vonchina-watch 01.03.2023

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Was passiert hinter der Orwellschen Großen Mauer? Beobachtungen und Kommentare von Au Loong-Yu zu China und Hongkong.

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Bevor Chen Duxiu 1921 die Kommunistischen Partei Chinas gründete, rief er 1916 die Zeitschrift „Neue Jugend“ ins Leben, die eine neue Generation von Chinesen mit der neuen Idee des Strebens nach persönlicher Freiheit, Demokratie und Sozialismus erziehen sollte. Drei Jahre später lehnte sich die neue Jugend in der großen Vierten Mai Bewegung sowohl gegen die imperialistische Aggression als auch gegen die feige Pekinger Regierung (1) auf. Chen Duxiu führte seine Partei 1925 zu einer Revolution, doch zwei Jahre später erlitt er eine tragische Niederlage und wurde bald darauf von Stalin degradiert. Seitdem sind hundert Jahre vergangen, und trotz der Fortschritte in vielerlei Hinsicht ist das chinesische Volk nach wie vor ein „Untertan“ und kein „Bürger“, der das Recht auf persönliche Freiheit und das politische Recht hat, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen.

Vom Schnittknoblauch zu menschlichen Mineralien

Seit 1949 und bis in die letzten Jahre gab es eine Generation nach der anderen von „neuer Jugend“, die ihre Rechte einforderte, aber sie wurden alle von der KPCh brutal unterdrückt – einer Partei, die heutzutage so reaktionär ist, dass sich Chen im Grab umdrehen würde. Die meisten Chinesen schienen den Mut verloren zu haben, ihre Rechte einzufordern. Vor nicht allzu langer Zeit begannen die Internetnutzer, sich selbst als „Schnittknoblauch“ (jiucai, 韭菜) zu bezeichnen, als eine Art Selbstverhöhnung – von der Partei nichts weiter als ausbeutbare, aber niemals erschöpfte Ressourcen behandelt, so wie Bauern endlos Schnittknoblauch ernten können. Dieses Selbstbild spiegelt auch das erschreckend niedrige Selbstwertgefühl der Chinesen wider. In einem  Artikel der online Zeitschrift China Heritage zeichnet der Autor nach, wie sich das heutige China „von der Ernte von Schnittknoblauch zur Ausbeutung von Humineralien“ weiterentwickelt hat:

Am Ende des Jahres 2022 erfreute sich ein anderer alter Begriff für „das Volk“ neuer Aktualität. 人礦 rén kuàng, wörtlich „Menschenmine“ – auch Huminerals, Renmine, Humine und Humore – wurde erstmals in den frühen 1980er Jahren geprägt und weithin verwendet, um die Entbehrlichkeit der arbeitenden Menschen in China zu beschreiben:
‚Die ersten zwanzig Jahre deines Lebens studierst du, die nächsten dreißig Jahre arbeitest du, um eine Hypothek abzuzahlen, und die letzten Jahrzehnte deiner Zeit auf Erden verbringst du im medizinischen Verfall’. 读20年书,还30年房贷,养20年医院。

Allium tuberosum, Schnittknoblauch Foto Kurt Stüber, CC BY-SA 3.0

Nicht als Schnittlauch enden

Ende Oktober 2022 durchbrachen dann Tausende von Foxconn-Arbeitern aus Zhengzhou alle Barrieren und flohen aus der von Pandemie und Angst vor Infektionen geprägten Industriestadt. Nach dem Brand in Urumqi am 24. November schwappten große Protestwellen über das Land, um gegen die „Einschließung“ als Teil der Null-Covid-Politik zu rebellieren. Einige Online-Netizens riefen aus: „Seht her! Sogar der  Schnittlauch würde rebellieren“.
Die Proteste wurden beendet, nachdem die Partei eine Kehrtwende in ihrer Politik vollzogen hatte. Aber die denkenden Menschen in diesem Protest haben nicht aufgehört zu denken. Die Saat des künftigen Widerstands war bereits gesät worden. Und so geht der Widerstand noch intensiver und mit mehr politischer Leidenschaft weiter. Die Jugendlichen sind der sichtbarste Teil dieser Gruppe von Menschen, die es nicht mehr dulden, als Schnittlauch zu enden. Diejenigen, die in China leben, sind weniger hörbar, aber die chinesischen Studierenden in Übersee machen Lärm – sie protestieren lautstark und diskutieren intensiv im Internet. Die drei Jahrzehnte politischer Apathie nach dem Massaker vom 4. Juni 1989 wurden durch die „Bewegung des weißen Papiers 2022“ beendet.

