vonHelmut Höge 21.10.2006

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Allem amerikanischen Grundrecht auf Glück zum Trotz wird der Opern- Besucher bei uns immer noch hoch subventioniert, ein Glücksspieler dagegen schwer besteuert. Während ersterer vorgibt, seine Leidenschaften veredeln zu wollen, wird letzterem unterstellt, er sei ungeeignet “for steady work as well as for the higher and more solid pleasures of life” (A. Marshall, “Pinciples of Economics”).

Die Wirtschaftswissenschaftler definieren deswegen das Glücksspiel, ebenso wie Tabak, Alkohol und Prostitution, als ein “demeritorisches Gut” (von “meritorisch” = verdienstlich, “Demerit” ist ein straffällig gewordener, suspendierter Geistlicher).  Gemeinsam ist den demeritorischen Gütern, daß ihre Extrabesteuerung dem Gemeinwohl zugute kommt, zugleich aber das Gemeinwesen deren Konsumenten hartnäckig ablehnt. Etwa so wie das verabscheuungswürdige Verbrechen zugleich “Arbeitsplätze für Millionen” schafft: “Während es einen Teil der überzähligen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt entzieht, und damit die Konkurrenz unter den Arbeitern vermindert, zu einem gewissen Punkt den Fall des Arbeitslohns unter das Minimum verhindert, absorbiert der Kampf gegen das Verbrechen einen andern Teil derselben Bevölkerung” (Karl Marx). Der Konsum demeritorischer Güter erzeugt nämlich eine Heerschar von Hilflosen und Helfern – über den Begriff des “Süchtigen”. Dieser Sucht-Aspekt, ebenso wie der des “Freizeitvergnügens”, wird jedoch in der Volkswirtschaftsstudie von Norman Albers ausdrücklich nicht thematisiert. Dabei handelt es sich um seine Doktorarbeit: “Ökonomie des Glücksspielmarktes in der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zur angewandten Wirtschaftsforschung,” 1993. Der Autor entstammt einer Buchmacherfamilie, die sich auf das einzige nichtstaatlich dominierte Glückspiel geworfen hat: Pferdewetten, die durch die Landespferdezuchten legitimiert werden – und damit quasi höheren Zielen dienen. Die Studie von Albers richtet sich gegen die staatsmoralische Fesselung des Glücksspiels, ist also ein Votum für die Privatisierung, indem es die “Notwendigkeit eines Konsumentenschutzes” in Frage stellt, denn “aus dem generellen Glücksspielverbot mit Erlaubnisvorbehalt resultiert ein Angebotsmonopol des Staates” – mit zunehmend widersprüchlichen Folgen, so Albers.

Ausführlich und mit allerlei Formelkram wird von ihm zunächst der Erwartungsnutzenansatz im Zusammenhang einer Risikopräferenzfunktion beim Glücksspiel herausgearbeitet. Die deutsche Mittelposition – zwischen tiefsinnigem Russisch-Roulett (“Das Recht auf Unglück”) und den seichtsinnigen Amerikikis, “who play with the balls of their sons”, bleibt dabei ausgespart, die Mathematik tendiert ja sowieso zur globalen Gleichmacherei. Das hört sich dann so an: “Es ist zu erwarten, daß nur bei kleinen Verlustmöglichkeiten die potentielle Freude hinreicht, die Aversion gegenüber monetären Risiken zu kompensieren”. So ein Satz könnte auch über jede Aufsichtsratssitzung der Dresdner Bank in Neon aufleuchten. Hier bezieht es sich jedoch auf Glücksspiele von der Art des Mittwochslottos, wo “nur geringe Erwartungen mit der Teilnahme verbunden werden”. An anderer Stelle heißt es dazu: “Der ,Reue’-Ansatz (von Loomes und Sugden) korrespondiert mit dem empirisch beobachtbaren Verhalten, daß Haushalte Glücksspiele mit geringen Einsätzen und hohen Gewinnen akzeptieren, aber ,Glücksspiele’ [in Anführungsstrichen!] mit hohen Einsätzen und geringen Gewinnmöglichkeiten ablehnen.” Diese Anführungsstriche beim Glücksspiel (warum nicht bei den “Haushalten”?) unterscheiden z. B. den kommunistischen Zocker vom profanen Black-Jack-Spieler, der Haus und Hof verballert, was ersterer – zum Glück – gar nicht erst besitzt. Für beide gilt jedoch: “Das Teilnahmemotiv ist eine Funktion des Gewinns, und die Teilnahme selbst ist als Strategie anzusehen, die Opportunitätskosten des Nutzenentgangs durch Selbstvorwürfe zu minimieren und Freude über den Gewinn zu ermöglichen … Auf die Beweisführung, daß konkav verlaufende Nutzenfunktionen (Risikoaversion) zu konvex gekrümmten Indifferenzkurven führen et vice versa, sei hier verzichtet.”  Rand-Determinanten des Spielers als “homo oeconomicus” verhandelt der Autor gerne in Fußnoten – Nr. 199: “Hirshleifer vermutet eine positive Korrelation zwischen Teilnahme an Spielen mit Zufallsmechanik und geringer Schulbildung, da aufgrund des niedrigen Schulabschlusses weniger auf objektive Kriterien des Spielarrangements eingegangen werden kann.” Nr. 211 gibt den Lösegeld-Spielern recht, die eine zunehmende Verzichtbereitschaft bei steigenden Einkommen annehmen: “Für den Verlust des eigenen Lebens kann sogar Ruinbereitschaft unterstellt werden, um den Zustand ,Tod’ zu vermeiden. Andererseits würde eine unendlich große Ausgleichszahlung für die Akzeptanz des Todes gefordert werden.”

Ziel der gesamten Studie ist indes wie erwähnt eine Befreiung des Glücksspiels aus seiner staatsmoralischen Fesselung und der damit einhergehenden Erziehungsdiktatur unserer “ora et labora”-Gesellschaft, sie ist mithin ein Votum für die Privatisierung, das die fortdauernde “Notwendigkeit eines Konsumentenschutzes” in Frage stellt: “Aus dem generellen Glücksspielverbot mit Erlaubnisvorbehalt resultiert ein Angebotsmonopol des Staates” – und das gestaltet sich äußerst widersprüchlich.  Juristisch wird dabei z. B. mit dem Begriff des “Vermögensschutzes” operiert: Das Bundesverwaltungsgericht sah 1982 “einen theoretischen Höchstverlust von 70 DM pro Stunde als unbedenklich an, dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof erschienen dagegen 1990 Verluste von 144 DM pro Stunde hinnehmbar … Die Crux des Kriteriums des Vermögenswertes wird vollends deutlich, wenn man den zu erwartenden Verlust von 28.80 DM pro Stunde bei einem Geldautomaten mit dem Durchschnittseinsatz beim Zahlenlotto von 10.60 DM pro Woche vergleicht.”  Einmal wollten wir in der (inzwischen wieder geschlossenen!) Berliner Filiale des britischen Wettbüros “Ladbrokes” auf das Schiller Theater und die Batteriefabrik Belfa wetten, daß sie den Kampf gegen ihre Abwicklung durch Treuhand und Senat gewinnen: Unter Hinweis auf das hier herrschende Rennwett- und Lotteriegesetz wurde diese Wette jedoch abgelehnt, zugelassen sind nur echte Pferdewetten. Zudem schreibt das Gesetz einen Rennwettsteuersatz von 16 2/3 Prozent vor, “was”, laut Albers, “im europäischen Vergleich als restriktiv angesehen werden muß”. Gleichzeitig gilt jedoch die Absurdität, daß Spieleinsätze, die in einer Rennvereins-Annahmestelle getätigt werden, “steuerunschädlich” bleiben.  Dabei hatten wir mit unserer Arbeitsplatz-Kampfwette durchaus eine antizyklische Aktion im Sinn, denn ein “enger Zusammenhang zwischen gesamtwirtschaftlichem Wachstum und Wachstum der einzelnen Glücksspielausgabenarten” ist unbestritten. “Diese Korrelation wird nur durch ,Sondereinflüsse’ überlagert, wie sie etwa aus der Währungsreform 1948, der Einführung des Lottos ,6 aus 49′ im Jahre 1955, der Spielbankengründungswelle Mitte der Siebziger Jahre” oder der Einführung von DM sowie von Spielautomaten auf dem Territorium der DDR 1990 resultierten. Albers erwähnt jedoch, daß insbesondere “das Anwachsen des Höchstgewinns im Zuge der Kolonnenpreisverdoppelung des Lottos ,6 aus 49′ im Jahre 1981 und die Einführung des Jackpots 1985 in der Folge zu einem Einsatzwachstum führten, das sich von der Einkommensentwicklung der Privathaushalte abkoppelte”.  Vielleicht war unsere Wette aber auch zu sportiv gedacht: “Für den Sportwettenmarkt scheint besonders die Entwicklung am Arbeitsmarkt von ausschlaggebender Bedeutung zu sein.” Wie am ersten Ölpreisschock 1973/74 abzulesen war, weist die Entwicklung der Sportwetteinsätze “auf eine starke Konjunkturabhängigkeit hin”.  Interessant ist ferner, daß neue Spielbankgründungen “nicht zu einer Umverteilung des vorhandenen Nachfragepotentials führen, sondern zu neuem Spielerpotential mit weitgehend gleichen Spielgewohnheiten”, so daß auch die jüngsten Spielbankgründungen “zu einem proportionalen Zuwachs der Spielbankenabgabe für den betreffenden Landeshaushalt führen werden. Ein Konkurrenzdruck der Spielbanken untereinander ist nicht anzunehmen.” Mit diesem Argument hatte sich bereits das Ostberliner Spielkasino gegen eine Schließung durch den Westberliner Senat gewehrt. Zudem wurde dort der Erhalt der Arbeitsplätze ins Feld geführt. Auch hierzu finden sich detaillierte Angaben in der Studie von Albers. 1986 zahlten westdeutsche Spielbanken insgesamt 223,5 Mio. DM Löhne und Gehälter, 60.500 DM pro Beschäftigten. Umgekehrt ging man beim Glücksspiel des kleinen Mannes, “6 aus 49”, zu Beginn noch von der Überlegung aus, daß der Mindestgewinn “dem durchschnittlichen Stundenverdienst eines Arbeiters entsprechen muß”. Mittlerweile kreisen die Marketingüberlegungen jedoch zumeist um die Höchstgewinnklasse. Sie wurde 1974 von 500.000 auf 1,5 Mio. angehoben, seit 1985 kommt es darüber hinaus mit dem “Jackpotsystem” zur “Überwälzung nicht zur Ausschüttung gelangender Gewinne auf die nächste Veranstaltung”. Diese Ideen sind allein staatlich-steuerlicher Gier geschuldet.

