vonmanuelschubert 28.05.2020

Bermudadreieck

Treibgut aus dem Leben eines schwulen Mannes.

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Über keine Angelegenheit kann sich das nicht-heterosexuelle Berlin so hysterisch zerreißen wie über den Berliner CSD, also die große Parade zwischen Kranzler-Eck und Brandenburger Tor. Egal ob Mottofindung, Mottoverkündung, Mottokritik, Mottorevision oder Mottonocheinmalneufindungundneuverkündung – gezankt wird über alles. Und wenn es nicht gerade um Mottos geht, dann dominieren mit großer Zuverlässigkeit die Personalien des verantwortlichen Vereins die Twitterfeeds und Kommentarspalten.

So erinnert sich beispielsweise manch Schlachtenbummler heute mit einem Anflug von Nostalgie an den ehemaligen Chef des CSD e. V., Robert Kastl und dessen offensichtliches Streben, Berlins CSD auf amerikanisches Weltniveau zu heben. Was, man konnte es eigentlich von Beginn an ahnen, scheitern musste. Nicht nur weil Berlin (hetero wie nicht-heterosexuell) habituell eine Ansammlung kleiner Dörfer ist. Sondern auch weil eine „Pride Parade“ im amerikanischen Sinne wenig bis gar nichts mit dem Grundgedanken einer politischen Kundgebung in Deutschland zu tun hat. Und in irgendwas muss sich ein CSD am Ende des Tages dann doch von einer Love Parade unterscheiden. Allein schon, um die Müllentsorgung den Steuerzahler:innen überlassen zu dürfen.

Doch liebe Leser:innen, ihr kennt natürlich noch viele weitere saftige Zankäpfel, die ihr und alle anderen Besucher:innen alljährlich auf dem Berliner CSD zu ernten verstehen: „zu kommerziell“, „zu unpolitisch“, „zu weiß“, zu cis, „zu trans*“, „zu hetero“, „zu nackt“, „zu angezogen“, „zu pervers“, „zu normal“ und „zu CDU-USA-Israel-irgendwas“.

Der CSD ist dem nicht-heterosexuellen Berlin (und Brandenburg) was Union und Hertha den Heteros ist. Alkoholpegel bei fortschreitendem Veranstaltungsverlauf inbegriffen. Aber wenden wir die Sache positiv und sagen einfach: Nichts geht den Nicht-Heteros in der Hauptstadtregion so sehr zu Herzen wie ihr CSD. Umso problematischer wenn dieser CSD nicht stattfinden soll.

Große Wut

Ausgerechnet ein Virus lässt die Durchführung der Parade nun unwahrscheinlich wirken. Was HIV nicht vermochte, hat der neue Corona-Virus offenbar fertig gebracht: Der CSD ist runter von der Straße. Das ist, mit Verlaub, mehr als nur bitter. Es ist Anlass zu großer Wut.

Trotzdem gilt es Besonnenheit zu üben. Wut ist eine nützliche Emotion – um sich im Jahr 1969 gegen Polizeiwillkür zur Wehr zu setzen. Doch wenn sich Polizisten im Sommer 2020 einer CSD-Parade in den Weg stellen sollten (hypothetisch gesprochen), geschieht dies mit Sicherheit nicht aufgrund polizeilicher Willkür.

Es ist die Covid-19-Präventionspolitik, die ein großes CSD-Event, Stand Ende Mai 2020, unwahrscheinlich erscheinen lässt. Ob dem Ende Juli noch so sein wird? Zweifel sind legitim. Und die Frage ist zu stellen, warum die Demo durch den CSD e. V. überhaupt gecancelt wurde? Denn bricht mensch den CSD auf die Essenz seines Zwecks herunter – eine politische Kundgebung – dann wären Demos unter Beachtung der selbstverständlichen Auflagen zur Corona-Prävention schon jetzt wieder möglich.

