vonmanuelschubert 24.02.2023

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

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DRIFTER von Hannes Hirsch erzählt über einen jungen Schwulen aus der Provinz, der in Berlin erst die Liebe und bald auch sich selber verliert. Versuch einer Auseinandersetzung in acht Stichworten mit einem Film, bei dem man sich nicht nur fragt, warum derartige Filme im Jahr 2023 noch auf die Awareness-behauptende Berlinale eingeladen werden.


1. Penis

Es beginnt mit einem steifen Penis. Frontalaufnahme. Die Szene weitet sich, hier findet ein Blowjob statt. Moritz und Jonas. Jonas richtet Moritz auf, hält ihn am Hals auf Armlänge von sich entfernt: „Schön, dass Du nach Berlin gezogen bist.“, sagt Jonas. Dieser Satz wird sich binnen weniger Minuten Laufzeit von DRIFTER als Lüge erweisen: Moritz, 22, eventuell Student, Klarinettenspieler, schwul, der Liebe wegen nach Berlin gezogen, jetzt Single.

Da haben wir ihn also, einen weiteren schwulen Jungen aus der heteronormativen Provinz, der nun in Berlin hockt. Seine Mutter sagt, er könne sich noch etwas Zeit lassen, sich finden. Als Filmstoff ist das, gelinde gesagt, altbacken. Vor der Folie eines von Gentrifizierung geplagten Berlins dessen (nicht nur queere) Bewohner:innen auch und gerade durch Menschen verdrängt werden, deren Eltern einen größeren Geldbeutel haben, wirkt das befremdlich bis aus der Zeit gefallen.

2. Clubkid

Moritz findet den Weg in die Club-Szene. Dass er damit auch sofort von Suchtmitteln umgeben ist, will das Drehbuch so. Zu Beginn lehnt er alle Angebote noch brav ab, bald zieht er sich selber die Lines vom Smartphone-Display. Auch sein Körper verändert sich: Aus dem schüchternen Wuschelkopf wird ein kurz geschorener, leicht muskulöser und tattooverzierter Kerl mit diversen Geschlechts- und Tanzpartner:innen. Vielschichtiger wird die Figurenzeichnung bei den Drehbuchautor:innen Hannes Hirsch und River Matzke übrigens nicht werden.

Dies zeigt sich auch an den anderen Bewohner:innen von DRIFTER: Es gibt den etwas älteren Noah, dem die Rolle des Normalos zugeschrieben wird, der an Moritz interessiert ist und ihn gelegentlich daran erinnern darf, kein bindungsgestörtes Arschloch zu werden. Es gibt den Ex Jonas, der erfolgreicher Fotograf wird, während Moritz erfolgreich zum Clubkid mutiert – und der Moritz irgendwann zurückhaben will, jetzt, wo der nicht mehr so langweilig ist. Aber für diese spezielle Form von Romantik hat das Drehbuch keine Verwendung und Moritz ist sowieso längst bindungsgestört.

Nicht zu vergessen ist der bunte Strauß an Expats, die durch diesen Film rennen. Partyfokussiert, suchtmittelaffin, in ihren genderkonträren Schickimicki-Outfits den Normcore eines pseudoliberalen Spätkapitalismus zu Markte tragend. In ihrem Sein sind alle irgendwie austauschbar und eigentlich egal. Moritz wird einer von ihnen – Coming of Age.

3. Hass

Was will Filmemacher Hannes Hirsch mit DRIFTER eigentlich erreichen? Will er unterhalten? Will er porträtieren? Einen Zeitgeist auf Film bannen? Gar anklagen? Alles legitime Anliegen. Sie umzusetzen, bedeutet harte Arbeit an den Figuren. Bedeutet, aus einem Sammelsurium an Motiven komplexe Persönlichkeiten zu formen, zu denen wir als Publikum eine Verbindung aufbauen können und wollen. Figuren, die auf eine erzählerische Reise gehen, der wir folgen möchten. Selbst wenn die Story irritiert oder verstört, Hauptsache sie funktioniert.

In DRIFTER funktioniert wenig. Schlimmer noch, man beobachtet diese Figuren irgendwann alle nur noch mit einer Mischung aus Desinteresse und Abscheu. Es wirkt, als ob sie geradezu als Hassobjekte aufgestellt werden. Hassobjekte, die durch ein nicht minder enervierendes visuelles Worst-of an Berlin-(Film-)Klischees tapern. DRIFTER ist ein toxischer Heimatfilm.

