vonmanuelschubert 29.05.2020

Bermudadreieck

Treibgut aus dem Leben eines schwulen Mannes.

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Jetzt also doch, nach langem Zögern hat sich der Berliner Senat am 28.05.20 entschlossen, das Demonstrationsrecht wieder vollständig herzustellen. Lediglich das Gebot der Abstandswahrung von 1,5 Metern und einige Hygieneregeln sollen als Corona-bedingte Auflage bestehen bleiben, für die Zahl der Teilnehmer:innen an einer politischen Kundgebung gibt es offenbar keine Obergrenze mehr.

Damit wird es ab jetzt sehr aufschlussreich sein zu beobachten, inwiefern der Berliner CSD e. V. den Absatz 2 von Paragraf 2 seiner Satzung nun doch noch mit Leben erfüllt. Wörtlich heißt es dort unter anderem: „Der Vereinszweck soll insbesondere erreicht werden durch die Schaffung von Öffentlichkeit und Sichtbarkeit, die Einnahme von öffentlichem Raum, die demonstrative Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen(…).“

Mensch kann darüber streiten, ob die für den (neuen) CSD-Samstag Ende Juli 2020 angekündigte Verlegung des CSDs in einen Livestream im komplett entgrenzten Raum Internet noch konform mit der Satzung ist. Die Vorstände des Vereins werden dies sicherlich zu bejahen trachten. Doch Zweifel sind und bleiben angebracht. Zumal angesichts der bisherigen Verlautbarungen dieser Aktivist:innen fraglich ist, ob wirklich verstanden wurde, um was es sich beim Internet handelt (siehe Beitrag dieses Blogs vom 28.05.20) und welche Implikationen es für eine emanzipatorische Bewegung (deren Teil der Berliner CSD e. V. hoffentlich noch ist) mit sich bringt. Vielleicht haben wir es auch einfach nur mit digitalen Dilettanten zu tun.

Möglicherweise könnten die Vereinsmeier aus der Courbièrestraße auch längst egal geworden sein. Der umtriebige Berliner Homo-Aktivist Nasser El Ahmad hat für den ehemaligen Termin des großen Berliner CSD (zur Erinnerung, es ist der letzte Samstag im Juni, 2020 also der 27.06.), angeblich eine Kundgebung von der Versammlungsbehörde genehmigt bekommen. Unter der Parole „SAVE OUR COMMUNITY, SAVE OUR PRIDE STOPPT SEXUELLE APARTHEIT ! GEGEN LGBTIQ* FREIE ZONEN !“ (sic) soll auf einer noch unbekannten Demo-Route Sichtbarkeit im öffentlichen Straßenland geschaffen werden. Mensch könnte auch sagen, sie füllen den Vereinszweck des Berliner CSD e. V. mit Leben – bloß ohne Berliner CSD e. V.

Mal wieder CSD im Plural

Die „Siegessäule“, ein nicht-heterosexuelles Berliner Anzeigenblatt, weiß diesbezüglich zu berichten, dass die Orga dieser Kundgebung auch von ehemaligen Vorständen des Berliner CSD e. V. angeschoben wird. Ein Schelm wer Böses dabei denkt. Bisher war die Teilnehmer:innenzahl noch auf 1000 Personen begrenzt, dies hat sich mit dem Senatsbeschluss erledigt. Die Chancen stehen also durchaus gut, dass Nasser El Ahmads CSD-Sause dieses Jahr als der  CSD in Berlin über die Bühne gehen könnte.

Interessanterweise ist der angemeldete Termin auch jener Tag, an dem weltweit ein virtueller „Global Pride“ im Livestream stattfinden soll. Über den Sinn oder Unsinn von CSDs im Stream hat dieser Blog im vorhergehenden Beitrag geschrieben (siehe Verweis in Absatz 3). Möchte mensch all dies jedoch positiv deuten, dann hat sich die CSD-Bewegung dank Corona auch 2020 wieder „diversifiziert“ und hält am „klassischen“ CSD-Samstag erneut für alle Geschmäcker etwas bereit: Wer zur Covid-19-Risikogruppe zählt, nimmt ausnahmsweise mit der virtuellen weltweiten CSD-Bespaßung vorlieb, wer genug gefühlte Gesundheit zu haben glaubt, gesellt sich zu Nasser El Ahmad und den seinen. Und wer mit beiden Events nichts anfangen kann, wartet auf den 25. Juli  und pflegt die vage Hoffnung auf mehr Besinnung der eigenen Wurzeln als bisher beim Berliner CSD e. V.

Vielleicht können aber auch alle drei Events von einer weiteren Sternstunde des politischen Aktivismus in den Schatten gestellt werden, denn seit langer Zeit schon beglücken auch die nicht-heterosexuellen Wutbürger:innen aus Kreuzkölln das CSD-Angebot in Berlin mit ihren eigenen Demonstrationen (siehe diese taz-Archivperle aus dem Jahr 2017). Sollten sie ausgerechnet dieses Jahr in coronaler Apathie verharren? Kaum vorstellbar.

Übrigens: Gründe für die „demonstrative Umkehrung von Mehrheitsverhältnissen“ gibt es genügend. Nachwievor wird in Polen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit staatlich angeheizt, in Berlin und deutschlandweit nehmen die Gewaltdelikte gegen nicht-heterosexuelle Menschen wieder zu, sexuelle Identität fehlt immer noch als Diskriminierungstatbestand in Artikel 3 des Grundgesetzes,  Trans*-Personen erfahren nach dem jüngstem Urteil des Bundesgerichtshofs weiterhin erhebliche staatliche Diskriminierung, Hass im Netz gegen nicht-heterosexuelle Menschen hat ein ungekanntes Ausmaß angenommen, die Corona-Präventionsmaßnahmen der Politik drohen die Infrastruktur der nicht-heterosexuellen Communitys zu strangulieren und ein institutionelles Szenesterben zu verursachen, wie mensch es seit dem Ausbruch von HIV nicht mehr gesehen hat. 2020 könnte das wichtigste Jahr der Berliner CSD-Bewegung(en) werden. Es könnte aber auch so werden wie in den Vorjahren: ein Fiasko.


4946 Zeichen. Nun ja.


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