Während sonst die demeritorischen Güter einer Einschränkung der Werbetätigkeit unterliegen, wird für die staatlichen Glücksspielangebote immer hemmungsloser geworben: 1990 waren die Werbeausgaben dafür bereits genauso hoch wie die Werbung der Bundesbahn und zweieinhalbmal so hoch wie die Werbung der Bundespost, zudem kommt der Ziehung der Lottozahlen im öffentlich-rechtlichen Sender geradezu ein Staatsnachrichtenwert zu – kostenlos. Für die Fernsehlotterie und die Glücksspirale wurde darüber hinaus das TV- Werbeverbot nach 20 Uhr aufgehoben.

“Die Bemühungen einiger Blockunternehmen, zielgruppengerecht besonders jüngere Erwachsene höherer Bildungsschicht und Frauen werblich anzusprechen, demonstrieren ebenfalls, daß das staatliche Interesse sich allein an der fiskalischen Ergiebigkeit der Glücksspiel-Besteuerung orientiert und nicht, wie behauptet, am Konsumentenschutz.” Dieser könnte für den Autor sowieso nur noch in bezug auf die Teilnahmebereitschaft von Arbeitslosen an Geldautomaten-Spielen geltend gemacht werden, wo sich ein “Nachfrageverhalten” andeutet, wie es in der “Regulierungsbegründung” generell unterstellt wird. Und die hält Albers wiederum für nur “vorgeschoben”, um nämlich verbraucherfreundlichere Glücksspiel-Anbieter vom Markt fernzuhalten oder sie höchstens in (Baccarat-)Nischen zuzulassen. Das hat im Endeffekt dazu geführt, daß unsere Schlipszwang- Spielbanken ungefähr so freudlos sind wie Arbeitsämter oder staatliche Blockbordelle.

Als “Fazit” soviel: “Da eine Aufrechterhaltung des regulativen Regimes dieses Marktes aus ,demeritorisch’ begründetem Konsumentenschutz eine gänzlich anders gestaltete Angebotspolitik notwendig machen würde, … ist die staatliche Regulierung des bundesdeutschen Glücksspielmarktes in der vorliegenden Form nicht angebracht.” Mit anderen Worten: Auch daß jeder seines Glücksspiels Schmied ist, muß erst noch mühsam erkämpft werden.

Seit dem neoliberalen Siegeszug gibt es dabei jedoch von oben und von unten  kein Halten mehr. Das Bundesverwaltungsgericht bezichtigte einige staatliche Veranstalter denn auch bereits einer “aggressiven Geschäftspolitik”, als es sich für eine Aufweichung des Monopols aussprach – zugunsten einiger Nichtregierungsorganisationen wie Welthungerhilfe und Greenpeace, die eine gemeinnützige Lotterie aufbauen wollten. Sie bekommen einerseits nicht mehr genug Spenden und andererseits gilt: Je mieser die Jobperspektiven, desto mehr wird gewettet.  Ende der Achtzigerjahre waren die Berliner Zeitungen noch voll mit empörten Artikeln über die Spielhallen, die sich – wie heute die Internet-Cafés, in denen primär Gewaltspiele runtergeladen werden – über die proletarischen Viertel ausbreiteten. Damals dachte man über Extrabesteuerungen sowie eine Reduzierung der Daddelautomaten übers Baurecht nach und sprach von Spielsüchtigen. Der Höchstgewinn lag bei 100 Mark. Heute kann man an den Automaten tausende von Euro gewinnen. Neben den öden Spielhallen, von denen es allerdings immer weniger gibt, existierten noch jede Menge türkische Sport- und Kulturvereine, wo die Männer Tag für Tag Karten spielten – ebenfalls um Geld. Auch diese “Cafés” sind rückläufig, weil die Männer heute als Arbeitslose nur noch so wenig zu verspielen haben, dass die Wirte nicht mehr davon leben können. Dafür rüsteten die Berliner Spielcasinos auf – oder eher ab: Sie öffneten sich mit ihren Automaten dem Postproletariat und schafften den Schlipszwang ab. Sie werden vornehmlich von thailändischen Prostituierten, vietnamesischen Händlerinnen und arabischen Geschäftsleuten aufgesucht.  Die Türken eröffneten dagegen ein Sportwettenbüro nach dem anderen, auch die Albers-Familie mischt dabei mit. Man wettet dort auf alle möglichen Spiele, vom Fußball in Prag bis zum Basketball in Detroit. Daneben treibt es immer mehr Berliner Arbeitslose zu den Pferderennen nach Hoppegarten und Karlshorst oder in den Westen nach Mariendorf, wo der FR-Redakteur Harry Nutt einst eine Zockerzeitung herausgab. Anfang des Jahres klärte er mich auf: “Die Sportwetten sind eigentlich noch immer verboten, aber diese neuen Wettbüros fallen nicht ins Staatsmonopol, weil sie formal nur Wetten ins Ausland vermitteln. Aber demnächst werden alle diese Einschränkungen sowieso wegfallen.”

Vor dem Bundesverfassungsgericht stand nämlich die Verhandlung  des Verbots der Vermittlung von Sportwetten durch private Anbieter an. Überraschenderweise bestätigte das Gericht dann jedoch das staatliche Monopol auf Sportwetten, wenn auch gegen Auflagen – und machte damit den Weg frei für Verbote von privaten Anbietern. Bayern beschloß daraufhin sofort, über 130 Wettbüros schließen zu lassen. Andere Bundesländer folgten: “Nahezu flächendeckend haben die Behörden mittlerweile Verfahren zur Schließung angestrengt und Unterlassungsverfügungen verschickt. Einige Betreiber haben bereits freiwillig den Betrieb eingestellt,” vermeldete eine Wirtschaftsnachrichtenagentur. Für Schlagzeilen sorgte das Verbot des größten Sportwettenanbieter “bwin”, der im Bundesland Sachsen über eine Lizenz aus DDR-Zeiten verfügte. Das Unternehmen kündigte an, die Verfügung juristisch anzufechten und drohte mit einer Schadenersatzklage. Ihm  sprang der  Bundesligist  Werder Bremen bei, dessen Trikotsponsor “bwin” ist, sowie auch andere Clubs und Sportverbände, die von der Firma gesponsert werden. Der Geschäftsführer der Deutschen Handballliga kritisierte das Verbot als rein politisch: “Der Wettbewerb wird zugunsten eines staatlichen Anbieters entschieden”, erklärte er. Desungeachtet untersagte man kürzlich Werder Bremen, zum Bundesligastart bei Hannover 96 mit einem Trikot mit bwin-Werbung aufzulaufen. Werder hatte zwar in Bremen ein Urteil zu Gunsten der umstrittenen Trikotwerbung erwirkt. Gerichtsstand für die Partie war aber die niedersächsische Landeshauptstadt.

