vonWolfgang Koch 21.12.2018

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

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Achtundvierzigerplatz, Auf der Haide, Aufmarschstrasse, Clausewitzgasse, Iglgasse, Schiltergesslein, Stock im Weg,…

Verschwundene Strassennamen: Ist das nur ein weiteres vergnügliches Thema für Nostalgiker*innen? Noch so ein Ephemerismus, der trivialen Dingen bemerkenswerte Qualitäten zugesteht? Oder kann das mehr?

Strafhaus Gasse, Schwimmschulallee, Unter den Pfeilschnitzern, Versöhnungsstrasse,…

Erst in den 1860er-Jahren wurde die Adressenbezeichnung in Wien durch die Umstellung auf Strassennamen mit Nummern in die heute gültige Form gebracht. Ihre ideologische Bedeutung, also der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, hinter dem sich die partikulare Interessen von Politik und Stadtgeschichte verbergen, ist immer noch gewaltig gross.

Die praktische Bedeutung von Benennungen aber schwindet mit jeder Stunde: für die Unter-40-Jährigen ist die Bezeichnung einer Verkehrsfläche mittlerweile eine inhaltsleere Buchstabenkombination in der Navigations-App des Taschencomputers.

Rothekreuz Gasse, Schwibbogen Gasse, Sofienalpenstrasse,…

So manche verschwundene Bezeichnung, das zeigt dieses Buch, hat durchaus mehr poetische Spannungskraft als historische. Im Bezirk Mariahilf soll es tatsächlich einmal eine Gasse mit diesem grandiosen Namen gegeben haben: Rückwärts am Berg (Seite 25).

Da möchte man sofort die alten Wiener*innen reden hören, in ihrem Dialektkauderwelsch, wie sie sich Rückwärts am Berg verabreden oder nach einer Vorstellung in der Oper nach Hause Rückwärts am Berg zurückfahren.

Grundsätzlich leben wir Ende der 2010er-Jahre in eine deutlich geschichtsvergessenen Zeit, die obendrein unter einem akuten Anonymisierungszwang leidet. Mitte Oktober zum Beispiel verkündete die städtische Gemeindebauverwaltung Wiener Wohnen, alle Namensschilder der 2.000 Gemeindebauten mit insgesamt 220.000 Wohnungen zu entfernen.

Die Namensschilder im Kommunalsozialbau sollten, um der Europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zu entsprechen, durch neutrale Bezeichnungen mit Top-Nummern ersetzt werden. Ende November bliess die Stadtverwaltung dann zum vorläufigen Rückzug von dieser Namenslöschung.

Doch der Trend unserer Zeit ist nicht zu übersehen, und er wird kaum mehr Fahrt in die Gegenrichtung aufnehmen. Weil sich Bürgerrechte im Netz nirgendwo substanziell durchsetzen lassen – wie könnte die Anonymität der User und die Realität von Klarnamen gleichzeitig geschützt werden? Ein Ding der Unmöglichkeit! –, weil also die Digitale Revolution im Cyberraum an ihre juristischen Grenzen stösst, weicht der Datenschutz nun immer häufiger auf unser analoges Zilvilleben aus.

Die Mehrzahl der Privat- und Genossenschaftsbauten in Wien kennt ja schon längst nur mehr Top-Nummern am Klingelschild, und es ist darum nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Entschriftung der Stadt Fortschritte macht. Der Zug zur Anonymisierung des Lebens ist nicht mehr aufzuhalten.

In 100 Jahren, so prophezeie ich, wird es in keiner europäischen Stadt mehr Strassennamen geben. Denn erstens lässt sich die urbanen Gesellschaft viel leichter in Ziffern vermessen. Hier setzt sich einfach die Logik der Rationalisierung durch.

Schon die Seelenkonskriptionen im 18. Jahrhundert, die Häuserschematismen und -kataster sowie die Einführung des Meldewesens sollten mehr als Orientierung für die Menschen bringen. Die permanente Evidenthaltung der Bevölkerung gab Auskunft darüber, wie viele Personen wo wohnten. 

Strassennamen haben schlicht eine Kontrollfunktion für die öffentliche Verwaltung. Dazu kommt, zweitens, der politisch-ideologische Auftrag, im öffentlichen Raum ein kulturelle Gedächtnis zu bilden, damit gewisse historischen Kämpfe und Errungenschaften, solche des Kollektivs, solche von Einzelnen, nicht dem Vergessen anheim fallen.