4. Schere

Die Abziehbild-Figuren, die dünne Story, die totgefilmten visuellen Topoi – die Liste der Probleme dieses Streifens ist damit noch nicht am Ende. Der Schnitt trägt seinen Teil zum Misslingen bei. Wo immer in diesem Film atmosphärische Dichte aufkeimt, beseitigt der Schnitt diese Momente rasch. Sich zu lange in einer Sequenz aufzuhalten, scheint für Regisseur Hirsch quälend. Die Bindungsstörung, sie ist in diesem Film ein Leiden nicht allein der Figuren.

Vielleicht soll auch einfach ein Gefühl von Bewegung und Geschwindigkeit entstehen. Nur, wozu? Soll nicht auffallen, dass der 79-minütige Film streng genommen nach kaum 20 Minuten auserzählt ist? Oder soll sich das hier wie ein Sog anfühlen, in den die Figuren gerissen werden und wir mit ihnen?

Berlin, die Stadt, die niemals schläft niemals aufhört Party zu machen und alles mit sich zieht, gleichsam einer Naturgewalt? Das ist natürlich Blödsinn, dieses Berlin gibt es nicht. Selbst im Berghain geht irgendwann das Putzlicht an.

5. Porno

Ein Motiv jedoch wird in extenso ausgewalzt: Hannes Hirsch führt uns oft und vergleichsweise lange auf Dancefloors. Was genau diese Momente mitteilen sollen, bleibt das Geheimnis des Filmemachers. Denn wohl kaum eine Alltagssituation lässt sich derart schlecht in eine fiktionalisierte Form pressen wie die Momente in einem Club.

Der besondere Zauber, diese ephemere, sehr intime Welt und alles was sie mit uns macht, entzieht sich der visuellen Reproduktion. Blutleere Retorte, mehr nicht. Die Retorten-Disko auf der Leinwand ist ein peinliches Filmsujet, im Grunde eine Art sehr schlechter Pornografie. Fake-Figuren führen Fake-Akte in einer Fake-Umgebung auf. Sie simulieren Extase, wo allenfalls sportähnliche Übungen ausagiert werden.

Wo der Sex-simulierende Porno „wenigstens“ noch ein Ziel hat, nämlich den zeitnahen Orgasmus seines Konsumenten, ist der Club-simulierende Porno der Sinnlosigkeit preisgegeben. Nichts vermittelt sich durch diese Szenen. Ein absolutes narratives Nichts. Das Kino und der Club – unvereinbare Welten.

6. Framing

Frage: Darf mensch von einem fiktionalen nicht-heterosexuellen Berlin-Film erwarten, dass er in besonderem Maße achtsam mit Lebensrealitäten der nicht-heterosexuellen Communitys in Berlin umgeht? Oder ist es ok, wenn BDSM-Sex als sinistres, den Verfall der Hauptfigur symbolisierendes Dunkel dargestellt wird?

Für sehr viele (nicht-)heterosexuelle Menschen ist BDSM-Sex tief verankert in ihrem sexuellen Sein. Es gehört zu ihnen. Es ist nicht nur das, was sie zwischendurch kommen lässt – wie ein schneller Porno. Sie lernen daraus für sich selbst über sich selbst, sie leben darin eine Freiheit, die ihnen sonst nicht zugänglich ist, sie wachsen daran, verarbeiten gar Traumatisierungen dadurch. BDSM kann Heilung sein.

In DRIFTER wird BDSM für die Augen einer sexnegativen Mehrheitsgesellschaft geframed. BDSM ist hier Schmutz, verachtenswerte sexuelle Devianz und Perversion. Exponiert, um dem Publikum zu bezeugen, wie enthemmt und kalt das Milieu ist, dem sich nun die Hauptfigur anschließt.