Ermutigt durch diese und ähnliche Gerichtsurteile machte sich der Beirat des Kreuzberger Quartiersmanagements Kottbusser Tor auf, um einmal alle Glücksspielorte rund um das Kottbusser Tor zu erfassen: In nächster Nähe gibt es dort: 13 Wettbüros bzw. Spielhallen, 18  Internet-Telecafés sowie 12 Männercafés und 14 “Kultur”- bzw. “Sport”-Vereine. “Hier gibt es bald nur noch Geschäfte, die auf die eine oder andere Weise Glück verkaufen,” erklärte dazu ein Beiratsmitglied, “und in gewisser Weise gehört auch noch der Heroindealplatz direkt am ‘Kotti’ dazu.”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2006/10/21/landunter-glueckauf/

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kommentare

  • Das neue Glücksinfo ist da:

    Wo soll das alles enden? Erst hatten wir den gemeinen Auto- Diebstahl mit und ohne Heimtücke bzw. Gewinnabsicht, ihm folgte später der massenhafte Abtransport in Form von zerlegten Einzelteilen über die Oder (Stichwort: “Drehscheibe zwischen Ost und West”). Davor kam aber noch das “Joy-Riding” auf, wobei Autos bloß zum Spaß, für die Dauer einer Spritztour bzw. einer Tankfüllung, quasi “ausgeliehen” wurden. In Westberlin gab es sogar eine Sängerin mit dem Namen Joy Rider, aus New York natürlich, die dieses US-Trend-Vergnügen in Berliner Talk-Shows anpries.

    Eine auf öffentliche Verkehrsmittel zugeschnittene quasi Öko- Abart davon war dann das S-Bahn-Surfen, das sich mitunter in den Aufnahmestationen der Unfallkliniken immer noch diagnostizieren läßt. Seit der VEB-Privatisierungsphase kommen verstärkt die “Crash-Kids” ins Spiel, die mit ihren gestohlenen PKWs so lange gegeneinander fahren, bis nur noch einer fahrtüchtig übrigbleibt. (Viele dieser “Kids” sind, so das Stadtmagazin Zitty, Heim- bzw. Familien-Trebejugendliche)

    Auch das Joy-Riding wurde weiterentwickelt: zum Airbagging. Hierbei benutzt man geklaute Autos der gehobenen Preisklasse, die man mit Karacho irgendwo gegen eine Betonwand fährt, so daß der Airbag sich aufplustert: Jugend forscht!

    Eine Subvariante dazu nennt sich Double-Airbagging. Dabei lädt man seine “Schnalle”, manchmal auch “Torte” genannt, ein, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Dann dreht man – laut Auto, Motor und Sport – das Radio oder den Kassettenrecorder “voll uff, wa!” Und denn knallt man volle Pulle gegen die Mauer, beobachtet dabei die Freundin aber genau. Wenn das Auto mit zwei Airbags ausgerüstet war: “Na, dann hat man eben echt Glück gehabt!” Und was sagt die Schnalle dazu? “Ick hab mir nix anmerken lassen, der traut sich doch sowieso nich, schneller als vierzig zu fahren!” Ihr Freund verteidigt sich matt: “Ick üb doch ooch noch!”

    Und wie das so ist bei neuen “Irrsinnstrends” (Spiegel Nr. 29): Schon gibt es ein buntes Fanzine aus Hohenschönhausen namens Airbagging Today. Zusammengestellt wird das Info “über den richtigen Gebrauch von Luxuslimousinen” (“mit den jeweils neuesten Luftsack-Testergebnissen”) von Zaggi und Kurt. Wobei Zaggi für das Layout und die Autorenpflege zuständig ist und Kurt für das, was man die “großen Zusammenhänge” nennt. In der Nr.4 (“die drei haben wir allerdings übersprungen”) findet sich dazu bereits ein “Sommerloch-Text”, der einem nahelegt, das Airbagging als die proletarische Ost-Variante zum ideologieaufgeladenen Car-Banging der West-“Klasse gegen Klasse” bzw. der Kreuzberger “Volxsport”- Gruppe zu begreifen. Und warum auch nicht? Im neuesten Heft findet sich darüberhinaus ein Beitrag von Rolf über das “Dooring”: Dieser Sport besteht darin, einen Radfahrer, der sich im Stau an einem vorbeischleichen will, abrupt durch Öffnen der Tür (door) zu stoppen. Autofahrer (im Stau) kann so etwas glücklich machen.

  • Das ganz persönliche Glück:

    Dickes Lob von der ansonsten doch eher zu Skepsis neigenden Dorothee: “Du hast ja wirklich Ahnung von Wirtschaft!” Wir hatten den vom Lichtenberger Bezirksamt veranstalteten “Tag der offenen Tür” für Existenzgründer – im Kulturhaus Karlshorst, vis-à-vis des sowjetischen Offizierskasinos – besucht und dort auf einem Zettel per Ankreuzen geraten, wieviel Jungunternehmer es bereits im Bezirk gibt (3.000, 5.000 oder 7.000?).

    Ich hatte mich für die mittlere Zahl entschieden, den Zettel in eine Urne geworfen und deswegen dann eine Woche später einen Anruf von der für die Wirtschaftsberatung im Bezirk zuständigen Frau Gadau bekommen: “Glückwunsch, Sie haben einen Schinken gewonnen!” Abzuholen in der Magdalenenstraße 1, Zimmer 106.

    Als ich ein paar Tage später dort vorbeikomme, ist gerade Mittagspause. Die Pförtnerin, Frau Pietzsch, gibt mir den Rat, “solange” das weitläufige ehemalige Stasi-Gelände zu besichtigen. In der “Forschungs- und Gedenkstätte” wimmelt es wie üblich von tumben Ami-Touristen, die immer wieder gern dem “Bösen” in seine erloschenen Augen schauen – hier den zwei Bronzeplastiken von Marx und Dscherschinsky: “Die beiden großen Vorbilder des MfS”.

    Gegenüber dem Foyer der Firma Horch & Guck residiert jetzt die westdeutsche Möbelfirma Kusch & Co, und links nebendran sitzen die Sesselfurzer von Gauck & Co. Rechts nebendran haust das Arbeitsamt VI, wo bärtige Sachbearbeiter leichtbekleideten Thailänderinnen die Aufenthaltsgenehmigung mit Stempel & Co verlängern. Die Kneipe inmitten dieses Horrorensembles heißt “Feldherrenhügel” – ohne Scheiß!

    Ich habe das große Glück, einer Thailänderin mit Silikonbrüsten, die in Baden-Baden anschaffen geht, wie sie mir später erzählt, aus dem steckengebliebenen Aufzug helfen zu können, indem ich mit brachialer Gewalt einfach die Türen aufdrücke und ihr galant zur Freiheit hochhelfe. Dafür lädt sie mich auf den “Feldherrenhügel” zu einem “Drink” ein, das Ding hat jedoch geschlossen. Ich verspreche ihr, sie im “Club Chérie” zu besuchen, wenn ich mal zufällig in Baden-Baden bin.

    Zurück zum Bezirksamt: Vor dem Hochbauamt diskutieren vier ratlose Bauherren an zwei BMWs, einen Porsche und einen Mercedes gelehnt: “Ich habe am 3. in Zehlendorf meine Anträge reingereicht und am 29. Bescheid bekommen”. “Das nützt uns jetzt gar nichts.” “Ich sag’s ja bloß.” “Was machen wir nun?” “Gehen wir erst mal was essen!” “Kennt sich einer hier in der Gegend aus?” Das wird bestimmt wieder ein Investment-Flop.

    Frau Gadau von Zimmer 106 hat Urlaub, aber Frau Lüth springt für sie ein und holt mir den Schinken aus dem Kühlschrank der Kaffeeküche. “Eigentlich bin ich nicht zuständig.” Trotzdem kann sie mir verraten, daß die Existenzgründermesse mit Show- Einlage – es tanzte ein Kinderballett – ein großer Erfolg war, wenn man von den Rückmeldungen der zufriedenen Beteiligten ausgeht.