Proteste im Ausland

Proteste chinesischer Studierender in London, Fotograf unbekannt

Auf dem Höhepunkt der Proteste starteten die chinesischen Auslandsstudenten breite Solidaritätsaktionen in mindestens 16 Ländern. Dies zwang die Studenten, zumindest miteinander zu reden und Aktionen zu organisieren. In kurzer Zeit wurden zahlreiche öffentliche und private Kanäle eingerichtet, um über die Proteste und die allgemeine Situation in China zu sprechen. Im Vereinigten Königreich zeichnet sich eine öffentliche Telegrammgruppe namens China Deviant durch ihre Rolle bei der Organisation von Einladungen zu Diskussionen und öffentlichen Veranstaltungen aus, wie dem Gedenken an den Tod des Covid-Whistle-Blowers, den Arzt Li Wenliang in Wuhan, am 5. Februar – ähnliche Veranstaltungen wurden auch in zehn anderen Städten von New York bis Sydney und Tokio durchgeführt. China Deviant hat 1250 Abonnenten. Andere Diskussionskanäle haben mehr, zum Beispiel der XuexiQiangguo (Learn from the Country of Firewall) hat 54,2 Tsd. Abonnenten. Diese Kanäle sind hochpolitisch, von Kritik an Peking bis hin zu Solidarität mit den in China Verhafteten

Haltung zu Minderheiten ändert sich

Eine weitere Gemeinsamkeit ist ihr Bestreben, die Menschen Hongkongs und alle unterdrückten ethnischen Minderheiten unter chinesischer Herrschaft – Tibeter, Uiguren, usw. – zu erreichen. Wir haben dies bereits auf dem Höhepunkt der Proteste gesehen. In den sozialen Medien kursierten Videos und Screenshots von Han-Chinesen, die die Gleichgültigkeit der Han gegenüber den Leiden der Minderheiten bedauerten und sich der Illusion hingaben, dies hätte nichts mit ihnen zu tun. Das eingesperrt sein unter Covid und der Verlust grundlegender Menschenrechte zwang sie nun zum Umdenken und führte sogar zu dem Wunsch nach einem ethnienübergreifenden gemeinsamen Kampf. Dieser entwickelt sich unter den chinesischen Studierenden in Übersee weiter. In einem Interview in der online Zeitschrift Lausan, das der Sprecher des China Deviant gab, heißt es dazu:
In Bezug auf Xinjiang, Tibet und Taiwan handelt es sich nicht um ferne Länder, sondern um reale Orte, mit denen gewöhnliche Chinesen in ihrem täglichen Leben häufig zu tun haben. Die Menschen in diesen Regionen als reale Menschen aus Fleisch und Blut zu sehen, die gleichermaßen das Recht auf ein erfülltes Leben verdienen – diese Art von Verständnis, das den Versuchen des Regimes, sie durch Propaganda zu entmenschlichen, trotzt, hat uns dazu gebracht, die abgeschmackte und unwirkliche Vorstellung von chinesischer „Vereinigung“ und „Solidarität“ aufzugeben.

Der Erfolg der KPCh, die Han-Chinesen gegen alle anderen ethnischen Minderheiten auszuspielen, wird zum ersten Mal von unten herausgefordert. Dies ist jedoch erst der Anfang der Politisierung unter der jungen Generation. Es gab zwar Debatten über die Perspektive von „links“ und „rechts“ und deren Unterschiede, aber die allgemeine Stimmung scheint zu sein, dass man es „nicht eilig hat, seine eigene politische Neigung zu bestimmen“. Die oben erwähnte Person, die für China Deviant sprach, sagte dazu:

Dennoch sind wir nicht bereit, eine Grenze zwischen uns und denjenigen zu ziehen, die unterschiedliche Ansichten darüber haben, wie die Probleme in China und seinen Randgebieten zu lösen sind. Diese Meinungsverschiedenheiten sollten von allen offen und ehrlich ausgehandelt werden, wenn ein demokratischer Rahmen und Prozess vorhanden sind. Das Problem ist jetzt nicht, dass wir Meinungsverschiedenheiten haben, sondern dass wir aufgrund der jahrzehntelangen Unterdrückung, Entpolitisierung und sozialen Atomisierung, die von der KPCh zur Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft betrieben wurde, keinen Rahmen und keine Plattform für Diskussionen haben. Wir müssen einen Raum schaffen, in dem freie und demokratische Diskussion und Entscheidungsfindung möglich sind.

Studentische Beschäftigte schließen sich einem Streik an

Die westliche Linke sollte vielleicht nicht mit allzu strengen Maßstäben in dieser neuen Gemeinschaft chinesischer Dissidenten intervenieren. Die sozialen Ungerechtigkeiten im Westen werden eine wachsende Zahl chinesischer Auslandsstudenten und studentischer Arbeiter dazu zwingen, sich der dortigen Klassenkämpfe bewusst zu werden und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. In den USA scheint dies bereits zu geschehen. Mitte November letzten Jahres traten Tausende von akademischen Beschäftigten an der Universität von Kalifornien in einen sechswöchigen Streik, um für bessere Bedingungen zu kämpfen. Das geht aus einem anderen Bericht von Lausan hervor:
An diesem Streik beteiligten sich auch viele internationale chinesische Studierende, eine Bevölkerungsgruppe, die stereotyp als unpolitisch und von US-Themen abgehoben gilt. Wie ihre einheimischen und anderen internationalen Kollegen beteiligten sich viele von ihnen zum ersten Mal an einer unabhängigen politischen Organisierung und brachten eine Vielzahl von Haltungen zu dem umstrittenen Vertrag und der Art und Weise, wie der Streik organisiert wurde, zum Ausdruck.
….Diese prekäre Situation im akademischen Bereich hat unter den internationalen chinesischen Studierenden eine neue Welle politischen Bewusstseins ausgelöst, die zur Bildung einer Vielzahl von akademischen Aktivistengruppen wie dem Chinese Students and Activists Network, Tying Knots (结绳志), The CaoCollective (离离草) und anderen geführt hat.