Lorenz Hochhuth in DRIFTER | (c) Bild: Salzgeber Filmverleih

Dabei wäre die fragliche und eigentlich recht kurze Sequenz, bei der Moritz und ein anderer Typ einen Dritten zu vermöbeln haben, mit einfachsten Mitteln aufzubrechen gewesen, – sofern gewollt. Was hätte das Drehbuch etwa daran gehindert, die beteiligten Figuren kurz über ein Safeword sprechen zu lassen? Safewörter sind das Fundament, auf dem eine BDSM-Session beruhen muss. Es geht dabei um Vertrauen, Sicherheit, Achtsamkeit.

7. Awareness

Die Aushandlung eines Safewords in die Szene einzubauen hätte bedeutet, sie sofort anders aufzuladen – und Moritz beizubringen, dass in diesem Berlin menschliche Nähe und Respekt wohnen, auch und gerade wenn es um fortgeschritteneres sexuelles Spiel geht. Doch diese Aufladung ist offensichtlich nicht gewollt gewesen. Warum müssen wir uns als queere Communitys solchen erzählerischen Missbrauch im Jahr 2023 noch ansehen?

Schlimmer, warum werden solche Filme in ein Festival eingeladen, dass gefühlt auch an jede Kinoklokabinentür ein Awareness-Hinweisschild klebt und dazu aufruft, im Zweifelsfall das Berlinale-Awareness-Team zu kontaktieren, damit der „Verhaltenskodex und Antidiskriminierungspolitik“ umgesetzt werden können, für „gegenseitigen Respekt und Progressivität“?

Warum muss ich als Filmjournalist im Akkreditierungsprozess eine Awareness-Erklärung bestätigen, wenn mir dann auf der Leinwand genau jenes respektlose und regressive Geflimmer um die Ohren fliegt, welches doch eigentlich nicht mehr stattfinden soll? Hallo, liebes Berlinale-Awareness-Team, ich habe hier ein Problem. Meldet ihr euch bei mir? Meine Mail-Adresse ist im System.

Warum läuft derlei dann auch noch ausgerechnet in der Sektion die Manfred Salzgeber, zu Lebzeiten eine passionierte Leder-Fetisch-Tunte, aufgebaut hat und wird von einem Verleih koproduziert, der dessen Namen trägt? Je länger man darüber nachdenkt, desto größer wächst die Fassungslosigkeit.

8. (Un-)Glück

Kehren wir noch einmal zur Sinnfrage zurück und versuchen eine Antwort: Was Filmemacher Hannes Hirsch mit seinem Film scheinbar bezweckt, ist die Vermittlung der/seiner These von einer schwulen Community, die sich zwischen bösem Sex, bösen Drogen und bösem Umgang miteinander selber zum größten Feind geworden ist. Kurz: Der Sündenpfuhl Berlin, der die heile Welt von der heteronormativen schwulen Zweierbeziehung verglühen lässt wie eine Kippe auf dem Dancefloor.

Der ewige Wunsch des Schwulen, dass eigene Triebschicksal vergessen zu machen und wenigstens eine Kopie des (Un-)Glücks der Heteros zu erlangen, – darauf läuft es bei/für Hannes Hirsch eigentlich hinaus. Das und nur das. Wir schreiben das Jahr 2023 und in den Kinos der Berlinale – nicht in den Clubs von Berlin – feiert der schwule Selbsthass eine rauschende Party.

DRIFTER | D 2023 | Hannes Hirsch | 79′ | Panorama


Erstveröffentlichung dieses Textes auf filmanzeiger.de

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kommentare

  • Es ist erfreulich zu sehen, wie “DRIFTER” mutig und provokant Themen wie BDSM und die Vielfalt innerhalb der LGBTQ+-Community anspricht. Die Entscheidung, die dunkleren Seiten der schwulen Szene zu beleuchten, mag zwar kontrovers sein, jedoch trägt sie zur Realitätsnähe und Komplexität der dargestellten Charaktere bei. Der Film regt dazu an, über die Vielschichtigkeit von Beziehungen und die individuellen Erfahrungen innerhalb der Community nachzudenken. Die Diskussion über die Integration von Safewords zeigt, dass es Raum für weiteren Dialog und Reflexion gibt, was letztendlich zu einem tieferen Verständnis und einer konstruktiven Entwicklung führen kann. Es ist wichtig, dass Filme wie “DRIFTER” dazu beitragen, verschiedene Perspektiven innerhalb der LGBTQ+-Gemeinschaft zu beleuchten und so zu einer offenen und inklusiven Diskussion beizutragen.

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