Um nicht missverstanden zu werden: Das Brimborium mit 600.000 Menschen, großen Trucks, Fressmeile und C-Promis als Highlights einer unfreiwillig trashigen Bühnenshow am Brandenburger Tor wird definitiv ausfallen. Hier ist das Verbot von Großveranstaltungen bis 31. August 2020 unmissverständlich. Seien wir ehrlich, das ist kein Verlust. Der interessante Teil der CSD-After-Show-Party spielt sich – wenn überhaupt – sowieso eher in den Grünanlagen des Tiergartens ab.

Vier Monate Streaming-Dauerbestrahlung

Die Unmöglichkeit, eine kommerziell geprägte Großveranstaltung fragwürdiger Qualität abhalten zu können, dürfte dann auch der tatsächliche Grund gewesen sein, welcher die CSD-Verantwortlichen bewog die Parade abzusagen. Scheinbar ist diesem CSD e. V. das grundgesetzlich verbriefte Demonstrationsrecht nichts wert, solange nebenher kein Geld verdient werden kann.

Stattdessen soll nun irgendwas mit Streaming auf der schrecklichsten Homepage seit der Erfindung des www stattfinden. Vom prinzipiellen Umstand abgesehen, dass mitten im Sommer und nach vier Monaten intensivster Livestream-Dauerbestrahlung kaum noch jemand Bock auf Streaming haben dürfte, wirft ein CSD im Stream demokratietheoretisch wie auch praktisch ein paar Fragen auf. Wie beispielsweise soll eine politische Kundgebung als Livestream im rechtlich, räumlich und zeitlich völlig entgrenzten Raum Internet gesellschaftliche Wirkmächtigkeit entfalten? (Nur darum geht es bei einer politischen Kundgebung in der Öffentlichkeit.) Kurze Antwort: Es ist unmöglich.

Was haben wir als Community davon, wenn jetzt ein regenbogenfarbenes Streaming irgendwie hemdsärmelig zusammengeklatscht wird, während Neonazis gefühlte drei Klicks weiter in rechtsradikalen Internetforen darüber fachsimpeln, wie man die Pride-Bewegung diesen Sommer möglichst effektiv aus dem Netz tilgen könnte? Kurze Antwort: schlimmstenfalls noch viel mehr Hass im Netz. Und was genau soll die Horrorgestalten a la „AfD“ und Konsorten davon einschüchtern, dass ein paar Tausend User:innen irgendwo online mit ihren Regenbogenfähnchen wedeln? Tastenkombination Strg+F4 und der „Spuck“ ist vorbei.

Obszönes Baden in vorgeblicher Ausweglosigkeit

Ein CSD im Stream ist kein Ausweg. Es ist rundheraus obszönes Baden in vorgeblicher Ausweglosigkeit. Das Letzte was Pride im Netz braucht, ist ein Stream. Exakt darauf nun zu setzen zeigt aber auch, wie wenig die Aktivist:innen des CSD e. V. (die Betroffenen mögen mir diese Insinuierung politischer Bewegtheit verzeihen) vom Netz verstanden haben. Sie rennen einfach nur einem Trend hinterher, ohne zu wissen, was sie da tun.

Keine Frage, CSD im Netz könnte tatsächlich funktionieren. Allerdings nicht als Stream und nicht mit den Mitteln eines abgehalfterten CSD-Konzepts, wie es beim Berliner CSD e V. nun versucht wird noch irgendwie künstlich zu beatmen. Es bräuchte es zuallererst – Vernetzung. Deutschland-, europa- und weltweit müssten die Vereinsmeier ihre eigenen CSD-Süppchen stehen lassen und sich auf einen zentralen und eng getakteten Aktionszeitraum einigen in welchem „losgeschlagen“ wird.

[Nachtrag, 28.05.20, 16.45 Uhr: Es soll am 27. Juni 2020 einen „Global Pride“ geben, leider scheint es, also wolle mensch auch hier nur versuchen, abgenutzte analoge Konzepte irgendwie ins Netz zu stellen, anstatt eigenständige Protestformen zu finden – siehe nachfolgende Ausführungen in diesem Blog.]