    Auch die Ballettschule, von Frau Frost war im übrigen eine Existenzgründung. Dazu gab es noch ein Seminar “Das Betriebskonzept – Kernstück der Existenzgründung”. Es wurde von einem Professor der FHTW und von Frau Dr. Haupt von der Wirtschaftsforschungs GmbH organisiert, die gelegentlich auch Standortanalysen für das Wirtschaftsamt des Bezirks macht. Zum Jahresende wird es im Karlshorster Kulturhaus noch eine “Handwerker-Kirmes” geben, sonst ist erst mal nichts weiter geplant.

    Frau Gadau, Frau Lüth, Frau Pietzsch, Frau Frost, Frau Dr. Haupt, Frau Noy Tschitagonk (aus dem Fahrstuhl) – was für interessante und dazu, soweit ich das beurteilen konnte, gutaussehende Existenzen diese ehemalige Stasi-Hochburg doch heute neu begründet! Hoch zufrieden ziehe ich mit meinem eiskalten Schinken in der Mittagshitze von dannen.

  • Glück und schußsicheres Glas:

    Die meisten Menschen glauben nicht mehr an das große Glück – und verfolgen deswegen nur noch das kleine. Odo Marquardt nennt es das “Vize- Glück”. Wobei den Betroffenen diese Unterscheidung nicht klar sein muß. Hilmar Kopper meinte deswegen, er hätte die Summe der Handwerker-Entschädigungen nach der Schneider-Pleite besser “Coconuts” statt “Peanuts” nennen sollen. Bei anderen großen Immobilienpleiten hatten die kleinen Handwerker vielleicht wirklich nicht so viel Glück! Die Glücksforschung steht jedoch erst am Anfang.

    Sie ist unter anderem ein Abfallprodukt der Erdgas-Exploration, die wiederum selbst zur Glückssuche – der Mineralöl- Konzerne nämlich – gehört, wenn man Professor Kenneth Hsü (von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich) folgt: “Unsere Untersuchungen der Ergebnisse am Ende des Mesozoikums, anhand von Bohrkernen aus dem Südatlantik, haben zu einer neuen Einschätzung der Entwicklungsmechanismen geführt. Im Gegensatz zu Charles Darwin, der das Aussterben der Arten als eine Folge des Bevölkerungsdrucks oder eines verlorenen Kampfes ums Dasein erklärte, stellen wir es uns als eine Reaktion auf ungewöhnliche Ereignisse vor. Nicht der Stärkste überlebt, sondern der, der am meisten Glück hat.”

    Es gibt jedoch mehrere Glücke: Der Philosoph Wilhelm Schmid unterscheidet das Beatitudo- und das Fortuna-Glück. Ersteres ist die vorausschauende Sorge, um “sorgloser Besitzer seiner selbst” und damit der eigentlich Glücklichste zu werden. Letzteres ist das von äußeren Zufällen abhängige Glück. Der wahre Glückliche wäre nach Seneca derjenige, der das Glück nicht nötig hat. Heute bedeute Glück jedoch “Genuß und diesseitige paradiesische Lust. Agitation zum Glück, das könnte die Beschreibung dessen sein, was der Kapitalismus betreibt” (W. Schmid).

    Von Michel Foucault stammt das trotzige Diktum: “Das Glück existiert nicht!” In seinen letzten Jahren verfolgte er jedoch noch einmal den Glücksfaden der Sorge bis in die klassischen Anfänge der Selbsttechniken zurück. Eine gegenteilige Anstrengung unternehmen junge Mittelschichtler in Amerika und Asien – um nicht nur Opfer der Globalisierung zu sein, sondern auch einmal Nutznießer: Sie spekulieren immer heftiger mit Aktien. Hier begann dieser “Megatrend” vielleicht mit dem Rummel um die Telekom-Aktie. Zugleich entstehen dieser Tage hier auch schon die ersten Reichen-Ghettos: mit Rundum-Videoüberwachung, Personen-Kontrollen und ausgeklügelter Sicherheits-Technik – ebenfalls eine (logische) Folge extremen individuellen Glücksstrebens.

    Eine extrem kollektive Form entwickelte sich am anderen Ende der Welt – aus “amerikanischer Sachlichkeit und russischem revolutionären Schwung”, wie Stalin das ausdrückte. Seinen reinsten und zugleich ironischsten Ausdruck produzierte das Sowjet-Glück in den Werken des Sohnes eines Lokomotivschlossers aus Woronesh, der – Ironie der Geschichte – “Platonow” hieß.

    In den jetzt nach und nach auch auf Deutsch (bei Volk und Welt) erscheinenden Geschichten von Andrej Platonow geht es oft um Lokomotiven und immer ums Glück. Eine – als Ariadnefaden einer utopischen Sowjetschönen – heißt: “Die glückliche Moskwa”, eine andere: “Glück ist die Nähe eines Menschen”. Über das “felsenfeste Zukunftsglück” und den “Wettbewerb um höchste Lebensbejahung” (“Aus lauter Rückständigkeit wurde mir ein bißchen schwer ums Herz”) schrieb Platonow: “Um das Leben zu verändern und in eine glückliche Zukunft umzuwandeln, muß man schon zu Beginn des Kampfes diese Zukunft in sich tragen, wenigstens in verborgenem Zustand, als Keim, als ein Element des persönlichen Charakters.”

    Mit seiner berühmten Erzählung “Die Baugrube” hatte das Berliner Ensemble neulich jedoch kein Glück: Die Inszenierung mußte nach vier Vorstellungen mangels Zuschauer abgesetzt werden, obwohl dem Ensemble gerade “die Baugrube” von besonders aktueller Relevanz dünkte. Dies war jedoch trotz oder gerade wegen der vielen Russen auf den Berliner Baustellen nicht der Fall.

  • Russisch Glück:

    Es wurde alles immer schlimmer” – so beginnt der Erstlingsfilm des 1960 geborenen Pjotr Luzik. Es geht darin um den Rachefeldzug einer kleinen Gruppe von Dorfbewohnern, die man im Zuge der Privatisierung enteignet hatte. Bevor sie sich wieder glücklich auf ihre Traktoren schwingen und ihr Land bewirtschaften können, müssen sie noch einmal die ganze grausame Geschichte durchspielen.

    Und die handelt von den früheren Bauernaufständen eines Stepan Rasin über alle Bürgerkriegs-Greuel bis zum Verhandlungsbluff ausgeschlafener Kolchosbauern. Puschkin-Gedichte, alte Zeltlagerlieder, die Erinnerung an die Weißen, die Faschisten – aber das Glück immer stur im Visier! Das Glück.

    Und so fing alles an: Ölbohrer kommen ins Ural-Dorf Romanowsky. Die Dörfer rebellieren, müssen sich aber fügen. Man zeigt ihnen eine Urkunde mit vier Siegeln: die 14.000 Hektar ihrer ehemaligen Kolchose “Heimat” hatte man erst in kleine Grundstücke aufgeteilt und dann verkauft – an wen, wußte niemand. Aber so waren Ungerechtigkeit und Absurditäten in ihr Dorf gelangt. Immer mehr junge Leute verdingten sich in der Stadt.

    Ein paar Alte machen sich schließlich mit Folter und Mord auf die Suche nach der Wahrheit, die sie bis in die hauptstädtische Firmenzentrale eines Ölkonzerns (Lukoil?) führt. Als erstes ist der ehemalige Kolchosvorsitzende dran. Schließlich gesteht er: Mit Essen und Trinken, zwei alten Traktoren und einem Privatmotorrad hatten drei windige Geschäftsleute und ein gestandener Parteifunktionär ihn dazu gekriegt, das Land zu verkaufen. Nach seinem Geständnis schließt er sich der Veteranenbrigade an. Ein schwindsüchtiger Junge, den sie mitnehmen, reift dabei zum Mann.

    Während es bei dem örtlichen Businessman ausreicht, ihm die Rippen zu brechen, müssen der Parteifunktionär und der Öl-Boß dran glauben. Anschließend nehmen sie die Sekretärin des letzteren auf dem Motorrad mit zurück ins Dorf, wo sie voraussichtlich Kolchos-Buchhalterin oder Agronomin wird. Wir haben es hierbei mit einer “strengen, fast absurden Fabel” – vom schier ewigen Gegensatz zwischen Stadt und Land, Lohnarbeit und Kapital, “Maschinen und Wölfe” (Boris Pilnjak) – zu tun.

    Der Filmkritiker Igor Manzow schreibt über Luziks “Okraina”: “Man kann sich nicht mehr erinnern, wann zuletzt dem Menschen soviel Ehre in russischen Filmen erwiesen wurde.”