Seit Verkehrsflächen systematisch benannt werden, stellen sich immer ein paar Historiker bereitwillig in den Dienst von Machthabern, um erwünschte Meinungsbilder an die Gegenwartslagen zu vermitteln. Der Mensch ist bekanntlich ein zu Meinungsverschiedenheiten neigendes Wesen. Und um diese Meinungsverschiedenheiten nichts in das Grundsätzliche abgleiten zu lassen, müssen sie eben gelegentlich aktualisiert werden.

Die Beschriftung der Strassen mit bedeutenden Namen ist ein erprobtes Aufklärungsprogramm: mal mehr in weltbürgerlicher, dann wieder in plump propagandistischer Absicht. Hier können sich Politiker*innen mit Hilfe von historischen Expertisen therapeuthisch in Szene setzen. An den Hausecken schrumpfen so die Rätsel des Lebens zu grossartigen Weltansichten, die nach einer Woche allerdings nur mehr den Fremden auffallen.

Dass der Ballhausplatz, der Sitz der österreichischen Bundesregierung und des Staatsoberhauptes, einmal Revolutionsplatz geheissen ward, das gleicht in einer Nation, die sich an keine Revolution erinnern kann, einem Mysterium. Dabei haben die antimonarchistischen Aufstände im März 1848 von der Herrengasse aus ihren Ausgang genommen, diesem vornehmen Strassenzug nahe der Hofburg, an dem sich die Palais des Adels reihten.

Vorübergehend hat die Gasse der Herrschaften sogar einmal den Ehrentitel Freiheitsstrasse getragen; und auch eine Barrikadenstrasse soll es in der Innenstadt einmal gegeben haben, wenn auch heute niemand mehr so genau weiss, wo die verlaufen ist.

Strassennamen sind an lesekundigen Orten ein Gegenstand von Kulturkämpfen. Genauer gesagt: von politischen Scharmützel, die in gedenkkultureller Verkleidung daherkommen. Man erinnert sich an den jüngst tobenden Streit um den Dr.-Karl-Lueger-Ring, bekannt nach jenem herausragenden Wiener Bürgermeister aus dem Wien um 1900, der ohne Mikrophon vor einer Menschenmenge zu sprechen imstande war. Lueger war allerdings auch ein erklärter Antisemit, und die Anti-Antisemiten konnten sich erst 2012 mit einer Umbenennung des betreffenden Ringabschnitts durchsetzen.

In der Leopoldstadt gibt es eine Grosse Schiff Gasse, und die besteht auch weiterhin, obwohl es die dazugehörige Kleine Schiffgasse gar nicht mehr gibt. Verschwunden hingegen: die Feuerwerksallee sowie die 1946 bis 1956 bestehende Strasse der Roten Armee.

Wir erfahren in dem verdienstvollen, schmalen Werk, dass die Hitleristen nicht vor Lebendbenennungen zurückschreckten, von Adolf-Hitler-Platz vor dem Rathaus abwärts, gewissermassen. Aber diese Praxis kannte auch schon die Monarchie; dem Hochadel mussten mehr als Lehen und hochtrabende Titel geboten werden. Nach 1894 waren Lebendbenennungen von Strassen reserviert für das Kaiserhaus.

Bad Liebenwerda, Heilbronn, Stuttgart und Ulm haben nach dem Anschluss 1938 Verkehrsflächen nach Wien benannt; im Gegenzug fanden deutsche Bezüge Eingang in die Beschriftung von Wien: Berliner Strasse, Braunschweigplatz, Egerländer Platz. Sudetendeutsche und Blutzeugen der NS-Bewegung wurden buchstabiert, der Victor-Adler– zum Horst-Wessel-Platz, und später wieder zurück.

Der NS-Staat war in Wien übrigens nirgends besonders konsequent. Während man zum Beispiel die Überreste des christlichsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel aus der Seipel-Dollfuss-Gedächntniskirche in Neufünfhaus auf den Zentralfriedhof umbettete und zahlreiche Verkehrsflächen umbenannte, um die Spuren der besiegten Austrodiktatur zu tilgen, blieben ausgerechnet Judengasse und Judenplatz im Zentrum der Stadt bestehen.

