vonmanuelschubert 19.10.2020

Filmanzeiger

Texte, Töne und Schnipsel aus dem kinematografischen Raum auf der Leinwand und davor. Kinoverliebt. Filmkritisch. Festivalaffin. | Alle wichtigen Links: linktr.ee/filmanzeiger

Mehr über diesen Blog

Es war kein einfacher Sommer für jene Bewohner:innen Berlins, die nicht auf heteronormative Paar-Konstellationen zurückgreifen konnten oder wollten. Unter dem Druck der Corona-Prävention, ohne Clubs, Darkrooms oder Bordelle und mit Parks voller illegalisierter Raver oder Corona-Leugner:innen wurden Sex und Nähe für sie zur unangenehm komplizierten bis illusorischen Vorstellung.

Jetzt ist Herbst und die im Sommer noch vergleichsweise überschaubaren Infektionszahlen galoppieren munter in bis dato ungekannte Gefilde. Sex? Nähe? Jetzt erst unmöglich. Oder doch nicht?

Normalerweise bietet sich im Oktober immer eine sehr gute Gelegenheit sexuelle Freunden aller Art zu erleben – auf der Leinwand und jenseits des Kinos. Das Pornfilmfestival Berlin würde seine Zelte im Kreuzberger Kino Moviemento aufschlagen und ein einzigartig filmneugieriges und sexpositives Publikum einladen, sämtliche Winkel der Lust nicht nur filmisch zu erkunden. Corona macht dies, nein, nicht unmöglich.

Ist ein Festival wirklich machbar?

Der Coronasommer ließ die Kurator:innen Jürgen Brüning, Manuela Kay, Paulita Pappel und Jochen Werner allerdings ernsthaft darüber nachdenken, ob das Pornfilmfestival nicht komplett abgesagt werden sollte. Nach langem Ringen entschieden sie sich, den 15. Festivaljahrgang auszutragen, oder wie Jochen Werner es formuliert: „Wir machen ein Festival, weil es keine Option ist abzusagen.“

Anders als viele andere (Film-)festivals wird sich das Pornfilmfestival Berlin jedoch nicht in den digitalen Raum zurückziehen und ausschließlich per Stream stattfinden. Vielmehr versuchen die Kurator:innen das bewährte Programm-Angebot aus Spiel- und Dokumentarfilmen unterschiedlichster Längen für diesen besonderen Jahrgang neu zu denken, damit das Festival ausdrücklich im Ort Kino möglich wird.

Plakat zu „Covid Obession“ – Teil der Kurzfilmrolle „Sex in Times of Corona“

Dabei geht es den Kurator:innen nicht darum, eine Normalität vorzutäuschen die es nicht gibt. Diktieren die Präventionsauflagen den Festivalmacher:innen wie auch den beteiligten Kinos doch harte Grenzen des Möglichen. Ein schwerer Schlag für das traditionell extrem wuselige Festival.

Kuratorin Paulita Pappel sieht im Festivaljahrgang 2020 dann auch eher einen symbolischen, aber dennoch extrem wichtigen Akt. Hat die Pandemie doch massive Auswirkungen auf die Leben sovieler Menschen auch und gerade in Berlin. Es ist ein Lebenszeichen für das Berliner Publikum, ergänzt Jochen Werner.

Immenser Produktivitätsschub

Unter Beachtung aller Präventions-Regeln werden im Kino Moviemento und zusätzlich in der vor wenigen Jahren erst hinzu gewonnenen Spielstätte Babylon Kreuzberg nun also neun Langspielfilmen und sechs Kurzfilmrollen präsentiert. Auffallend humorvoll geht es dieses Jahr in vielen der Kurzfilmprogramme zu, obwohl oder gerade weil die Themen, die die Filmemacher:innen beschäftigen derzeit eher bedrückend sind. Corona findet natürlich seinen Eingang und erfährt durch die neue Kurzfilmrolle „Sex in Times of Corona Porn Shorts“ eine erste Aufarbeitung.