    Und ein amerikanischer Rezensent meinte begeisternd: “Fraglos eines der zwingendsten Rußland- Features der letzten Jahre.”

  • Noch mal zum Thema “Glück – wer ständig strebend sich bemüht”:

    Neulich saß ich im neuen Stadtteil der Springerstiefelpresse, das gleich neben der taz beginnt, im dortigen “Presse-Café” – und lauschte den Gesprächen. Da kam Egon rübergehuscht, der für gewöhnlich sitzt er dort in einem Café am Checkpoint Charly sitzt: Aber “ich wollte mich mal verändern”, wie er sagte.

    Egon ist ein Glücksspieler – aus Teltow, von dort hat ihn der Bauspekulant Roland Ernst quasi vertrieben – durch maßlose Baumaßnahmen. Seitdem spekuliert jedoch auch Egon auf einen gehörigen Gewinn in pekuniärer Hinsicht. Und das permanent. Einige Teltower, die ihn schon länger kennen, meinen jedoch, dass er schon immer so war.

    Fakt ist, dass die nächtlichen Autorennen, die heute überall in der DDR von jungen Leuten veranstaltet werden, in Teltow begannen – und dass Egon sie initiiert hat, indem er nämlich ständig mit den Jungs abends an der BP-Tankstelle rumhing, wo er gelegentlich auch aushalf, nachdem das Reglerwerk ihn als Fahrer entlassen – und er seine Abfindung verwettet hatte. Irgendwann konnte er die Tankstellen-Gang zu einer Wette überreden: Es ging darum, welcher ihrer Wagen der schnellste war.

    Aber meistens sind seine Wetten nicht derart spektakulär, sondern eher so: “Hat dieser 10-Mark-Schein eine gerade oder eine ungerade Endzahl? – Ich wette mir dir um 10 Mark!”

    Jedes Gespräch kann Egon binnen kurzem auf eine Wette hin zuspitzen: “Was, du brauchst von hier mit dem Auto zwanzig Minuten bis zur Knucks-Lichtplastik auf der Oberbaumbrücke, ich wette 20 Mark, dass ich es mit dem Fahrrad in 15 Minuten schaffe!” oder “Wetten, dass ,Ich weiß nicht, was soll es bedeuten’ nicht von Heinrich Heine stammt!”

    Diese Wette hat er übrigens verloren.

    Peinlich wurde es, als er mal auf eine vorübergehende Frau zeigte und sagte: “Wetten, dass sie Silikontitten hat!” In einem Anfall von Leichtsinn sagte ich: “50 Mark dagegen!”

    Woraufhin Egon doch tatsächlich zu der Frau hinging und – noch peinlicher – zu ihr sagte: Ich hätte mit ihm gewettet, dass ihr Busen aus Silikon sei, was aber doch wohl nicht stimmen würde.

    Selten hat mich eine Frau so verachtungsvoll angekuckt. Und dann verlor ich auch noch die Wette, denn sie meinte, ihr Busen wäre tatsächlich “blown-up”. Zu Egon war sie merkwürdigerweise die ganze Zeit freundlich.

    Als er jetzt wieder ins Presse-Café kam, sagte er, nachdem er sich ein Bier bestellt hatte, als erstes: “Der neue Kellner ist schwul – wetten!” Das hörte der Kellner, kam zurück an den Tisch und meinte: “Da wirst du hier niemanden mehr finden, der dagegen wettet!”

    Egon erwiderte nur ungerührt: “Verrat doch nicht alles – nu ist die Wette geplatzt!”, und wandte sich dann mir zu: “Was gibt’s Neues?” Ich sagte: Gib mir eine Chance, meine 50 Mark vom letzten Monat wieder zurückzugewinnen, aber ohne Peinlichkeit. “Das ist schwer”, meinte er.

    Dann redeten wir über dit und dat, aber ihm fiel zu nichts eine ordentliche Wette ein. Schließlich schlug ich ihm eine Reihe von 5-Mark-Wetten vor – und er ging auch sofort darauf ein: Schräg über uns hing ein Fernseher, auf dem permanent Eurosport zu sehen ist, in dem Moment lief gerade ein Leichtathletikwettkampf: Damenhochsprung.

    Bei der Wette kam es nun darauf an, ob die jeweilige Springerin es schaffte oder nicht. Am Ende der Übertragung hatte ich von elf Hochsprüngen drei richtig vorausgeraten – also 40 Mark verloren.

    Als ich wenig später gehen wollte, meinte Egon zum Abschied: “Wetten, du schreibst was da drüber!” Mithin habe ich auch jetzt schon wieder gegen ihn verloren – in Abwesenheit.

  • Der Kampf ums Glück geht unterdes weiter:

    Das Kraftwerk Zschornewitz nahe des Braunkohletagebaus Golpa-Nord bei Bitterfeld war lange Zeit das größte Kraftwerk der Welt: Grökaw. Die Kraftwerker wohnten in einer Hufeisensiedlung direkt drumherum. 80 Jahre nach seinem Bau – 1993 – wurde das Werk in ihrer Mitte weggesprengt: es war zu unrentabel und unökologisch geworden: “marode”, wie man im Spiegel sagt. Die arbeitslos gewordenen Kraftwerker filmten die letzten Minuten ihres Werkes mit Videokameras.

    Zu DDR-Zeiten hatten etliche von ihnen in einem 8mm- und Super-8-Filmzirkel gearbeitet. Auch damals hatten sie schon bestimmte Aspekte ihres Arbeitslebens gefilmt, vorwiegend jedoch Aspekte ihrer Freizeit.

    Als nun vor ein paar Jahren zwei glatzköpfige junge Filmemacher aus Babelsberg – Stefan Kolbe und Chris Wright – bei ihnen anrückten, drückten sie diesen ihr ganzes geschnittenes Material in die Hände (über einhundert Stunden), dazu noch eine Menge Texte des im VEB Zschornewitz ebenfalls sehr aktiv gewesenen Zirkels schreibender Arbeiter. Die beiden Filmemacher waren darüber so gerührt, dass sie ihr eigenes Filmen völlig vergaßen und stattdessen ihre Abschlussarbeit aus den überlassenen Materialien zusammenstellten.

    Das Ganze nannten sie dann – nach einem Vorschlag ihres Filmberaters Martin Otting – “Technik des Glücks”. Die Arbeiter waren zufrieden mit dem Ergebnis und wir, die wir den Film dann im Babylon sahen, begeistert. Das komplette Material wird übrigens mit Geldern des Landes Sachsen-Anhalt auf DVD gebrannt.

    Sein Titel “Technik des Glücks” geht auf Franz Jung zurück: Es ist seine Aufstandanleitung in vier Übungen, die – ausgehend von der Erkenntnis der eigenen Lage – erst mal der Bekämpfung der Lebensangst dienen. Im Film geht es jedoch nicht um die Organisierung des Widerstands gegen die Treuhand, die hier die Arbeitsplätze mit Dynamit vernichtete, sondern um “Den Blick des kleinen Mannes auf sein Glück”, wobei mit Technik hier wohl deren Schmalfilm- und Videoausrüstung gemeint ist.

    Ähnlich verwirrend war es zuvor bereits auf einer Kirchentags-Großveranstaltung zugegangen: Auf der Bühne wurde die weltberühmte Pornografin Catherine Millet vorgestellt, die gerade ein neues Buch – über Zwerge als die größten Stecher – veröffentlichte. Sie diskutierte mit zwei Theologen über den “Kampf ums Glück”. Dazu las man ein Kapitel aus ihrem ersten Buch “Das sexuelle Leben der Catherine M.” vor: “Jacques’ Eier klatschten gegen meinen Arsch … Nachdem er in mir abgespritzt hatte, zuckte er noch drei Mal …” usw. Donnernder Applaus des Publikums im Messe-Sommergarten. Der evangelische Theologe setzte später noch ein Kapitelchen von einem männlichen Pornografen drauf, in dem dieser den dicken Zellulitis-Hintern seiner Geliebten über alle Maßen pries. Noch mehr Applaus!

    Zur großen “Kampf ums Glück”-Debatte gehörten auch drei Sportler. Ein Basketballer von Alba meinte: “Das Glück ist der Sieg, aber es ist sehr kurz, am nächsten Tag kämpft man schon wieder für die nächste Meisterschaft.” Für einen sich selbst über Sponsoren vermarktenden Profi-“Treppensteiger” bestand das Glück darin, ganz oben in den Hochhäusern anzukommen “und einen Blick über Manhattan” zu werfen. Auch ein Bergsteiger sprach dann vom puren “Gipfelglück”. Seiner Meinung nach setze es sich aus “Leistung plus Umstände, Wetter z. B., und Risikoprickeln” zusammen, wobei es schon einen Unterschied mache, “ob man einen 4.000er oder einen 6.000er besteigt”.

