vonHelmut Höge 11.11.2008

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Auch das kommende “Darwin-Jahr” gehört noch zur Genossenschafts-Diskussion. Denn es ist mit ein Grund dafür, dass kein Schwein – in den Jobcentern, bei der IHK, bei den Banken und sonstigen Beratungsstellen – einen über Genossenschaften informiert: Alle wollen eher, dass man sich alleine selbständig macht. Aber das muß näher erklärt werden:

Es häufen sich derzeit auf geradezu unanständige Weise die Darwin-Biographien. Und “das darwinistische Denken, insbesondere das Prinzip der ‘Variation und Selektion’ ist heute auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften allgemein verbreitet,” schreibt Jared Diamond in seinem Vorwort zu Ernst Mayrs “Das ist Evolution”, in dem der Autor selbst meint: “Ob wir es uns klarmachen oder nicht: Das gesamte Denken der heutigen Menschen wird vom Evolutionsgedanken zutiefst beeinflußt – man ist sogar versucht zu sagen: bestimmt.” Kürzlich fand in Berlin eine Tagung des Zentrums für Literaturforschung (ZfL) über die “Kultur der Evolution” statt (Näheres dazu später).

Die Mehrzahl der eingeladenen Wissenschaftler stammte aus England bzw. Nordamerika und referierte lichtbildgestützt über den “Darwinismus”. Diese “Power-Point-People” gehörten durchweg zur “Darwin-Industrie”, einer sprach von der “Darwin-Branche”. Bei den Evolutionsbiologen ist überhaupt die Erforschung des Lebens eng mit den Begriffen der Wirtschaftswissenschaften verknüpft. Ständig ist da von “Wettbewerb”, “Konkurrenz”, “Markt” usw. die Rede.Und wie bei den bürgerlichen Zeitungen üblich folgt auf die Wirtschaftsseite auch bei ihnen sofort die Sportseite, d.h. Begriffe wie “Fitness”, “Sprint”, “Training” usw..In einer der Diskussionen wurde ein Aufsatz von Gabriel Finkelstein: “Why Darwin was English” erwähnt.

Darüber hatten auch schon Marx und Engels gewitzelt: Mit seinem “Survival of the Fittest” als grundlegendes Prinzip der Evolution habe Darwin bloß das üble Verhalten der englischen Bourgeoisie auf die gesamte Natur projiziert, meinten sie – und mit ihnen dann auch vor allem russische Wissenschaftler, wie der Biologiehistoriker Torsten Rütting schreibt: “Viele der russischen Intellektuellen verwarfen in Übereinstimmung mit Marx und Engels, aber auch unabhängig von ihnen, die Idee von der Höherentwicklung durch Konkurrenzkampf, die Darwin von dem englischen Nationalökonom Thomas Malthus übernommen hatte”. Malthus glaubte, bewiesen zu haben, dass das rapide Bevölkerungswachstum verbunden mit einem ständig zunehmenden Mangel an Nahrung quasi automatisch eine natürliche Auslese der Besten (der Fittesten) bewirke. Während jedoch Marx und Engels davon ausgingen, dass Darwin Malthus überwunden habe, indem er dessen Gesetz auch in der Tier- und Pflanzenwelt für gültig erklärte, hielt man in Russland das ganze Prinzip der Konkurrenz eher für ein englisches Insel-Phänomen (von Darwin auf den Galapagos-Inseln fundiert), das in den unterbesiedelten russischen Weiten keine Gültigkeit habe. “In dieser Einschätzung war sich noch der revolutionäre Narodnik Michailowski mit dem ultrakonservativen Oberprokuror Pobjedonoszew einig: Beide taten diesen Aspekt des Darwinismus als eine ‘händlerische Faustregel’ ab, die ‘unsere [russische] Seele nicht annehmen’ könne.”

In Russland sah man stattdessen (wieder mit Marx und ebenso unabhängig von ihm) eher das Prinzip der Kooperation am Werk – auch bei Tieren und Pflanzen. 1900 veröffentlichte der Anarchist Fürst Kropotkin dazu sein auf sibirische Expeditionserfahrungen basierendes Werk “Die gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt”. Darin prophezeite er, dass man mit der Entwicklung der Mikroskop-Technik noch weit mehr Kooperationen in der Natur entdecken werde. Und in der Tat entstand, zur selben Zeit bereits, unter russischen Botanikern eine eigenständige Symbioseforschung” – ausgehend von Untersuchungen an Flechten, die nichts anderes sind als eine Alge und ein Pilz, die sich zusammengetan haben, um auch noch an den unwirtlichsten Orten siedeln zu können. Inzwischen wissen wir, dass sich auch unsere Körperzellen mit einem anderen Organismus zusammengetan haben: mit Mitochondrien, die den Sauerstoff in Energie umwandeln. Während die Pflanzenzellen sich mit Chloroplasten verbanden, die ihnen allererst die Photosynthese ermöglichten. Beider “Organellen” werden als “Energiekraftwerke” bezeichnet, die von den pflanzlichen und tierischen Zellen einverleibt wurden, es gibt sie jedoch auch als freilebende Individuen.

Die in diesem Zusammenhang formulierte “Endosymbiontentheorie” wurde derart ausgeweitet, dass viele Forscher heute davon ausgehen: Alle Vielzeller sind aus Bakterien entstanden, die kooperierten, um immer komplexere Organismen zu bilden. Umgekehrt kann man auch sagen – wenn man z.B. von unseren Bakterien namens E.coli in unserem Darm ausgeht bzw. von den Mikroorganismen im Pansen der Kuh, in den Verdauungsorganen der Termiten oder in den Wurzeln der Bäume, dass diese sich die Tiere und Pflanzen bloß geschaffen haben, um immer genügend Nahrung zur Verfügung zu haben. Die meisten Erforscher solcher Symbiosen (von denen nun ständig neue entdeckt werden), wollen damit jedoch nicht darauf hinaus, dass es gar keinen “Kampf ums Dasein” gibt. Sie bleiben brave “Darwinisten”. Mit dem sowjetischen Dichter Ossip Mandelstam sagen sie sich aber vielleicht: “Es ist unmöglich, der Darwinschen Gutmütigkeit zu widerstehen…Doch ist denn die Gutmütigkeit eine Methode schöpferischer Erkenntnis und ein würdiges Verfahren der Wahrnehmung des Lebens?”

Die Begriffe aus Wirtschaft und Sport werden also ständig in der darwinistischen Theoriebildung verwendet – umgekehrt greifen aber auch die Wirtschafts- und Sportwissenschaften zunehmend auf darwinistische Begriffe zurück.Das begann hierzulande spätestens mit der Wende, d.h. mit dem Wirken der unseligen Treuhandanstalt (THA/BfS/BVVG) und eskalierte 2004 in der Open-Air-Party des US-Beratungskonzerns bei Privatisierungen und Filettisierungen “McKinsey”, deretwegen die ganze Gegend zwischen Brandenburger Tor und Berliner Dom polizeilich abgesperrt wurde. Der Politologe Peter Grottian schimpfte: McKinsey sei “in vieler Hinsicht Inspirator und Oberberater der Hartz-Gesetze” gewesen. “Und nun okkupiert diese exklusive und geschlossene Gesellschaft in einer opulenten und völlig überzogenen Weise die Mitte von Berlin.” Der unselige Landesbischof Huber richtete im Dom ein Grußwort an die 1800 McKinsey-Beschäftigten, Peter Grottian drohte: “Wir werden Huber daran erinnern, dass die Kirche an die Seite der Schwachen gehört”.