Der bemerkenswerten Theorie-Versessenheit vieler Einreichungen zum diesjährigen Festival verdankt sich ein weiteres neues Programm, die „Theory Porn Shorts“. Ebenfalls neu dabei sind die „Männerkörper/Männerbilder Porn Shorts“. Und auch etablierte Programme wie „Lesbian Porn Shorts“, „Fun Porn Shorts“ oder „Fetish Porn Shorts“ werden angeboten, ebenso der Kurzfilmwettbewerb. Denn eines wurde, so Kuratorin Paulita Pappel, bei den Sichtungen für das Programm 2020 schnell deutlich: Corona hat einen immensen Produktivitätsschub bewirkt, der viele neue und viele altbekannte Gesichter vor und hinter die Kameras trieb.

Eröffnet wird das Programm am 20. Oktober derweil mit dem Anthologiefilm „Urban Smut“ des Berliner Kollektivs Meow Meow, die 2019 den Spielfilmpreis des Festivals für „Die traurigen Mädchen aus den Bergen“ gewannen. In fünf Episoden soll diesmal nicht weniger als ein Panorama kontemporärer urbaner Sexualitäten entstehen. Für Paulita Pappel wird in „Urban Smut“ aber auch deutlich, welche Stärke im kollaborativen Arbeiten steckt und was sich als Gemeinschaft alles schaffen lässt.

Terror der Aids-Jahre

Der französische Beitrag „Vivante“ der Filmemacherin Anushka erkundet, wie ein lesbisches Paar versucht mithilfe von Sexarbeit die gemeinsame Sexualität zurückzuerobern, nachdem eine der Partner:innen nach einen Unfall körperlich Behindert ist. Behinderung, Sex und Sexarbeit verweben sich in diesem auch ästhetisch beindruckenden Film.

Die Auswahl der neun Langspielfilme wird am 25. Oktober schließlich durch den neuesten Film des US-amerikanischen Filmemachers Todd Verow abgerundet. In „Goodbye Seventies“ legt er eine liebevolle Hommage an das sogenannte Golden Age of Porn vor und skizziert zugleich, mit deutlich spürbarer Melancholie, was durch den Terror der Aids-Jahre verloren gegangen ist. Vielleicht Todd Verows bester Film bisher.

Plakat zu „Buddies“ – Teil der Retrospektive „Ein Virus kennt keine Moral – Die Aids-Ära im Kino“

Um Viren dreht es sich schließlich auch in der diesjährigen Retrospektive des Festivals, die darüber hinaus auf die eigentliche Besonderheit des Jahrgangs 2020 verweist.

Denn das Pornfilmfestival wird nach dem 25. Oktober nicht enden, sondern sein Publikum mit zusätzlichen Programmen durchs komplette kommende Jahr und bis zum Festival 2021 begleiten.

Diskurse des Damals im Heute

Den Anfang macht die Retro, mit der Kurator Jochen Werner im November zur (Wieder-)Erkundung von Filmen der Aids-Ära einlädt, Titel: „Ein Virus kennt keine Moral“. Denn ist es nicht so, dass sich viele der Denkmuster und Sprachweisen von HIV und Corona erschreckend gleichen, gerade im Hinblick auf Sexualität?

Die Retrospektive ermuntert zur Spurensuche und zum Suchen nach Hinweisen und Diskursen des Damals, die uns im Heute wieder Kopfschmerzen bereiten. Zu sehen sein werden unter anderem Arthur Bressons „Buddies“, Rosa von Praumheims „Ein Virus kennt keine Moral“, das Aids-Musical „Zero Patience“ und die Dokumentation „Rettet das Feuer“ über den Berliner Fotografen und Aids-Aktivisten Jürgen Baldiga.


Pornfilmfestival Berlin 2020/21

Festivalwoche vom 20.-28.10.2020 im Kino Moviemento und Babylon Kreuzberg

Streamingprogramm vom 25.10.-01.11.2020 auf pinklabel.tv

Monatsprogramme ab 03.11.2020 bis 07.09.2021 im Kino Moviemento

Mehr Infos zu Ticketkauf und Pandemieschutz: pornfilmfestival.de


 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/filmanzeiger/2020/10/19/safer-sex-safe-sex-pornfilmfestival/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert