Verheerungen des Religionsfanatismus am besten kennen.

Zum Beispiel Abdelmajid Charfi, Professor für islamische Zivilisation und heute Präsident der tunesischen Akademie der Wissenschaften, der die offensichtliche Lächerlichkeit von moslemischen Männerängsten so beschreibt:

»Wenn der Körper der Frau eine derartige Gefahr für die Gesellschaft darstellt, so ist diese allerdings ernsthaft nicht einfach durch Bedeckungen verschiedenster Art einzugrenzen, sondern es muss logischerweise, schon aus Gründen der Prävention, zu einem Ausschluss, zu einer Verbannung der Frau als solcher aus dem sozialen und ökonomischen Leben kommen.

Ein solcher Ausschluss bedeutet jedoch in der Praxis einen Verzicht der Gesellschaft auf die Fähigkeiten und Arbeitskraft der Hälfte der Bevölkerung und ist längerfristig nur in Sklavenhalter- und vorindustriellen Gesellschaften möglich – heute können sich das im Grunde nur mehr die Gesellschaften leisten, die in erster Linie von Renten (beispielsweise der Erdölindustrie) leben und massenhaft ausländische Arbeitskräfte beschäftigen können«.

Charfi gibt der Brutalität der Islamisten langfristig wenig Aussicht auf Erfolg. Er vermutet in der Kopftuch-Debatte sogar eine »List der Geschichte«, die es den Frauen erlaube im öffentlichen Raum wieder sichtbar zu werden. Zuguterletzt, so hofft er, werde das Kopftuch seine raison d’être als Ausdruck einer verkrampften Identität verlieren:

»Wie ihre Schwestern überall auf der Welt, wird die überwiegende Mehrheit auch der muselmanischen Frauen dann schuldbefreit und ohne Schleier sein, die Haare im Wind. Ihre Gesichter werden dann die Gleichheit mit dem Mann, die Befreiung von den Manipulationen des Sakralen, der entwürdigenden Bigotterie, der sozialen Zwänge, der Tyrannei des Moralismus zum Ausdruck bringen, mit einem Wort: die Befreiung von den Fesseln der Tradition.«

Die Gebildeten Tunesiens vermuten im Kollektivismus eine prinzipielle Schwäche des Islam: Wo sich das Individuum nicht mehr als denkendes Subjekt zur Geltung bringen darf, bleibe bald auch auch seine Leistungsfähigkeit auf der Strecke. Das islamische Kopftuch (und der Niqab als dessen konsequentester Ausdruck) seien wesentliche Signale der Weigerung, das Subjekt (zumal das weibliche) als Individuum zuzulassen, ja Ausdruck des Versuchs, das weibliche Individuum nach Möglichkeit überhaupt denkunmöglich zu machen.

Tahar Ben Guiza: »Die Frage des Tragens des Niqabs an einem öffentlichen Ort ist sehr wohl eine öffentliche Frage, die daher der öffentlichen Sphäre zugehörig ist. Und gerade deshalb kann man in diesem Fall nicht von einer privaten Entscheidung sprechen.«

Wir hören hier von einem erstaunlichen Tunesien, einem völlig zerrissenen Land nach dem erzwungenen Abgang des Despoten Ben Ali: Menschen, die in einem Zustand ständiger Spannung stehen und in ihrem Leben einen Punkt suchen, an dem die Welt noch in Ordnung ist. Genau da hakt der Salafismus mit seinen Versprechungen einer vormodernen Lebensweise ein.

Eine Öffnung der islamischen Kultur nach dem Muster der christlichen Reformation ist für Weinberger absolut wünschenswert, in der Realität aber hält er sie für unmöglich. »Das liegt«, so der Autor, »an einem radikalen Unterschied: Luther und Calvin konnten bei ihrer Kritik an der damaligen religiösen und kirchlichen Praxis auf die Grundtexte – die Bibel, insbesondere die Evangelien – zurückgreifen. Ein derartiger Rückgriff auf den Koran zeitigt hingegen das gegenteilige Ergebnis: Damit werden sogar die (ohnedies bescheidenen) modernistischen Ansätze wieder zunichte gemacht und ein mittelalterliches, sozusagen beduinenaffines Bild des Islam wiederbelebt. Genau das taten und tun Wahhabiten und Moslembrüder«.

Was bleibt, ist nichts als die allseits für unrealistisch gehaltene Hoffnung, die der Islamologe Mohamed Haddad mit folgenden Worten formuliert:

1. dass die 1,8 Milliarden Anhänger Mohammeds auf der Erde irgendwann einmal auf der Gewissensfreiheit als unverzichtbarem Bestandteil des menschlichen Lebens bestehen.

2. dass die moslemische Kultur Recht und Gesetz über die Scharia stellt.

3. dass die Gleichstellung von Mann und Frau auch im Haus des Islam erkämpft wird.

4. dass die Imane den exkludierenden Anspruch, die gesamte Menschheit konvertieren zu wollen, als illusorisch aufgeben.

Weinberger schliesst sich diesen vier Punkten des Tunesiers Haddad an. Nur diese grundsätzlichen Veränderungen im Zusammenleben könnten die exkludierende Weltanschauung des Islamismus brechen und zur einer »Respiritualisierung« der menschenwürdigen Prophetenworte führen.

Realistisch freilich ist das auf Generationen hinaus nicht.

© Wolfgang Koch 2018

Gerhard Weinberger: Mit dem Koran ist kein Staat zu machen. Die Krise des Islam hautnah erlebt. 163 Seiten, ISBN: 978-3-99070-718-0, Wien: myMorawa 2018, 18,- EUR, www.mymorawa.com

Foto: Archiv Weinberger, 2018

 

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