In den 15 Jahren, die zwischen diesen “Events” lagen, wandelte sich der “Rheinische Kapitalismus” vollends zum “Schweinesystem”. Der Darwinismus gelangte jedoch nicht über das Schwein, sondern über den Wolf in das Wirtschafts- und Sport-Denken. Wenn das Totemtier des “New Age” der Delphin war, dann ist es in der “New Economy” der Wolf.

Bereits auf dem letzten “Bauerntag” der DDR 1990 in Suhl, auf dem der BRD-Bauernpräsident von Heeremann eine Rede hielt, in der er die Auflösung der LPGen empfahl bzw. befahl, wurde vielen LPG-Vorsitzenden sozusagen schlagartig klar – und sie sagten das auch: “Wir müssen jetzt wie die Wölfe werden!” Auf einer Betriebsrätekonferenz in der Kongresshalle am Alexanderplatz seufzte wenig später ein Treuhand-Privatisierungsmanager aus Westfalen treuherzig: “Ich muss unbedingt mal wieder Ostweiber beschlafen …” In der THA/BvS/BVVG arbeiteten im übrigen auffallend viele Manager, die “Wolf” oder “Fuchs” hießen (Wolf Schöde, Günter Wolf, Dr. Fuchs und so weiter), während auf der anderen Seite merkwürdig viele Betriebsräte Gottlieb und Lammfromm, einer sogar Feige hießen. Ein Fall von Namensmagie im ausklingenden 20. Jahrhundert?!

Einer der THA-Manager, Wolf Klinz, auch Dr. Wolf genannt, wurde später Geschäftsführer einer “Management KG”, die er als Leiter der Treuhand-Abteilung Elektrobetriebe 1994 mitgründen half, um darin unverkäufliche Ost-Betriebe zusammenzufassen und somit zu quasi-privatisieren. Das hat er dann also auch mit sich selbst gemacht. Außerdem war da noch der Vorständler “Wolf von BASF”: Er hat anscheinend dichtgehalten – beim Bischofferöder Kali-Deal. Das ging zuletzt aus den geheimen Tagebuch-Aufzeichnungen des Treuhand-Vorständlers Klaus Schucht hervor: “Wie gut, dass man sich auf solche Leute wie Wolf verlassen kann.”

In Westdeutschland brachen sechs Wölfe aus einem Tierpark in Simmern im Hunsrück aus. Vier wurden sofort zur Strecke gebracht. Eine Tierschützer-Gruppe stellte daraufhin Strafanzeige wegen “Wolfstötung”. “Werden die Jäger jetzt zu Gejagten?”, fragte die Lokalzeitung entsetzt. Weil die Bevölkerung den Standort der Wölfe sofort der Polizei melden sollte, sprachen die Tierschützer – unter www.tierrechte.de – von einem “Aufruf zum Denunziantentum”.

“Die Weisheit der Wölfe – Wolfsstrategien für Geschäftserfolg, Familie und persönliche Entwicklung,” so hieß dann ein internationaler Bestseller des Managementberaters Twyman L. Towery. “Heute ist auf der ganzen Welt ein wieder auflebendes Interesse an Wölfen zu beobachten,” heißt es darin. “Die Sozialordnung des Wolfs ist hoch entwickelt… Das Alphamännchen ist buchstäblich der Rudelführer … Wölfe sind wichtig für die Erhaltung einer gesunden, natürlichen Umwelt… Sie fressen die Schwachen, Kranken und Alten anderer Tierpopulationen … Am allermeisten freilich brauchen wir die Wölfe – für die Gesundheit unseres Geistes. Die Einstellung des Wolfs kann man in wenigen Worten zusammenfassen: Sie besteht in einer ständigen Vergegenwärtigung von Erfolg… Das Wolfsrudel ist zwar möglicherweise die effektivste Jagdmaschine der Natur, aber es hat dennoch eine Misserfolgsrate von annähernd neunzig Prozent … Es gibt deswegen im Leben des Wolfs keinen Ersatz für Beharrlichkeit… Das Naturgesetz vom Überleben des Tauglichsten ist in der Welt des Wolfs weiterhin wirksam.”

US-Psychologinnen empfahlen in ihren stets sogleich ins Deutsche übersetzten Büchern den Leserinnen, die “Wolfs-Frau” in sich zu entdecken. “Werdet wie die Wölfinnen!”, riet aber auch die Frauenforscherin Clarissa Pinkola Estes – auf der Webpage zu ihrem Buch “Wolfsfrauen”. Andere Autorinnen verfaßten Ähnliches – z.B. Donna Boyd mit “Das Haus der Wölfe” und “Die Schneewölfin” sowie Virginie Despentes mit “Wölfe fangen” und die “Prix du Suspense”-Preisträgerin Sophie Schallingher mit “Das Schweigen der Wölfin”, aber auch der Modemacher Wolf Joop, der seine Autobiographie “Im Wolfspelz” nannte und der Feenforscher Wolfgang Müller, der in der taz von der “Faszination Wolf: Ein Mythos kehrt zurück” sprach.

In Berlin eröffnete der Naturschutzbund (NABU) eine Ausstellung mit dem Titel “Willkommen Wolf”. Die Berliner Zeitung titelte: “Der Trend zum Wolf hält unvermindert an”. In ihrem Artikel ging es um “vulkanische Rockrhythmen”: “Nach Howlin’ Wolf, Superwolf, Guitar Wolf, We Are Wolves und den Wolf Eyes durften wir nun eine weitere Rock-‘n’-Roll-Band erleben, die ihr musikalisches Schaffen dem Lobpreis der wölfischen Wildheit gewidmet hat.” Gemeint war damit die kanadische Band “Wolf Parade” und ihr Konzert in der Arena, auf dem ihr “mehrstimmiges Wolfsgeheul” von einem Thermenvox herrührte. Dieses Instrument wurde 1920 von dem Russen Leo Thermin erfunden. Heute gibt es weltweit fünf Thermenvox-Spieler, es sind ebenso wie die fünf Wolfsforscher an Oder und Neiße ausschließlich Frauen.