So besass bis 1945 die »judenrein« gesäuberte »Perle des Führers« einen Ort, der scheinbar nicht ins politische Konzept des eliminatorischen Rassenantisemitismus passte. Bedenkt man allerdings, dass zwischen dem Judenplatz und der Donau ein ganzer Bezirk brutal entvölkert worden war und die NS-Planung mittels der namensgetilgten Lasallestrasse das Zentrum an die Donau heranschieben wollte, bekommt auch das noch einen verdrehten Sinn: Vom Donaustrom sollte eine Prachtallee mit Kultbauten für die gefallenen Helden über die ausgelöschte Sozialdemokratie und das vertriebene und vernichtete Judentum in jenes historische Zentrum führen, das Erinnerungssymbole des zertrümmerten Habsburgerreichs und des plattgemachten Judentums enthielt.

Wie gesagt, das »Umtaufen« von Strassen und Plätze haben alle politischen Regimes praktiziert. 1919, als die Siegerjustiz des Ersten Weltkrieges die Anschlussträume der Restösterreicher an einen grösseren deutschen Staat verhindert hatte, tat die Sozialdemokratie ihre Verbundenheit mit dem Ausland durch eine Weimarer Strasse und einen Weimarer Platz kund. So deutschnational war der Austromarxismus einmal.

Aus dem revolutionären Volkswehrplatz von 1919 wurde 1956 der Mexikoplatz, weil sich die mexikanischen Regierung neben der Sowjetunion für die Souveränität Österreichs ausgesprochen hatte. So wirkte wenigstens, was 1938 nicht den geringsten politischen Einfluss auf das Weltgeschehen hatte, aber unter viel Trara in sämtliche österreichischen Schulbücher einzog, zeichenhaft vor der Jubiläumskirche nach.

Wussten Sie, dass Wien den US-Präsidenten John Fitzgerald Kennedy durch die Benennung einer Brücke würdigt? Der Garten der Republik, auch das gab es einmal, heisst mittlerweile Burggarten: ein seltsamer Kompromiss autoritärer Tage in Richtung Kaisergarten.

Kann man an verschwundene Gässlein und Umbenennungsorgien eine Lesefreude haben? Natürlich kann man das; weil nämlich heute immer noch jede europäische Stadt auf die Beschriftung ihrer Wände mit den Irrtümern der Gegenwart besteht. Ob die Strassennamen je etwas zum kulturellen Gedächtnis einer Metropole beigetragen haben, darf man zumindest bezweifeln.

Einen Bezeichnung wie Dreyhüt Gasse erinnert den modernen Leser wahrscheinlich eher an Three Rocks, Tennessee, jenem Vorort von Nashville, in dem Nancy Ritz und Sluggo Smith ihr Spassleben leben, als an die Wiener Vorstadt Neubau. – Drei Felsen, das ist ein präziser Ort in den Bergen, aber drei Hütten?

Der Alfred-Fried-Platz, benannt nach einem wortgewaltigen Pazifisten, ist verschwunden. Dafür ehrt die ehemalige Kanal Gasse heute Ferdinand Kürnberger, einen weiteren Schriftsteller aus der Spätzeit der Monarchie. Werden nun die Texte dieses vergessenen Autors von einem einzigen Spaziergänger mehr gelesen? Ich habe da so meine Bedenken.

Und ich sage sogar, wer einmal auf den Ernst-Jandl-Platz, einen Beserlpark auf der Wieden, oder auf den Ernst-Jandl-Weg, einen Fusspfad durch eine Wohnhausanlage im trostlosesten Kagran geraten ist, der möchte auf die kulturelle Bereicherung der Stadt durch wertvolle Strassenbenennungen lieber schon heute als morgen verzichten.

© Wolfgang Koch 2018

Peter Autengruber: Verschwundene Wiener Straßennamen, 124 Seiten, zahlreiche Abb. u. Karten, Schleinbach: Edition Winkler-Hermaden 2018, ISBN 978-3-9504475-6-9, EUR 19,90, www.edition-wh.at

Abbildungen aus dem besprochenen Band: K.u.k. Artillerie-Arsenal mit Maria-Josefa-Park. Anonymes Scherzbild um 1900. Der J-Wagen der Wiener Strassenbahnen in der Besatzungszeit.

Ernst-Jandl-Weg, Foto: M. Obermayr

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