Widerstand lernen

Der Weg, der vor uns liegt, ist noch sehr lang. Man bedenke nur: China hat, wahrscheinlich als einzige Weltmacht, keine sichtbare organisierte Opposition, keinen anerkannten Oppositionsführer (der letzte, Liu Xiaobo, ist schon vor langer Zeit im Gefängnis gestorben, während Alexej Navalny noch im Gefängnis überlebt), keine autonome Arbeitnehmerorganisation, keine unabhängigen Medien und keine garantierten bürgerlichen Freiheiten , so dass es nie eine kontinuierliche soziale Bewegung gibt, sondern nur soziale Aktionen, die nach ihrer Unterdrückung jedoch leicht in Vergessenheit geraten. Es gibt in China kaum unabhängig erhaltene Bewegungsgeschichten, so dass keine Erfahrungen aus der Vergangenheit jemals richtig weitergegeben werden könnten. Neue Generationen von Aktiven sind gezwungen, ihre Arbeit neu zu beginnen und stolpern dabei über viele Fehler, so dass sie bald zum Schweigen gebracht werden.

Ich habe die Folgen der mangelnden Kontinuität der verschiedenen Wellen des sozialen Widerstands selbst erlebt: Ende Oktober 2022, als die chinesischen Auslandsstudierenden in London ihren ersten Protest starteten, hatte die Gastgeberin ein wenig Mühe, das Megaphon zu benutzen – es war ihr erstes Mal. Nach einigen Reden der Studierenden schlug die Moderatorin vor zu singen, zuerst Do you hear the people sing, dann schlug sie die Internationale vor, aber einige waren damit nicht einverstanden, es wurde trotzdem gesungen, aber die Begeisterung war viel geringer. Diese beiden Lieder sowie das Lied The Open Sea and the Endless Sky (ein Lied der Hongkonger Band Beyond) waren während der China-Proteste Ende 2022 zu beliebten Liedern geworden. Die demokratische Bewegung in China hatte kaum Chancen, jemals eigene populäre Lieder zu entwickeln oder andere Formen widerständiger Kunst. Die Armut an widerständiger Kultur ist ein Spiegelbild der Armut des kollektiven Gedächtnisses und des Denkens, die wiederum eine Folge des totalitären Staates ist. Die Proteste des letzten Jahres haben aber die Entstehung von Widerstandsliedern gefördert, und es ist zu hoffen, dass diese sich bald sprunghaft entwickeln werden (z. B. die Musik von Yinfi Lu).

Herausforderungen und Chancen

Ein Freund aus Manchester erzählte mir auch, dass sie bei der ersten Demonstration chinesischer Studierender aus dem Ausland sehr nervös waren – nicht nur, weil es die erste Demonstration in ihrem Leben war, sondern auch, weil sie sich untereinander unwohl fühlten, weil es auch ihre erste persönliche Begegnung war. Der technologische Fortschritt im Bereich der sozialen Medien ermöglicht es den Menschen, intensive Diskussionen zu führen, ohne auch nur den Namen oder die Handynummer des anderen zu kennen. Aber wenn es um physische Treffen geht, ist die Sicherheit immer ein echtes Problem, was uns einmal mehr daran erinnert, wie atomisiert die Chinesen sind. Ganz zu schweigen davon, dass von den 130.000 chinesischen Auslandsstudierenden in Großbritannien wahrscheinlich nur ein oder zwei Tausend jemals protestiert oder an anderen Aktionen teilgenommen haben.
Aber der Ausgangspunkt ihres Widerstands ist vermutlich weiter voran als bei der Generation von 1989. Letztere war fast von Anfang bis Ende misstrauisch gegenüber der Beteiligung von Arbeitern, und sie äußerte selten Sympathie für Minderheiten. Im Gegensatz dazu zeigt die neue Jugend von 2022 einen stärkeren Drang, sich mit allen Unterdrückten zu solidarisieren. Die neue Jugend von 2022 erlangt vielleicht bald genug die politische Reife, um sich mit dem Pekinger Drachen anzulegen. Auch wenn das nicht einfach werden wird.

Anmerkung
1) Es war auch ein Protest gegen ihre Zustimmung zum Versailler Vertrag, nach dem das deutsche Pachtgebiet Kiautschou – heute Qingdao – in China in japanischer Verwaltung blieb und erst 1922 wieder chinesisches Hoheitsgebiet wurde.  (Anm. d. Übers.)

Übersetzung von Fritz Hofmann, Forum Arbeitswelten

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