Die französische Pianistin Hélène Grimaud veröffentlichte eine Autobiographie mit dem Titel “Wolfssonate”. Sie besitzt bei New York ein großes Freigehege mit einem Wolfsrudel und hat eine besonders intensive Beziehung zu dem Wolf Alawa, der jedoch Helene Grimauds Freund Jeff nicht mochte, weswegen die Pianistin sich schließlich von diesem trennte. “Mein Gott, was für eine Frau…zugleich Frau am Klavier und Frau mit den Wölfen”, stöhnte die Süddeutsche Zeitung. “Warum Frauen Wölfe lieben?”, fragte sich die Welt: Früher sorgten die “Märchen des Patriarchats” dafür, dass Frauen besonders große Angst vor Wölfen hatten und “Staat, Kirche und Familienoberhaupt” vorgaben, sie vor diesen Bestien zu beschützen. Heute sind die Frauen dagegen weitgehend auf sich allein gestellt – und prompt laufen sie den erstbesten Wölfen sozusagen in die Arme. Aber statt sich zu wehren, “verfallen sie ihnen”, wie der “Welt”-Meister Eckhard Fuhr, ein leidenschaftlicher Jäger, in seiner Rezension zweier von Frauen geschriebener Sachbücher über Wölfe sowie der Autobiographie von Hélène Grimaud schrieb. Zur “Schlüsselszene” hatte Fuhr die Beschreibung des ersten Wolfkontakts von Grimaud gewählt: Nachdem eine zahme Wölfin sich an ihre Handfläche geschmiegt hatte, spürte sie “augenblicklich einen stechenden Funken, eine Entladung im ganzen Körper, der meinen Arm und meine Brust bestrahlte.” Aus diesem Schauer der Französin schlussfolgert der Rezensent seltsamerweise: “Wölfe sind in Deutschland [!] Frauensache geworden” – spätestens seit dem Tod des legendären Wolfsforschers Erik Ziemen, für den die Verwandlung des wilden Wolfs in einen zahmen Hund durch Frauen geschah, indem sie sie quasi eigenbrüstig aufzogen. Hier erschien dann auch noch ein Manager-Handbuch der Paderborner Unternehmensberaterin Gertrud Höhler mit dem Titel “Wölfin unter Wölfen”, in dem die Autorin für mehr “Mixed Leadership” plädierte.

In Brandenburg wurde ein “Wolfwiederansiedlungs-Konzept” wirksam und dazu ein “Wolf-Management-Plan” verabschiedet: Dort sind die Wölfe seitdem ganzjährig geschützt, zu DDR-Zeiten durften sie dagegen ganzjährig gejagt werden. Die Leiterin des dafür neu eingerichteten “Kontaktbüros Lausitzer Wölfe” – Jana Schellenberg – erklärte: “Wir können die Akzeptanz der Wölfe nur fördern, wenn wir ehrlich und sachlich sind.” In der Zeitschrift “Emma” wurden Männer, die keine Kinder haben wollen als “einsame Wölfe” bezeichnet – doch das schade “ihrem Ansehen keinesfalls”. Der Spiegel sprach von einer “Rückkehr des grauen Wanderers”, die FAZ von “der langen Nacht des Wolfs”, und die Berliner Zeitung von der “Zeit des Wolfs”. “Im Osten gedeihen die Wölfe” titelte die Süddeutsche Zeitung. In der Muskauer Heide fand eine erste internationale “Wolfskonferenz” statt.

In Erlangen wurde das “NS-Stück ,Die Wölfe'” – ein “U-Boot-Drama” – uraufgeführt. Die Studentin Jana meldete aus der Elite-Uni “Viadrina” in Frankfurt/Oder: “In einem BWL-Seminar sagte der Dozent neulich: ,Wenn man anderen beruflich was Gutes tut, tut man sich selber nichts Gutes. Und das haben alle um mich herum eifrig in ihre Hefte geschrieben”. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz referierte im Rahmen einer Ringvorlesung an der Humboldt-Universität über “Heldenkonzepte rechtsextremer Männer” – in denen das Selbstbild dieser Leute sich heute nicht mehr am Symbol des Löwen orientiere, sondern “an dem des Wolfes, der durch feindliches Gelände marodiere, einsam oder im Rudel, allzeit bereit zu Mord und Totschlag”. Die Bundesregierung ließ prüfen, ob das Internet-Suchwort “Wolf” nicht verboten gehöre – weil es allzu oft auf Webpages von Neonazis auftaucht. Obendrein wurde der Wolf auch noch zum “Tier des Jahres” gekürt. Die Bild-Zeitung meldete, dass man jetzt bei einer “Tier-DNA-Datenbank” prüfen lassen könne: “Wie viel Wolf steckt in meinem Fiffi?”

Europaweit lief dann der spanische Film “El Lobo” (Der Wolf) an: Um die Terroristen der ETA zur Strecke zu bringen, schleust sich ein Spitzel namens Eguia über das Bett der schönen Kämpferin Amaia in die Organisation ein – und läßt schließlich die ganze ETA-Führung hochgehen. “Jin Roh” nannte der japanische Zeichentrickfilmer Hiroyuki Okihura seinen auch in Berlin gezeigten Wolfs-Film, in dem sich – laut Berliner Zeitung – “Terror und Gegen-Terror die prekäre Waage halten”. Ein deutscher Regisseur ahnte den Geist der Zeit und verfilmte den Nachkriegsbestseller “So weit die Füße tragen” neu. Besonders jene Szene, in der die kleine Gruppe deutscher Kriegsgefangener, die 1944 aus einem sibirischen Lager ausbrach und nach Westen flüchtete, von einem Wolfsrudel im winterlichen Wald verfolgt wird, jagte damals Millionen Deutschen wahre Schauer über den Rücken. Das Buch wurde daraufhin als erste Serie für das deutsche Fernsehen verfilmt – und die Serie wiederum wurde zum ersten deutschen “Straßenfeger”. Die Neuverfilmung geschah nun in Original-Sibirien und mit Echt-Wölfen. Aus Frankreich kam der Film: “Pakt der Wölfe”. Ein Mix aus Action, Sex, Mystik, edle wilde Wölfe, geldgeile Huren und Ökologie. Dem taz-Rezensenten Detlef Kuhlbrodt gefiel der Film trotzdem: Er sei “pynchonesk” und “beruhe auf einer wahren Begebenheit – aus dem 18.Jahrhundert”.

Im Internet bewarb sich das saarländische Merzig, Standort eines Fallschirmjäger-Bataillons, als “Stadt der Wölfe”: Der “Einzelkämpfer”-Ausbilder Werner Freund legte dort mit 25 Wölfen ein “Miniaturreservat” an, das jährlich über 100.000 Menschen besuchen. Er bezeichnet sich als “Oberwolf”. Als experimenteller “Verhaltensforscher” behauptet er: “Wir sind auch Rudeltiere, nur eben entartete, überzüchtete Supermarktraubtiere.” Im “Naturbuch-Verlag” veröffentlichte er dazu ein Buch mit dem Titel “Wolf unter Wölfen”. Auch der große 1937 erschienene Nachkriegsroman von Hans Fallada hieß schon “Wolf unter Wölfen”. Dies war jedoch eher ein Warn- als ein Sachbuch: “Es handelt von sündigen, sinnlichen, schwachen, irrenden, haltlosen Menschen… in einer zerfallenden, irren, kranken Zeit… in der jeder für sich allein und gegen alle kämpft.” 1965 verfilmte das DDR-Fernsehen Hans Falladas Roman.

Das seit 1989 stetig anschwellende Wolfsgeheul in Film, Fernsehen, Feuilleton und Freier Wildbahn nahm derartige Formen an, dass es bei den Meinungsbildnern einer Gehirnwäsche gleich kam: Der Tagesspiegel-Autor Matthias Glaubrecht nahm an einer Geschäftsleute-Delegation teil, anschließend schrieb er: “Wir beobachten, wie unsere Chefs mit den uns Unbekannten der anderen Gruppe umgehen und lernen,die interne Rangordnung unserer Gegenüber kennen. Das erspart Zeit und Auseinandersetzungen mit den Ranghohen der Gegenseite”. In seinem Plädoyer für “Alpha-Tiere” argumentiert der Autor ausschließlich biologisch – vor allem mit der Wölfischen “Rangordnungsstruktur” (Struktur! wie Komplex das klingt.), die er ob ihrer Effektivität tautologisch als erfolgreiche “evolutionäre Anpassung an die räuberisch-umherschweifende Lebensweise der Wölfe” bezeichnet.