    Für Catherine Millet bestand jedoch gerade darin – ob sie sich nun von 4.000 oder von 6.000 Männern “stopfen” lasse – nicht das Glück, das ihrer Meinung nach nichts mit Höhepunkten oder sexueller Befreiung zu tun habe: “Ich wollte dieser Utopie meine reale Sexualität gegenüberstellen, im Übrigen suche ich nicht das Glück, sondern das Vergnügen. Und da hatte ich es, sehr liberal-katholisch erzogen, möglicherweise leichter als andere: Ich bin schon ohne Tabus auf die Welt gekommen!”

    Der evangelische Pfarrer war ein begeisterter Millet-Leser, weil sie die christlich aufgeladene Sexualität “entstresst” habe. Als “Entstressungstheoretiker” ging er so weit, dass er am Ende gar ein Loblied auf den “langweiligen Liebhaber” sang. Die katholische Theologin gab dem gegenüber der Pariser Pornografin Kontra: 1. seien ihre Schilderungen ein “alter Hut”, weil Millet es stets vorziehe, “passiv von den Männern genommen zu werden”. Dabei gehe es heute eher um eine “Entwicklung bzw. Kultivierung des weiblichen Begehrens”. 2. waren ihr die Schilderungen zu oberflächlich, denn die “Authentizität ist ja auch bereits normiert”. Und 3. sei Millets Aufspaltung “in Körper und Seele”, wobei sie sich auch noch auf den Katholizismus berufe (“ich identifiziere mich nicht mit meinem Körper, der nur eine Hülle ist”), theologisch kaum mehr haltbar – wenn nicht sogar falsch.

    Der evangelische Theologe pflichtete ihr bei und wollte ebenfalls beim Ficken nicht gern geistig außen vor bleiben, meinte jedoch gegenüber der Katholin noch einmal betonen zu müssen: “Das Leiden sollte man nicht zu hoch hängen. Glück hat etwas mit Seelenfrieden und nicht so viel mit Euphorie zu tun.” Die Pornografin sah das ähnlich: “Der körperliche Kontakt war für mich bloß der einfachste Zugang zu den Anderen.” Die Katholin bestand aber darauf, dass dieser “Kontakt” ein “Mysterium” sei. Dazu assoziierte der Evangele sogleich: “Ekstase, Religion, Nähe”. Für Millet bedeutete Nähe aber nur “Vertrauen – auch und gerade in kurzen Begegnungen, in denen man vielleicht sogar freier ist”. Bei dieser Kirchentags-Großveranstaltung kam das kollektive Glück nur noch in der “Mannschaft” bzw. im “Gruppensex” und die Gesellschaft (le social) als “Gangbang” vor.

    Etwas anders war es dann bei der letzte Love Parade gelagert, wo es die breite Masse wieder mal brachte, wenn man der Springerstiefelpresse glauben darf.

  • Das oben ist die eine Seite – die andere sind die Staatslotterien der Länder, die zunehmend Oberwasser bekommen – durch immer mehr Spieler und gegen die privaten Glücksspielanbieter gerichtete Gerichtsurteile. Wer gedacht hat, dass der Saat ehrlicher spielt als die Privatunternehmer irrt jedoch: Das Gegenteil ist der Fall – wahrscheinlich werden jede Woche zwei mal Millionen von Spieler betrogen – und zwar durch die Scanner in den Lottoannahmestellen, die die Nummern auf den Spielscheinen nicht richtig erfassen und an die Lottozentrale falsche Nummern weitergeben.

    Dazu hier ein geradezu grotesker Fall (nebst etliche weitere ihn flankierende):

    Von den Klassenlotterien selber wird geschätzt, dass Fehler im Promillebereich auftauchen. “Aber wenn Sie Millionen von Tippern haben, dann können Sie sich das leicht ausrechnen: Eine Million durch Tausend ergibt Tausend, dass also jede Tausendste Spielequittung falsch sein dürfte”.(RA Lüko Becker)

    Der Kreuzberger Elektronikhelfer Günter Ernst spielte 36 Jahre lang jeden Samstag Lotto – ohne jemals eine größere Summe zu gewinnen. Aber dann hatte er Glück: Er heiratete am 7.11. 1995 die Philosophiedozentin der Moskauer Ingenieur-Militärflugzeugakademie von Shukowski Tamara Melnichuk.

    Sie schrieb sich zuerst ein Jahr lang alle Gewinnzahlen der Mittwochs- und Samstagsziehungen auf, dann errechnete sie sich daraus mit Hilfe einiger Formeln eine Reihe von Glückszahlen für die Mittwochsziehungen. Am 12. August 2003 gab sie, wie auch schon zuvor, ihren Lottoschein mit drei ausgefüllten Feldern (für 2 Euro 45) bei der Lottoannahmestelle von Mustafa Demirkiran in der Oranienstrasse 30 ab. Der Lottocomputer dort funktionierte nicht richtig, er scannte ihre Schein erst beim vierten Versuch ein. Am nächsten Tag schaute Tamara Ernst sich die Ziehung zu Hause im Fernsehen an.

    Plötzlich schrie sie: “Ich habe gewonnen, ich habe gewonnen!” Ihr Spielschein zeigte 6 Richtige aus 49. Die Spielquittung zeigte dann jedoch ganz andere Zahlen, obwohl die Losnummer mit der auf dem Lottoschein identisch war. Aufgeregt rief die Gewinnerin am nächsten Tag die Deutsche Klassenlotterie Berlin (DKLB) in der Brandenburgischen Straße an. Die Frau in der Telefonzentrale sagte ihr: “Bei zwei oder drei Zahlen kann das sein, aber nicht bei sechs.” “Ich habe aber sechs Richtige auf meinem Schein,” erwiderte Frau Ernst. Das tue nichts zur Sache, meinte die Lottofee, “entscheidend ist die Spielquittung”.

    Tamara Ernst rief daraufhin ihre Rechtsschutzversicherung an. Der dortige Anwalt riet ihr: Gehen Sie zur Annahmestelle und zur DKLB – und klären Sie das. Der Besitzer der Lottoannahmestelle, den sie am 14.8. aufsuchte, sagte ihr: “Ich kann leider nichts machen, die DKLB hat mir den Computer abgeholt, bereits am 12.8. kurz nach Annahmeschluß.” Wie Frau Ernst später vom technischen Leiter der DKLB, Herr Trabalski, erfuhr, bekam er erst zwei Wochen später einen neuen Terminal – und das nicht auf seinen Namen, sondern auf den der Tochter seiner Aushilfskraft. Er hätte ein eigenes Programm in den Lotto-Computer installiert, deswegen sei ihm fristlos gekündigt und der Terminal zur Werkstatt geschickt worden, erklärte Herr Trabalski. Der plötzlich abgeholte Terminal in der Lottoannahmestelle hatte Frau Ernst so mißtrauisch gemacht, dass sie am 14.8. die Polizei rief und mit den Beamten zur Annahmestelle ging. Diese unternahmen dort jedoch nichts, sondern rieten ihr nur, zur DKLB zu gehen: “Wir drücken Ihnen die Daumen!”

    Tamara Ernst telefonierte daraufhin erst einmal mit der BZ und bat die Redaktion um Rat. Eine Reporterin bekundete Interesse an ihrem Lotto-Problem und schickte ihr am 15.8. einen Fotografen, Andreas Klug, der den Lottoschein und die -quittung fotografierte. Anschließend wollte er auch noch in der Annahmestelle ein Photo machen, aber dort arbeitete gerade die Aushilfskraft, die ihm das nach telefonischer Rücksprache mit dem Besitzer Demirkiran verwehrte. Die BZ wollte daraufhin Frau Ernst auch noch bei der DKLB fotografieren, dazu schickte sie einen anderen Fotografen, Dirk Lessing, mit ihr los. Die beiden gerieten dort zunächst an Herrn Trabalski vom “Technischen Zentrum”, der sich Kopien vom Lottoschein und von der -quittung machte. Dann kam der EDV-Abteilungsleiter Herr Runge dazu. “Wie sieht es aus?” wurde er gefragt. “Sauberer kann es nicht sein,” meinte er, behielt jedoch den Original-Lottoschein ein und gab Frau Ernst dafür eine Quittung. Der BZ-Photograph wollte wissen: “Wie oft haben Sie solche technischen Fehler?” Woraufhin Herr Trabalski ihm antwortete: “Wir kennen solche Leute, mit denen werden wir fertig!” Zu Frau Ernst sagte er nur: “Wir melden uns!” Zwölf Leute hatten bei der Ziehung sechs Richtige gehabt – und je 92.202 Euro 50 bekommen. Tamara Ernst wäre die 13. Gewinnerin gewesen. Die DKLB nannte ihr dann die Summe: 85.110 Euro – also den 13. Teil des Gesamtgewinns.