Zugleich müssten breite Teile der aktivistischen Netzgemeinde als Alliierte gewonnen werden – was als Vorgang in sich bereits eine durchaus erhellende Sache werden könnte, ist „die Netzgemeinde“ doch zumeist männlich und heterosexuell.

Danach käme es darauf an, den Aktionszeitraum wirk- und öffentlichkeitsträchtig auszugestalten. Und damit sind nicht fluffige Katzenbilder und die Bereitstellung von regenbogenfarbig ondulierter Profilbilddeko gemeint. Ein mindestens europaweiter Hackathon – ein Marathon des aktivistischen und emanzipations-bewegten Hackens – wäre als zentrales Element vonnöten. Erklärtes Ziel sollte es sein, den menschenhassenden Teil des Internets offline zu setzen. Und dafür müssten so viel nicht-heterosexuellen User:innen wie möglich die Werkzeuge für echten Webaktivismus an die Hand gegeben werden. Motto: Wir sind viele.

Stören im Betriebsablauf

Gleichzeitig gehörten die großen Internetkonzerne ins Visier genommen. Google, Facebook, und Twitter pinkwaschen sich zwar jeden (US-amerikanischen) Pride-Monat aufs Neue eifrig, dulden auf ihren Seiten und in ihren Suchergebnissen aber zugleich massenhaft homophobe und menschenfeindliche Hetze. Oder deklarieren diese sogar noch als von der Meinungsfreiheit oder ihren Nutzungsbedingungen gedeckt.

Es ließen sich von findigen Expert:innen sicherlich massentaugliche Wege aufzeigen (und über die Netzwerke der CSD-Organisator:innen rasch verbreiten), wie die nicht-heterosexuelle Gemeinde diese Großkonzerne zumindest ordentlich in ihrem Betriebsablauf stören könnte.

Die Liste der Kandidaten, die einen eher ungemütlichen virtuellen Besuch der nicht-heterosexuellen Gemeinde mehr als verdient hätten, ist übrigens länger: Instagram, TikTok und Tumblr haben sich einen solchen Besuch für ihre abgrundtief prüde Geschäftspraxis verdient, die jegliche Andeutung nicht-heterosexuelle Fleischeslust gnadenlos löscht.

Und Apple wie Google (ja, schon wieder Google) gehören geshitstürmt für ihre Abriegelung der App-Stores vor allem was auch nur leicht kinky schimmert – schwule Dating-Apps mit expliziten Inhalten, Apps schwuler Porno-Labels oder überhaupt Angebote von Sexarbeiter:innen etc. pp. Selbstverständlich gäbe es auch in der politischen Sphäre des Webs manches zu korrigieren. Warum lassen sich beispielsweise die Homepages der „Werte Union“ und der Regierungsparteien Polens und Ungarns immer noch aufrufen?

Verdammt viel Arbeit

Diese Ideen für echte Protestformaten im Netz können an dieser Stelle natürlich nur Skizzen sein. Definitiv fällt der fantastisch kreativen Netzgemeinde noch viel Besseres und Wirkungsvolleres ein. Und natürlich bergen manche dieser Ideen eine gewisse strafrechtliche Fragwürdigkeit. Doch der Sommer 1969 war in New York auch nicht gerade eine Sternstunde des Einvernehmens zwischen Polizei und Bürger:innen.

Echter Pride im Netz macht Arbeit, echter CSD im Netz erfordert ein hohes Maß an Engagement und persönlicher Involvierung. Aber die nicht-heterosexuellen Emanzipations- und Befreiungsbewegungen waren immer schon vor allem Arbeit.

Zugegeben, wer Pride als die Bereitstellung von Werbeträgern denkt, findet einen CSD im Stream wahrscheinlich super. Weniger Arbeit und drumherum kann man ein paar Banner verkaufen. Doch Achtung, aus diesem CSD im Stream kann auch ganz schnell ein CSD der politischen Irrelevanz im finanziellen Abgrund werden. Werbung im Netz wird verdammt schlecht vergütet und diejenigen die an Onlinewerbung tatsächlich verdienen, sitzen alle im Silicon Valley. Keine Pointe.


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