Zuletzt veröffentlichte der Wirtschaftsberater Johannes Voss zwei “Fachbücher” – mit den Titeln: “Die Führungsstrategien des Alphawolfs – Ideenpool für Manager” und “Von Wölfen lernen – effektiv und souverän im Projekt.” Bei der Vorstellung seines Buches, im Beisein des Landrates vom Main-Tauber-Kreis erklärte der Verleger: “Gerade der hohe Praxisbezug gepaart mit den interessanten und einprägsamen Beschreibungen des Wolfsverhaltens hat uns als Fachbuchverlag dazu bewogen das Buch in unser Programm aufzunehmen.”

Die Bertelsmann-Stiftung ist einer der einflußreichsten neoliberalen “Thinktanks” Deutschlands, in ihrem Verlag erschien unlängst der chinesische Bestseller “Wolf Totem” von Jing Rong, in dem es um die Philosophie und Moral des “Wölfisch-Werdens” geht. Die chinesischen Kulturfunktionäre – und beobachter sprachen von einem Marktwunder, weil sie sich nicht erklären konnten, wie ein solch langatmiger Roman in wenigen Monaten über 500.000 Mal verkauft werden konnte: Er handelt ausschließlich von einem Tier, beinhaltet keine Sex- oder Liebesszenen und wurde zudem noch von einem bisher völlig unbekannten Autor geschrieben. Mehrere prominente Chinesen verkündeten angesichts dieses Bucherfolgs unisono: “Für die heutigen Chinesen ist es notwendig, vom Geist des Wolfes zu lernen!” Der Computerspezialist Fu Jun erklärte: “wie der Autor die Wölfe beschreibt, aber auch die mongolischen Nomaden, das hat mich sehr berührt. Es sind harte Burschen, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen. Einige ihrer positiven Eigenschaften sind es wert, von uns übernommen zu werden, z.B. durch unsere Fußball-Mannschaften, damit sie ihre Gegner besiegen – statt besiegt zu werden.” Der Autor Jiang Rong meinte in einem Interview, dass es die kleinbäuerliche chinesische Landwirtschaft war, die aus den Chinesen das gemacht habe, was er ein Schafs-Temperament nennt: “Sie sind unterwürfig, demütig und passiv, dazu verdammt, geschlagen und eingeschüchtert zu werden.” Für den Literaturkritiker Zhang Qianyi aus Hongkong ist das eine “allzu simple Geschichtsauffassung”. In der chinesischen Geschäftswelt, “wo sich heutzutage die heftigste Jagdleidenschaft austobt,” wie die China Daily schreibt, stieß sie jedoch auf große Resonanz. “Aus dem Buch von Jiang Rong erfahren wir, dass die Wölfe ausgezeichnete militärische Führer sind,” sagte z.B. Zhang Ruimin, Geschäftsführer der Haier-Group, einer in Shandong ansässigen Elektrofirma, “sie gehen nie unvorbereitet in einen Kampf und sie wissen, wie man sich anschleicht, einen Hinterhalt legt, belagert und jemanden abfängt. Und stets wählen sie den richtigen Zeitpunkt zum Angriff. Sie warten geduldig und vergeuden keine Kraft. Erst wenn ihre Beute in die Enge getrieben ist, schlagen sie zu – überraschend und ohne große Verluste. Aber ihre am meisten zu lobende Eigenschaft ist, das sie immer und in jedem Fall als Team kämpfen.” Seit der Erstveröffentlichung von “Wolf Totem” im April 2004 sind in China bereits vier Ratgeberbücher erschienen, in denen es darum geht, wie man mit Hilfe von Wolfsstrategien beim Geschäftemachen erfolgreich ist.

Während in den “Chatrooms” noch junge Wolffans und alte Wolfexperten die persönlichen Eigenschaften jedes in Freiheit neugeborenen Wölfchens diskutierten, kam es jedoch spätestens ab 2005 – nach einer Reihe kleinerer Börsen- sowie Finanzkräche und Prämienüberspitzungen – zu einem gewissen Innehalten: Erst ließ die FAZ für ihr Feuilleton ein nachdenkliches Gedicht des Spaniers Pacheco “In der Republik der Wölfe” übersetzen, dann warnte sogar der Spiegel vor allzu großer Wolfsverehrung: “Bis vor kurzem wurde die Rückkehr der Wölfe nach Sachsen noch gefeiert. Nach Attacken der Raubtiere haben die Bewohner der Lausitz nun Angst”. Kürzlich rissen nämlich die “grauen Räuber” in einer Nacht 27 Schafe, dann drei Tage später “sanken sechs Schafe in Müllrose nach einer Blitzattacke tot zu Boden – und die Wölfe berauschten sich erneut am Blut”. In der Schweiz beschloß man, besonders mordlustige Wölfe zu erschießen. Die Jugendministerien der Bundesländer versuchten die Internet-Suchmaschinen-Betreiber dazu zu bewegen, “jugendgefährdende Worte wie etwa Wolfsrudel” in ihre Induizierungsliste aufzunehmen: “weil die Zeichenkette oft auf rechtsextremen Seiten auftaucht.” In München demonstrierten einige hundert Menschen gegen die “Grauen Wölfe” – in Deutschland und der Türkei. Die Polizei startete eine Informations- und Ausklärungskampagne unter der Bezeichnung “Wölfe im Schafspelz”.

Und während sich in China das Buch “Wolf Totem” noch weiter millionenfach verkaufte, interessierte sich für die Bertelsmann-Ausgabe plötzlich kein Schwein mehr. Ja, es erschienen in Deutschland sogar einige Bücher über Wölfe, die den Begriff in antidarwinistischer Absicht – kritisch – verwendeten. Erwähnt sei “Raubtier-Kapitalismus – Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte” von Peter Jüngst, “Hirten & Wölfe – wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen” von Hans Jürgen Krysmanski, “Raubtierkapitalismus: Wie Superspekulanten, Finanzjongleure und Firmenjäger eine Weltfinanzkrise provozieren” von Dieter Balkhausen und “Wohlstand und Gesundheit für alle: Das Ende des Raubtier-Kapitalismus” von K. Schulze und D. Marc.

Man kann aus diesen zeitlichen Unterschieden in der Theorie- bzw. Wahnbildung Chinas und Deutschlands nur den Cioranschen Schluß ziehen: “Die Stunde des Verbrechens schlägt nicht für alle Völker gleichzeitig – daraus erklärt sich die Kontinuität von Geschichte.”

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https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/11/11/evoluzzer_im_vormarsch/

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kommentare

  • In den USA schrieben 2007/8 immer öfter darwinistische Biologen und Harvard-Wirtschaftswissenschaftler ihre Aufsätze zusammen. Fitness und Erfolg sind für diese Halunken Synonyme.

    Ein Nachhall zu diesem postfaschistischen Scheiß fand sich dann auch auf deutschen Büchertischen. Hier die letzten Blüten:

    “Alpha-Tiere: Der schmale Grat zwischen Erfolg und Absturz im Management” von Kate Ludemann, Eddie Erlandson, und Petra Pyka

    und:

    “Das Ende der Schonzeit: Alphafrauen an die Macht” von Gertrud Höhler

    Ferner:

    “Alpha Males” von Henning von Berg

    und:

    “Alpha Kids” von Chris Archer

  • Silke Krüger-Schmaltz (Pankow):

    “A Wolf-Book a day keeps reality away!” (Wolf-Dietrich Schnurre)

    Im Konzerthaus Berlin las Gregor Gysi einmal zu Weihnachten das Märchen von Sergej Prokofjew “Peter und der Wolf” vor. Vielleicht war es auch gar nicht die Prokofjew-Fassung, sondern die von Loriot: Dessen Fassung behält die Handlung im wesentlichen bei, erweitert den sehr trockenen Prokofjew’schen Text aber um viele humorvolle Details im typischen Stil des Autors. Hier kann auch der Wolf sprechen; am Ende bittet er seine Fänger darum, ihn statt in den Zoo zurück in den Wald zu bringen. Loriot las seinen Text auch mal in Berlin vor, das English Chamber Orchestra mit Barenboim begleiteten ihn.

    Und dann wollte ich noch auf etwas anderes hinweisen:

    Im Galapagos-Archipel gibt es auf der Insel Isabela den Vulkan Darwin und den Vulkan Wolf. Und neben Isabela zwei kleine Inseln. Eine heißt Darwin und die andere Wolf.

    Sie bilden zusammen eines der sieben besten Tauchreviere der Welt. Dort muss man sich auf unterschiedliche Wasserverhältnisse und starke Meeresströmungen einstellen. Tauchen ist dort nur den Erfahrenen vorbehalten. Die Inseln selber dürfen nicht betreten werden. Man gelangt dort mit einer Art Kreuzschiff von Santa Cruz, auch eine Galapagos-Insel, hin. Unterwegs, d.h. jeden Mittwoch steuert das Schiff auch die Forschungsstation “Charles Darwin” an.

    Wer nicht so viel Geld hat, aber dennoch Darwin und den Wolf erleben möchte, der sollte in die Lüneburger Heide fahren:

    „Was Manager von Wölfen lernen können“, so betitelte das Hamburger Abendblatt einen Report über ein Führungskräfte-Seminar im Wildpark Lüneburger Heide. Die Kosten dieses wölfischen Erlebniscoachings: ein Tagessatz von 950 Euro plus Mehrwertsteuer. Der Journalist Mark Hübner-Weinhold zeigte sich vom Sozialverhalten der Grautiere total begeistert: „Jeder hat seine Aufgaben. Und alle reagieren äußerst flexibel. Ein Wolfsrudel ist das perfekte Team – und damit ein Vorbild fürs Unternehmen.“

    Was einen Wolf zum Alphatier qualifiziert? Indem er sich den Top-Platz in dieser „dynamischen Hierarchie“ erkämpft. „Solche Rangordnungskämpfe können brutal sein. Ein Angriff kann ohne Vorwarnung, ohne gefletschte Zähne, Knurren oder aufgestellte Nackenhaare erfolgen. Dabei ist sogar die Beißhemmung der Wölfe herabgesetzt: Verletzungen sind manchmal tödlich.“ Homo homini lupus: so die „Management-Weisheit“ im Originalton.

    Und dann gibt es noch “Wir Alphamädchen”, so heißt das noch billigere Buch von Barbara Streidl, Merdith Haaf und Susanne Klingner, das im Verlag Hoffmann & Campe erschienen ist und 19 Euro 90 kostet. Für diese jungen Rudelführerinnen sind Männer laut Spiegel bloß arme “Hunde”.

    Pressestimmen:

    “Den Autorinnen ist eine vielseitige Analyse des Ist-Zustandes im Jahre 2008 gelungen.”
    (Intro)

    “Bei der Lektüre habe ich vor dieser Töchter-Generation immer mehr Respekt bekommen.”
    (Deutschlandradio Kultur)

    “Pointiert, tabulos, ideologiefrei.”
    (Das Parlament)

    “Dieses Buch ist wunderbar und gehört in jede Mädchenhand.”
    (Iris Hanika in der Süddeutschen Zeitung)

  • Das Frankfurter Kapitalmedium FAZ (konkret: Lorenz Jäger) schreibt – über die neu herausgegebenen Schriften von Herbert Marcuse unter dem Titel “Traktat von der Friedlichkeit der Wölfe”. Das bezieht sich auf Marcuses Meinung, die Sowjetunion müsse man zwar “theoretisch denunzieren”, der wahre Feind seien jedoch die USA.

    Der antikommunistische FAZ-Autor gerät darüber geradezu in ein metaphorologisches Delirium: “Dies war nun die Botschaft, die Marcuse in den sechziger Jahren verkündete. In der Epoche des Diskurses mußten die sieben Geißlein mit besserem theoretischen Rüstzeug von den friedlichen Absichten des Wolfs überzeugt werden, und da war es nützlich, auf eine Abhandlung zurückgreifen zu können, die bewies, dass man die Raubgier der Wölfe unterschätzt habe. Hinzu kam das bewährte Kreidefressen.” Was meint er damit bloß – um Himmelswillen?!

  • Das Westberliner Veranstaltungsmagazin zitty schreibt (23/2008):

    “Kurt Beck sagte nach seinem Sturz als Parteichef über die SPD, sie pflege den Umgang eines Wolfrudels. Ähnlich ist es in der Berliner CDU, nur haben hier die unterbelichteten Wölfe das Sagen. Kluge Aufsteiger mit Potential werden von den Rudelchefs der mitgliederstarken Bezirke regelmäßig weggebissen.”

  • und mehr und mehr machen sich allerorten WOLFGANGS breit&lang!Viele,sehr viele knaben werden auf den Namen Wolfgang getauft! Vauweh plant einen neuen WOLF! wöllfische zeiten stehn uns inz haus!guten abend….

  • Zuletzt hat sich der Philosoph Jacques Derrida mit Wölfen befaßt – im Zusammenhang einer Analyse des Begriffs “Schurkenstaat”, und zwar als ein “Schurke” himself. Dabei kam er zu dem Schluß, dass alle Staaten schurkisch sind und damit keiner mehr. In bezug auf den Begriff des “Schurken” – “rogue” auf englisch und “voyou” auf französisch – schreibt Derida: “Der Schurke ist immer der andere, stets derjenige, auf den der rechtschaffene Bürger, der Vertreter der moralischen oder rechtlichen Ordnung, mit dem Finger zeigt.” Bereits 1865 “erfand” Flaubert den Begriff der “voyoucratie”. Das Wort “voyou” steht in entscheidender Beziehung zum Weg (voie). Derrida erwähnt dazu “vom Wege abgekommen” und “auf den Strich gehen”. All das gehöre “gleichsam in den Fußstapfen eines Baudelaire, Benjamin oder Aragon”. Also zu deren Werken “Die Blumen des Bösen”, “Das Passagenwerk” und “Das Pariser Landleben”. Jetzt sind unsere öffentlichen Plätze jedoch zu den Agoren von “Schurken” heruntergekommen. Diese sind heute laut Derrida “beschäftigungslos, manchmal arbeitslos, und zugleich aktiv damit beschäftigt, die Straße zu okkupieren, entweder nichtstuend, ‘das Pflaster zu treten’ oder etwas zu tun, was man normalerweise, nach den Normen, nach Gesetz und Polizei nicht tun darf auf den Straßen und allen anderen Wegen – die durch die Macht der Schurkenherrschaft unwegiger und unsicherer werden.”