    Tamara Ernst wandte sich an die Verbraucherzentrale, wo ein Jurist ihr riet: “Klagen Sie!” Ihre Rechtsschutzversicherung meinte jedoch: Im Zusammenhang mit Glücksspielen bieten wir keinen Rechtsschutz. Frau Ernst nahm sich daraufhin einen Anwalt, der nach einer Anzahlung von 467 Euro begann, ihre Klage vorzubereiten. So weit kam es aber nicht. Zunächst rief Tamara Ernst erst einmal wieder bei der DKLB an – bei der juristischen Abteilung diesmal, wo ein Herr Mayer ihr mitteilte, dass der Fall jetzt bei dem Anwalt Heidemann liege, der die DKLB vertrete. Dieser sagte Frau Ernst dann, er hätte den Lottoschein der Staatsanwaltschaft übergeben: “Wenn die den geprüft und nichts zu beanstanden haben, dann bekommen Sie Ihr Geld!”

    In den darauffolgenden Wochen rief Frau Ernst noch mehrmals beim Anwalt Heidemann und auch bei der Staatsanwaltschaft an, jedoch ohne Näheres zu erfahren. Man müsse unbedingt den Terminal der Annahmestelle prüfen, riet sie – ohne Erfolg. Auch ihr Vorschlag, einen unabhängigen Sachverständigen heranzuziehen, wurde abgelehnt. Stattdessen schickte die DKLB Tamara Ernst eine dicke Broschüre mit den Lotto-Spielregeln.

    Am 22.1.2004 klingelte es morgens an der Tür. Günter Ernst öffnete sie. Vor ihm standen zwei Männer, der eine trat vor und schubste Herr Ernst gegen die Wand. “Sie waren in Zivil und sagten, sie wären Polizisten”, berichtet Tamara Ernst, “ich glaubte ihnen aber nicht. Als ich den Ausweis sehen wollte, zeigte der eine auf seine Pistole unter der Jacke. Da habe ich noch mehr Angst gekriegt. Mein Mann war leichenblaß. Er hat einen geklemmten Rückennerv und Osteroporose, also manchmal Schmerzen im Rücken und Gefühllosigkeit in den Füßen. Nach diesem Polizeiüberfall bekam er permanente Rückenschmerzen und seine Sehkraft ließ stetig nach. Nach einem Jahr, am 28.2. 2005, starb er.” Die beiden Polizisten nahmen auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin eine Hausdurchsuchung vor wegen Verdachts auf Betrug. Laut Protokoll sollten sie insbesondere den Originalspielschein suchen. ‘Der ist aber doch bei der Staatsanwaltschaft’, sagte ich. ‘Nein, wir suchen den, der mit den Zahlen auf der Spielquittung identisch ist,’ erwiderten sie. ‘So etwas existiert aber nicht,’ antwortete ich, woraufhin Herr Oys meinte: ‘Das müssen Sie beweisen!'” Die beiden Kripobeamte steckten dann die Original-Spielquittung von Tamara Ernst ein sowie auch zum Vergleich einen Spielschein nebst Quittung von ihrem Mann. Frau Ernst mußte dann noch in einem Protokoll genau aufschreiben, wie sie den Lottoschein ausgefüllt und was sie danach alles unternommen hatte – 12 Seiten brauchte sie dafür.

    Weil die beiden Polizisten sich die ganze Zeit wie Ganoven benommen hatten,, rief Frau Ernst nach ihrem Weggang bei der Polizei an und fragte, ob es bei ihnen einen Kripobeamten namens Oys gäbe. Dies wurde ihr bestätigt.

    Rechtsanwalt Heidemann hatte am 4.9. 2003 im Namen der DKLB Strafanzeige wegen versuchten Betrugs gegen das Ehepaar Ernst und möglicherweise weitere Dritte gestellt. In seinem Schreiben an die Staatsanwaltschaft behauptete er, dass die Zahlen beim Einscannen online in die Zentrale gegeben werden und dass sie dort alles kontrolliert hätten. Ein Fehler beim Einscannen sei ausgeschlossen, zwar könne mal bei der Wiedergabe einer 3 oder 4 ein Fehler auftauchen, aber nicht bei sechs Zahlen zugleich. Den Betrugsvorwurf begründete RA Heidemann damit, dass das Ehepaar wahrscheinlich mit einem “kopierten oder sonstwie gedoppelten Spielschein” operiert hätte. Es müsse also eine Überlistung des Terminals mittels Kopien vorliegen, so daß in dem Fall auch noch Urkundenfälschung hinzukäme.

    Am 2.4. 04 schrieb die Staatsanwältin Baer-Mcllvaney dem Ehepaar Ernst, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Am 22.4. teilte Frau Baer-Mcllvaney ihnen das Aktenzeichen mit – im Ermittlungsverfahren gegen sie wegen Betrugs und Urkundenfälschung. “Ich bin daraufhin zum russischen Konsulat gegangen und habe denen gesagt: ‘Man will mir übel mitspielen!’ Der Attaché Herr Nowikow erwiderte mir, ich hätte in Deutschland ein Recht auf einen Dolmetscher und einen Anwalt, auch und gerade wenn ich kein Geld dafür habe. Das sei zwischen Russland und Deutschland vertraglich geregelt. Dies teilte ich der Staatsanwaltschaft mit, die mir daraufhin schrieb: Auf Staatskosten würde ich keinen Rechtsanwalt bekommen. Ich beschwerte mich darüber schriftlich bei der Generalstaatsanwaltschaft, die wies meine Beschwerde jedoch zurück.

    Am 5. Oktober 2004 bekamen Herr und Frau Ernst einen Strafbefehl – mit Datum vom 26. August – zugeschickt: Sie sollten 150 Tagessätze zu je 30 Euro – insgesamt 4651 Euro 39 – zahlen, außerdem hätten sie die Kosten des Verfahrens zu tragen, dagegen könnten sie jedoch Einspruch erheben. “Wir hatten kein Geld für einen Anwalt, mein Mann brauchte teure Medikamente, deswegen schrieb ich den Einspruch selber – und argumentierte, dass die DKLB ihren Fehler nur vertuschen wolle, außerdem sollten sie meinen Mann dabei aus dem Spiel lassen, er habe damit nichts zu tun. Sowohl Herr Runge als auch Herr Trabalski hätten mir gesagt, dass der Computer aus der Annahmestelle in Reparatur sei. Was wurde dort gemacht? Das müsse sich doch feststellen lassen.”

    Am 3.November 2004 wurde das Ehepaar Ernst zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Tiergarten geladen. Der Richter hatte zwar einen Dolmetscher bestellt, wegen des Pflichtverteidigers wartete er jedoch noch auf einen diesezüglichen Beschluß des Landgerichts. Der Staatsanwalt bedrängte mich, ich solle mich allein der Verhandlung stellen: ‘Wir verurteilen und dann können Sie in Revision gehen’, meinte er, aber ich weigerte mich, ohne Anwalt in das Verfahren zu gehen. Der Richter verweigerte mir einen Übersetzer für die Akteneinsicht, auch mein deutscher Ehemann sollte mir dabei nicht helfen dürfen, ich könnte mir doch mit einem Wörterbuch selbst helfen, meinte er. Als ich sagte, in Russland gäbe man aber deutschen Bürgern immer einen Pflichtverteidiger und einen Dolmetscher, da haben sie alle laut gelacht – der Staatsanwalt Herr Dimter, der Richter Rische und die Dolmetscherin. Als Zeuge hatten sie übrigens nicht den Lottoannahmestellenbesitzer Herr Demirkiran geladen, sondern seine Aushilfskraft, der von nichts wußte und bloß den BZ-Fotografen abgewimmelt hatte. Auch das bedrückte mich. Als der Zeuge zusammen mit Herrn Runge von der DKLB und dem Rechtsanwalt Heidemann im Gerichtssaal erschien, sagte ich zu Herrn Runge, der mich so enttäuscht hatte, weil er erst sehr freundlich gewesen war, ein russisches Sprichwort – im Sinne von “Immer ehrlich bleiben”. Der Richter ließ daraufhin sofort protokollieren, dass ich den Zeugen Runge als Lügner beschimpft hätte und dass er zum nächsten Verhandlungstermin ein bißchen Stroh mitbringen solle. Rechtsanwalt Heidemann stellte daraufhin Strafanzeige wegen Beleidigung.” Am 1.4. 2005 teilte das Landgericht Tamara Ernst mit, dass sie keinen Pflichtverteidiger bekomme, weil “die Sach- und Rechtslage objektiv nicht kompliziert” sei. Dem widersprach jedoch schon allein ein “Untersuchungsbericht” des Diplomingenieurs für Drucktechnik Herrn Ewert, den dieser im Auftrag der Staatsanwaltschaft und mit Hilfe eines Stereomikroskops sowie des Dokumenten-Prüfsystems Kappa erstellt hatte. Darin heißt es, “dass es sich bei den Lottoscheinen und den Spielquittungen um authentische Exemplare handelt, die nicht manipuliert worden sind.” ”