    Und diese Schurkenherrschaft, das ist “eine Art Gegenmacht”, ein “Milieu”. “Übrigens ist der Schurke auch ein Querulant,” schreibt Derrida. Daneben ist der “voyou” aber auch ein “Macker, ein Frauenheld” und die “voyoute” eine “Frau von schlechtem Lebenswandel”. Der Oxford-English Dictionary spricht von “a dishonest, unprincipled person”. Daher die Ausdehnung der Bedeutung dieses Begriffs, bei Shakespeare sowohl wie bei Darwin, “auf jedes nichtmenschliche Lebewesen, auf Pflanzen oder Tiere, deren Verhalten abweichend oder pervers erscheint. Alle wilden Tiere lassen sich als ‘rogue’ bezeichnen, besonders aber bösartige Einzelgänger.”

    Derrida, der dazu einmal ein “endloses Seminar” veranstaltete, erwähnt die “rogue elephants”, er hätte auch an die einzelgängerischen Wölfe erinnern können, die scheinbar furchtlos im Winter bis in die Dörfer kommen. Hans Zischler schrieb unlängst in der FAZ über einen solchen, der nachts seelenruhig quer durch Stockholm streunte. Aus der Mongolei berichtete ein deutscher Entwicklungshelfer, der als Förster in der Wüste Gobi arbeitet, dass die Wölfe dort ebenfalls immer dreister werden. Allerdings sei daran nicht selten die allzu lasche Bewachung der Herden durch die Hirten schuld, die im übrigen bewaffnet sind. In Frankreich kann man sich noch an den berühmten einzelgängerischen Wolf “Die Bestie von Gévaudan” erinnern, der ab 1764 immer wieder kleine Kinder tötete und auf Seiten des Souveräns eine ganz neue Institution begründete: die Luvetiers (Wolfsjäger). Am Ende starben in weniger als drei Jahren 101 Menschen und auf der anderen Seite 200 Wölfe. Diese erfolgreiche Jagd auf den “Riesenwolf” bezeichnete den “Wendepunkt in der Geschichte des Wolfs und des Menschen”, schreibt der Historiker Robert Delort. Dahinter stand eine partisanische Niederlage: Zum einen wurde im Gévaudan nach dem Aufstand der Kamisarden das Waffenverbot für die Bevölkerung besonders strikt gehandhabt, und zum anderen hatte man hier die gemeinwirtschaftlichen Strukturen aufgelöst, u.a. auch die großen Herden, die von erwachsenen Hirten mit scharfen Hunden bewacht wurden. Stattdessen wanderten nun Kleinstherden unter der Obhut von unerfahrenen Kindern umher – in einer bergigen, zudem wenig besiedelten Gegend, die dem Wolf gute Chancen für Angriffe und Flucht bot. Sein wirkliches Ende kam jedoch erst mit dem Zusammenbruch des Ancien Régimes: “Die Französische Revolution gibt den Bauern Waffen, und diese dürfen sie auch anwenden”. 1795 erhöht der Nationalkonvent zudem die Wolfs-Prämien.

    Derridas Seminar über diesen Komplex fand 2003 statt und war anscheinend selbst ein Treffpunkt von Schurken, denn es wurde “von Wolfsrudeln aus allen Ecken der Welt heimgesucht”. Es hieß: “Das wilde Tier und der Souverän” und war “weitgehend eine Lykologie, eine genealogische Theorie des Wolfs (lykos), der Figuren des Wolfes und aller Werwölfe in der Problematik der Souveränität… Bei der Übersetzung der ‘Bekenntnisse’ von Rousseau ins Englische hat man das Wort ‘loup-garou’ nicht mit Werwolf, sondern mit ‘outlaw’ übersetzt – ‘der Gesetzlose’. Von der amerikanischen Administration wird der ‘outlaw’ häufig als Synonym von rouge im Ausdruck ‘Schurkenstaat’ verwendet, indem von ‘outlaw Nation’ die Rede ist. Als ich übrigens einen Titel für diese Veranstaltung vorschlug, noch ehe das Seminar begonnen hatte, war ‘Das Recht des Stärkeren’ eine Anspielung auf den ersten Vers der Fabel ‘Der Wolf und das Lamm’ von La Fontaine. Dieser Wolf – als Schurke, das kann laut Derrida “auch einer jener ‘großen Verbrecher’ sein, die Walter Benjamin so faszinierten, weil sie – wie in seiner ‘Kritik der Gewalt’ erklärt – den Staat herausfordern…Indem er sich eine Gegensouveränität anmaßt, stellt sich der schurkische ‘Großverbrecher’ mit dem souveränen Staat auf gleiche Augenhöhe, er wird zum Gegenstaat…”

    In Russland hat man solche Großschurken immer verherrlicht – und gegen das Zarentum in Anschlag gebracht: beginnend mit dem Volksaufständen der Kosaken Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow und dem einstigen tschetschenischen Anführer Imam Schamil. Alexander Solschenizyn meint, dass die fortdauernde literarische Verherrlichung dieser und vieler anderer Verbrecher beginnend mit Puschkin und erst recht dann dann durch die kommunistischen Schriftstellern, denen die Schurken – im Gegensatz zu den “klassenfremden” Intellektuellen und Künstlern – sogar als “klassennahe” galten, habe wesentlich mit zu dieser anschwellenden Flut von Schurkentum beigetragen, unter dem das Land bis heute leide.

    In Warschau erfanden drei Gymnasiasten für die heutigen postsozialistischen “Schurken” das Wort “Men in Sportwear” (MiS). Das war bereits 1996, als ich mich dort in der Innenstadt einmal verlaufen und sie nach dem Weg gefragt hatte. Auf Englisch erklärten sie mir, welche Richtung ich einzuschlagen hätte und fragten dann mich, ob ich aus Leichtsinn oder Unwissenheit um diese Zeit draußen herumlaufe, dazu noch als Ausländer. Ich verstand sie nicht. Es sei sehr gefährlich geworden, im Dunkeln in Warschau spazieren zu gehen, erklärten sie mir. Warum? “Because of all the Men in Sportswear”. Diese würden in kleinen Gruppen oder allein an den Hauseingängen oder Ecken herumlungern und auf eine günstige Gelegenheit warten. Das sei inzwischen schon so schlimm geworden, daß sie es nicht mehr aushalten würden und sofort nach ihrem Abitur aus Polen weg wollten. Die Men in Sportswear, viele ehemals durchaus klassenbewußte Arbeiter aus der Solidarnosc-Bewegung, würden ihnen immer mehr das Leben vermiesen. Ich war erstaunt, daß sich da wohlmöglich wieder eine neue polnische Intelligenzemigration anbahnte.

    Sie ist dann tatsächlich eingetreten – und hält auch noch immer an (allein in England und Irland leben und arbeiten inzwischen über eine Million Polen). Der Grund dafür ist jedoch die steigende Arbeitslosigkeit im Land. Was die “Men in Sportwear” betrifft, so haben sie inzwischen mehrheitlich, nicht nur in Polen, zu bürgerlicher Kleidung (zurück) gefunden: Auf dem “Jarmarkt Europa” in Warschau und auf den Polenmärkten an der polnischen Westgrenze gibt es nicht einmal mehr “Sportswear” und sei es in den billigsten imitierten Varianten, zu kaufen.

    Dafür hat sich dort jedoch die Prostitution weiter vermehrt. Ebenso die an der Oder-Neiße auf deutscher Seite (wieder) angesiedelten Wölfe, wie die “Mitteldeutsche Zeitung” 2006 berichtete. Schon mehrfach wurden dort jetzt einzeln herumstreifende Jungwölfe von Autos überfahren, einige aber auch von Jägern erschossen. In einem Artikel über die “Rückkehr der Räuber” titelte die “Süddeutsche Zeitung” am 16.August: “Biologen fordern Regeln für den Umgang mit Wolf und Bär”.

    Dies deutet auf einen abermaligen “Wendepunkt in der Geschichte von Wolf und Mensch” hin: Jeder “Schurke” bekommt nun einen, am Besten gleich mehrere für bzw. auf ihn qualifizierte Betreuer zugeteilt. Diese sollen ihn jedoch nicht, wie noch die königlichen Wolfsjäger – bis hin zu den amerikanischen Partisanenvernichtungseinheiten – einfach liquidieren, sondern im Gegenteil: die Öffentlichkeit über ihn und sein wohlmöglich ökologisch sinnvolles Tun aufklären, ja, die Menschen davon abhalten, ihn zu stören oder zu verscheuchen.

    Aber nicht nur das, in seinem eigenen Interesse müssen sie ihn auch in seiner Rassereinheit schützen – erhalten, d.h. sie müssen verhindern, dass er sich per Fortpflanzung langsam aber sicher hybridisiert und damit selbst wegzüchtet. Dazu schrieb die FAZ am 30.Juli 2006: “Zu den Aufgaben der drei Lausitzer Wolfsfrauen [plus eine auf polnischer Seite] gehört es auch, darüber zu wachen, dass in der Region kein ‘Problemwolf’ heranwächst.” Damit sind keine “Bestien” oder “Riesenwölfe” mehr gemeint, sondern “Wolf-Hund-Mischlinge”: “Wolfshybriden sind eine echte Gefahr für die Arterhaltung der Wölfe und die Umwelt. Vor vier Jahren verpaarte sich eine Wölfin mit einem Haushund. Vor dem Wurf überlebten vier Mischlinge. Zwei gelten als verschollen, zwei konnten gefangen und in einen Wildpark gebracht werden. Wolfshybriden gefährden das ökologische Gleichgewicht. Anders als reinrassige Wölfe wandern sie nicht nach 22 Monaten aus dem Revier ihrer Eltern ab, sind viel früher geschlechtsreif, neigen zur Verpaarung mit Haushunden und verhalten sich anders als Wölfe. Befürchtungen, von den Mischlingen könne eine verstärkte Gefahr von den Menschen ausgehen, sind nach Erfahrungen in anderen Ländern unbegründet. ‘Aber Hybride haben nicht wie der Wolf die ökologische Funktion eines Schalenwild-Regulators. Zwischen Wolf und Haushund liegen nun einmal 16.000 Jahre Domestikation,’ sagt die Lausitzer Wolf-Wächterin Jana Schellenberg.”

    Dies ist die selbe Bio-Politik, wie sie die deutschen Genetiker und Politiker bis 1945 gegenüber den “Zigeunern” anwandten: die “reinrassigen” wurden selektiert – sie sollten anschließend in einem Reservat so “natürlich” weiter leben, wie sie es gewohnt waren, während alle “Mischlinge” in KZs eingeliefert und vernichtet wurden.

    Kritik an einer solchen “Wolfs-Politik” kommt u.a. von dem englischen Publizisten Neal Ascherson, der 2005 einen Text über das “Oderbruch” in der “Le Monde Diplomatique” veröffentlichte. U.a. heißt es dort: “Grüne Aktivisten, aber auch Regierungen, die sich für die ‘Entwicklung’ der natürlichen Ressourcen verantwortlich fühlen, stoßen bei ihrem Bemühen um die ‘Rettung der Umwelt’ immer wieder auf irritierende Fragen. Denn es ist keineswegs eindeutig, wie die Beziehung der Menschen zu ihrer Umwelt zu verstehen sei. Es gibt ja kaum noch Zeitgenossen, die sich auf den Wortlaut der Schöpfungsgeschichte berufen, wonach der Mensch zur Herrschaft über alle Kreatur bestimmt sei, also ‘über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht’. Längst vorüber ist auch die Selbstgewissheit der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts, die sich auf die ‘ehernen Gesetze der Geschichte’ beriefen, um die technische Umgestaltung der Landschaft und der Biosphären zu rechtfertigen – unter Berufung auf den menschlichen Fortschritt, der doch nur eine neue Variante des Anspruchs auf ‘Herrschaft’ über die Natur darstellt. Solche alten Überzeugungen leben im Verborgenen fort und beeinflussen nach wie vor unser Denken.

    Das gilt auch für die Vorstellung, dass der Mensch zum ‘Treuhänder für die natürliche Schöpfung’ bestellt sei. Das klingt nach guten Absichten und bewirkt in der Praxis häufig Positives, und doch drückt sich darin der alte anmaßende Anspruch der menschlichen Gattung auf den Status eines über der Natur stehenden Souveräns aus. Seltsamerweise klingt dieses Dogma auch in gewissen Aspekten des ‘grünen’ Denkens wieder an, wenn es nämlich behauptet, die Menschen seien für alles verantwortlich, was im Meer und in Seen und Flüssen ‘schiefgeht’, zum Beispiel für die Vermehrung oder das Verschwinden einzelner Tier- und Pflanzenarten und für Veränderungen von deren natürlichen Lebensräumen.

    Damit will ich keineswegs verharmlosen, wie stark das Handeln der Menschen in den letzten zehntausend Jahren zur Verwüstung unseres Planeten und zur Vernichtung vieler Formen des Lebens beigetragen hat. Doch die Formel von der ‘totalen Verantwortung’ des Menschen bleibt einer anthropozentrischen Philosophie verhaftet. Sie beinhaltet die realitätsferne Vorstellung eines ‘Gleichgewichts der Natur’ – als ob in der Umwelt zu Lande wie zu Wasser eine konstante und unveränderliche ökologische Balance herrsche, die nur durch die Intervention der Menschen ‘aus dem Lot’ gebracht würde.”