    Am 25. Mai schrieb ihr das Amtsgericht, dass am 23. August 2005 erst einmal die Klage der DKLB gegen sie wegen Beleidigung verhandelt werde. Frau Ernst nahm sich daraufhin einen Anwalt in ihrer Nachbarschaft: Lüko Becker, der als erstes Akteneinsicht verlangte. Seine eigenen Recherchen zum Vorwurf des Betrugs und der Urkundenfälschung gegenüber seiner Mandantin ergaben dann, dass es seit 1996, d.h. seit Einführung des Online-Verfahrens für das Zahlenlotto 6 aus 49, immer wieder zu Fehlern in den Annahmestellen beim Einscannen der Lottozahlen kommt. Die Lottogesellschaften tauschen sich darüber auch aus, verschweigen diese “Pannen” jedoch nach außen – und verklagen stattdessen die Betroffenen lieber wegen Betrugs und Urkundenfälschung! Dokumentiert wurden diese Fälle im Einzelnen:

    Am 4.2. 96 von der Welt am Sonntag – dabei ging es gleich um mehrere Fälle in Hessen. Am 5.2.96 von der Bild-Zeitung – dabei ging es um ein Ehepaar aus Kassel, das sechs Richtige hatte, aber der Lotto-Online-Computer las die Zahlen falsch ab. Am 16.2.96 von der Stuttgarter Zeitung, die über einen Spieler aus Baunatal mit sechs Richtigen berichtete. Hierzu ergänzten am 2.5.96 das Hamburger Abendblatt und die Stuttgarter Zeitung, dass das Wiesbadener Landgericht seine Klage abgewiesen hätte. Am 9.10. 97 machte die Neue Revue das “Sicherheits-Risiko” bei dem in den Lottoterminals verwendeten “Thermopapier” aus, mit dem die Scheine “viel zu leicht ungültig werden”. Zwischen dem 23.3 und dem 1.4. 2004 berichteten der Kölner Express, die Kölnische Rundschau und der Stern, erstere sogar mehrmals hintereinander, über das “Lotto-Pech” des Ehepaars Broich aus Brühl, das sechs Richtige getippt hatte, auf deren Quittung jedoch ebenfalls andere Zahlen standen. Ihr Rechtsanwalt Markus Bollig meinte, “Die Rechtslage ist ungeklärt”. Bei “West-Lotto” häuften sich dann derartige Fälle. Ende 2004 wechselte diese Lottogesellschaft die Computer-Terminals in den Annahmestellen aus: Es stehen dort jetzt welche von Wincor Nixdorf. Ein Sprecher von West-Lotto meinte in einem Interview, die “Fehllesung” beim Ehepaar aus Brühl sei darauf zurück zu führen, dass sie über zwei Jahre lang immer den selben – abgenutzten, wohlmöglich zerknitterten und beschmutzten – Schein benutzt hätten. Dies betrifft aber Tamara Ernst nicht, denn sie füllte jede Woche einen neuen Schein mit neuen Nummern aus! Am 10.4. berichteten der “Stern” und am 11.4. 2005 “Focus” über einen Spieler aus Güglingen bei Heilbronn, der sechs Richtige hatte, seine Quittung wies jedoch “andere Ziffern” auf. Auch dieser Spieler verklagte daraufhin die Lottozentrale Stuttgart. “Shortnews stern” richtete dazu sogleich eine Internet-Diskussionsplattform ein. Zuletzt fand RA Becker auch noch ein kurzes Fernsehfeature des WDR, das sich im März 2004 ebenfalls mit den Einlesefehlern der Terminals in Lottoannahmestellen beschäftigte. Mit diesem Material versehen, sah der Anwalt den kommenden Prozessen von Tamara Ernst halbwegs optimistisch entgegen. Sie klagte jedoch: “Zwei Jahre meines Lebens hat mich diese Geschichte gekostet”. RA Becker fügte hinzu: “Mit Berufungsverfahren und allem können gut und gerne noch mal zwei Jahre dazu kommen. Damit ist Frau Ernst der Auszahlung ihres Lottogewinns aber noch keinen Schritt näher gekommen.”

    Erst einmal wurde vor Gericht ihre Beleidigung verhandelt. Dazu gab es ein Gutachten von Wladimir Kaminer, in dem er sich mit den Hintergründen des ukrainischen Lügensprichworts auseinandersetzte. Der Richter ließ das Schreiben vorlesen – und stellte dann das Verfahren ein.

    Schwieriger wurde es sodann mit dem Hauptprozeß wegen Betrugs: 1. wollte der Richter sich nicht groß mit der Lottogesellschaft anlegen – sondern lieber eine kleine Leidtragende ihrer Machenschaften auf die Schnelle verknacken. 2. konnte er den Anwalt von Frau Ernst Lüko Becker nicht ausstehen.Und 3.trug er einen Goldring im Ohr. Statt seiner sprang jedoch absurderweise die Staatsanwältin für Frau Ernst in die Bresche – wenn auch vorsichtig. Außerdem stellte sich plötzlich noch ein Ehepaar aus Spandau dem Gericht als Zeugen zur Verfügung – bei ihnen hatte der Scanner in der Lottoannahmestelle ebenfalls falsche Nummern aufgenommen. All das machte den Richter dann doch nachdenklich und er ruderte langsam zurück. Im Endeffekt bestellte er dann doch einen “Sachverständigen” für die Scanner und verkündete, den Prozeß noch einmal von vorne beginnen zu wollen – irgendwann 2007.

    Das Berliner “Info-Radio” berichtete über den Fall, wobei es u.a. den Sprecher der Staatsanwaltschaft Michael Grunwald interviewte, der noch einmal den Vorwurf des Staates wiederholte:
    “Der Vorwurf geht dahin, dass sie von dem Schein auf dem man die Kreuze machen muss, eine Farbkopie gemacht hat. Den Originalschein hat sie nicht ausgefüllt. Sie hat die Farbkopie Einlesen lassen von dem Computer der Lottoannahmestelle. Nachdem dann die Ziehung stattgefunden hat, soll die Dame auf dem Original – dem bis dahin nicht ausgefüllten Schein – die Kreuze so gemacht haben, dass sechs Richtige rausgekommen sind. Diesen Schein soll sie als Beleg dafür vorgelegt haben, dass sie die sechs Richtigen angekreuzt hatte und der Computer falsche Zahlen eingelesen hat.”

    Auf das Sachverständigen-Gutachten angesprochen meinte er:
    “Es geht um die Frage, ob denn ein solches Gerät, wie die Lottoannahmestelle sie bereit hält, auf eine Farbkopie reagiert, dass man also als Außenstehender in der Lage ist, dieses Gerät mit einer Farbkopie zu ‘überlisten’.”

    Inzwischen ist es fast drei Jahre her, dass Tamara Ernst im Lotto gewonnen haben will. Statt 85 110 Euro zu bekommen, läuft seitdem das Strafverfahren wegen versuchten Betruges gegen sie. Ihr Mann starb darüber vor Gram, wie sie sagt. Irgendwann wird es den dritten Prozessanlauf vor dem Amtsgericht Tiergarten gegen sie geben. Für ihren Verteidiger Lüko Becker ist bereits heute der Sachverhalt klar:
    “In meinen Augen wird hier versucht, kleine Leute um ihren Gewinn zu bringen, um einen Imageschaden von der Klassenlotterie abzuwenden!”

    Wir reden hier von Milliarden Euro, die sich die Klassenlotterien durch ihr betrügerisches Scannersystem erschleichen. Eine Klassenlotterie in Westdeutschland hat allerdings bereits wegen zu häufiger Fehler beim Einscannen der Lottoscheine die Firma gewechselt, die die Scanner herstellt.

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