    Derrida erwähnt im Zusammenhang seiner “Schurken”-Analyse ein Beispiel für eine ‘aus dem Lot geratene’ Natur selbst – und zitiert dazu den “Chronicle of Higher Education”, wo es heißt: “Im Tierreich wird ein rouge als ein Wesen definiert, das von Geburt an anders ist…es bleibt allein und kann in jedem Augenblick ohne Vorwarnung angreifen.” Aber das sind “Ausnahmen”. Im Menschenreich ist dagegen der “perverseste und gewalttätigste, der destruktivste aller ‘rogue States’ heute – “die Vereinigten Staaten und gelegentlich ihre Verbündeten,” meint er – und beruft sich dabei auf Robert S. Litwaks Buch “Rogue States and U.S. Foreign Policy” sowie auf William Blums “Rogue State. A Guide to the World’s only Superpower”. Das sei jedoch bereits alles Schnee von gestern, denn “künftig werden wir es nicht mehr mit dem klassischen Krieg zwischen Nationen zu tun haben, weil kein Staat den USA den Krieg erklärt hat oder als Staat gegen sie zu Felde zieht; wo aber kein Nationalstaat beteiligt ist, kann auch nicht mehr von Bürgerkrieg die Rede sein, ja nicht einmal mehr von ‘Partisanenkrieg’, da es nicht mehr um Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, um einen revolutionären oder Unabhängigkeitskrieg zur Befreiung eines kolonisierten Staates und zur Gründung eines anderen geht. Aus denselben Gründen verliert der Begriff ‘Terrorismus’ seine Triftigkeit, weil er stets und zu Recht mit ‘revolutionären Kriegen’, ‘Unabhängigkeitskriegen’ oder ‘Partisanenkriegen’ verbunden war: mit Auseinandersetzungen, die immer um einen Staat, in dessen Horizont und auf dessen Boden geführt werden. Es gibt also nur noch Schurkenstaaten und gleichzeitig keine Schurkenstaaten mehr. Der Begriff ist an seine Grenze gestoßen, seine Zeit ist zu Ende.”

    Bereits am 19.Juni 2000 habe Madeleine Albright der Öffentlichkeit mitgeteilt, das ‘State Department’ halte diese Bezeichnung nicht mehr für angebracht, und man werde künftig neutraler und zurückhaltender von ‘States of concern’ sprechen. Derrida übersetzt dies mit “‘Sorgenstaaten’ (Etats préoccupants), Staaten, die uns viele Sorgen bereiten, aber auch Staaten, um die wir uns ernsthaft besorgen und kümmern müssen – behandlungsbedürftige Fälle, im medizinischen wie im juristischen Sinn.” Allerdings werden die “Schurken” wahrscheinlich die “Schurkenstaaten” und “rogue States” noch für einige Zeit überleben. Auch sie sind jedoch inzwischen zu behandlungsbedürftigen Fällen – im medizinischen wie juristischen Sinne – herangereift.

    So wie die US-Politik – und das nicht erst seit gestern – auf den großen Schurken setzt (“Er ist zwar ein Schurke, aber es ist unser Schurke!”), indem sie ihn “einbettet”, finanziert, qualifiziert, betreut etc., versucht die Linke den kleinen Schurken auf den Straßen und Plätzen “Gerechtigkeit” widerfahren zu lassen, ja ihn sogar als neues “historisches Subjekt” zu begreifen. Dies begann schon mit der Charakterisierung seiner “Marginal Man Position” als optimalem Erkenntnisstandpunkt – durch die Chicagoer Schule für Soziologie von Robert Park. Und dann durch die Studentenbewegung mit der von Herbert Marcuse inspirierten “Randgruppenstrategie”, in der man “Knackis”, Rocker, Trebegänger, Ghettoexistenzen, Drogenabhängigen, Prostituierte etc., die von Marx und Engels noch als “Lumpenproletarier” abgetan wurden, mindestens theoretisch als “potentiell revolutionär” begriff. Nun heißt es: “Die Fackel der Befreiung” ist von den seßhaften Kulturen an “unbehauste, dezentrierte, exilische Energien” weitergereicht worden, “deren Inkarnation der Migrant” ist. So spricht z.B. der Exilpalästinenser Edward Said.

    Für den Engländer Neal Ascherson sind es insbesondere die “Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen”, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: “Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen” – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte. Ebenfalls an die urbane “intellektuelle Zirkulations”-Scene wandten sich die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari – mit einer ganzen (mehrbändige) “Nomadologie”, deren Credo zuvor Michel Foucault formuliert hatte: “Glaube daran, dass das Produktive nicht seßhaft, sondern nomadisch ist!”

    Dieser positiven Sicht auf alle “Entsetzten” – infolge der dritten industriellen Revolution – hält der selbst einst exilierte polnische Soziologe Zygmunt Baumann das Elend der “Überflüssigen” entgegen: also das Schicksal all derer, die weltweit eine neue Existenzweise suchen – und dabei jedoch nicht mehr wie noch vor 150 Jahren auf so genanntes “unterbesiedeltes Land” auswandern können. Noch der US-Präsident Theodore Roosevelt stellte die Ausrottung der büffeljagenden Indianer durch diese meist aus Europa kommenden armen Siedler und Pioniere als einen “gerechten Krieg” dar: “Dieser großartige Kontinent konnte nicht einfach als Jagdgebiet für elende Wilde erhalten werden”.

    Aber auch im Innern Europas kam es immer wieder zur Verfolgung, Vertreibung und Ausrottung von Nomaden – vor allem der Zigeuner, aber auch der Juden, die von den Christen stets aufs Neue exiliert wurden. Erstere wurden in Osteuropa erst von den Kommunisten zur Seßhaftigkeit gezwungen und dann ab 1990 fast alle arbeitslos. Noch 2003 erhielt die Slowakei, wo besonders viele Sinti und leben, bei ihrem EU-Beitritt die “strikte Anweisung” aus Brüssel, “dafür Sorge zu tragen, dass das slowakische problem nicht zu dem werde, was es immer war, nämlich zu einer europäischen Angelegenheit. Der freie Verkehr von Waren und Personen, der einer der wichtigsten Gründe war, dass sich die EU überhaupt formierte, sollte denen erschwert werden, die diesen Verkehr in Europa seit Jahrhunderten praktizierten,” schreibt der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß. Nach dem geglückten Weltraumflug von Juri Gagarin 1967 hatte noch der jüdische Philosoph Emanuel Lévinas gejubelt: Damit werde nun endgültig und weltweit das “Privileg der Verwurzelung und des Exils” beseitigt. Das Gegenteil ist jedoch ebenso wahr (geworden): die einstige jüdische “Juxtaposition” gilt nun für alle und jeden! Der Slawist Karl Schlögel spricht gar von einem “Planet der Nomaden”, wobei er jedoch noch schwankt, ob dies zu begrüßen ist.

    Dazu zitiert er den gleich mehrfach exilierten jüdischen Philosophen Vilém Flusser: “Wir dürfen also von einer gegenwärtig hereinbrechenden Katastrophe sprechen, die die Welt unbewohnbar macht, uns aus der Wohnung herausreisst und in Gefahren stürzt. Dasselbe lässt sich aber auch optimistischer sagen: Wir haben zehntausend Jahre lang gesessen, aber jetzt haben wir die Strafe abgesessen und werden ins Freie entlassen. Das ist die Katastrophe: dass wir jetzt frei sein müssen. Und das ist auch die Erklärung für das aufkommende Interesse am Nomadentum…”

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