vonHelmut Höge 12.02.2009

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Sogar die Junge Welt spielt im Darwinjahr das Darwinspiel mit. Aber während die bürgerlichen Zeitungen (Tagesspiegel und FAZ) jetzt – im Februar – schon bei Darwins Nachkommen angelangt sind (gibt es welche, wenn ja, wo leben sie und was tun sie?), hat JW-Redakteur Stefan Huth auf einen Text seines verstorbenen Freundes Georg Knepler zurückgegriffen, d.h. auf das erste Kapitel aus Georg Kneplers postum erschienenem Werk »Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit«. In dem Fragment gebliebenen Buch rekonstruiert der 2003 verstorbene Musikwissenschaftler und Historiker den Prozeß der Menschwerdung, der mit den großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts eine neue Dynamik bekommen hat: Im Zentrum steht seither der Kampf um eine menschliche Gesellschaftsordnung:

Darwin hatte drei Jahrzehnte intensivster und in ganz verschiedene Bereiche der Naturwissenschaft führende Forschungen und Veröffentlichungen hinter sich, darunter ein zweibändiges Werk über barnacles (Seepocken oder Rankenfüßer), das ihn sieben Jahre lang beschäftigt hatte, eine Arbeit, an der er seine Theorien und seine Methoden einer qualvoll harten Probe unterzog; er war fünfzig Jahre alt, als er 1859 endlich das erste seiner das Menschenbild revolutionierenden Werke herausbrachte: »The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life« (Entstehung der Arten durch natürliche Auswahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein). Das späte Datum der Drucklegung ist nicht nur darauf zurückzuführen, daß Darwin in ungemein gewissenhafter Arbeit Tausende und Tausende von Befunden, Beweisen, Gegenargumenten zusammengetragen und geprüft, Berichte und Belege aus aller Welt angefordert und erhalten, Fachkollegen konsultiert, eigene Zuchtversuche unternommen hatte – das Konzept war in seinem Kopf und in seinen Niederschriften längst vorhanden. Er habe schon seit 1838 dazu geneigt, »an das Prinzip der Evolution zu glauben«, teilt Darwin selbst mit. Das war fünfzehn Jahre vor Erscheinen der »Origin« und siebenundzwanzig Jahre, ehe er in »The Descent of Man and Selection in Relation to Sex« (Die Abstammung des Menschen und Selektion in bezug auf das Geschlecht) 1871 die letzten Konsequenzen zog, dem er dann im Jahr darauf das ursprünglich als Teil von »Descent« gedachte »The Expression of the Emotions in Man and Animals« (Der Ausdruck der Emotionen im Menschen und in Tieren) folgen ließ. Seinem Freund, dem Botaniker Hooker, einem seiner Mitstreiter, schrieb Darwin:

»Ich bin beinahe überzeugt (ganz im Gegensatz zu der Meinung, mit der ich begann), daß die Arten (es ist wie das Eingeständnis eines Mordes) nicht unveränderlich sind.« [I am almost convinced (quite contrary to the opinion I started with) that species are not (it is like confessing a murder) immutable] (Desmond/Moore, S. 314).

Darwin verzögerte die Veröffentlichung seiner Ergebnisse, weil er die giftigen Angriffe fürchtete, die sie, wie er wußte, provozieren würden. Es ist nicht unerheblich zu wissen, daß er sich 1858 endlich zur Publikation deshalb entschloß, weil er befürchten mußte, Arbeiten anderer Forscher, vor allem die von Alfred Russel Wallace (1823–1913), würden ihm zuvorkommen.

Glaube und frühe Zweifel

Bürgerliche Weltbilder und religiöse Konzepte brauchen nicht ineinander aufzugehen; das läßt sich an der Geschichte der Darwinschen Theorien ersehen. Noch im 17. Jahrhundert wurde die Chronologie der Erd-, der Natur- und der Menschengeschichte aus der Bibel bezogen, konnte ein angesehener Gelehrter der Cambridge Universität erklären, er habe aus Bibeldaten berechnet, die Erschaffung des Menschen habe am 23. Oktober, um neun Uhr früh des Jahres 4004 vor Christi Geburt stattgefunden. Selbst Isaac Newton (1643–1727) hatte die Chronologie der Bibel studiert. Zur Zeit von Darwins Kindheit und Jugend war »Natural Theology« (Naturtheologie) weithin akzeptiert. Als Darwin am Christ’s College in Cambridge studierte, war das dreibändige Hauptwerk eines damals berühmten Kirchenmannes, William Paisley, Glaubensartikel und Prüfungsgegenstand. (Das letztere war es noch zu Anfang des 20. Jahrhunderts.) Darwin studierte das ausführliche Werk, dessen Grundgedanke es war, Gott habe Erde und Tiere, und zwar jede Tierart einzeln, zum Zweck der Nützlichkeit für die Menschen erschaffen, keineswegs mit innerem Widerstand. Hätte er nicht durch Lebenszufälle die Möglichkeit erhalten, an der von der Admiralität veranstalteten Forschungsreise der »Beagle« teilzunehmen, die die natürlichen Gegebenheiten Nord- und Südamerikas und pazifischer Inseln erkunden sollte und von 1831 bis 1836 dauerte, er hätte sicher seiner Familie und seinen eigenen Wunsch erfüllt, Pfarrer zu werden. Freilich ein naturforschender Pfarrer, wie es deren mehrere gab im damaligen England. Die wundervolle Zweckmäßigkeit von Anatomie und Physiologie, die sich in jedem Lebewesen nachweisen läßt, diente als Beweis für die Weisheit und Güte Gottes. Aber es gab unter den Amateurnaturforschern auch solche, die »transmutation«, mehr oder minder gleichbedeutend mit dem späteren »evolution«, als das wirkende Prinzip erkannten. In einer der späteren Ausgaben seines »Origin« führte Darwin selbst rund dreißig Vorläufer bei der Entdeckung des Evolutionsgedankens auf. Ob es diesen auch aufdämmerte, daß das Evolutionsprinzip den Gottesbegriff überflüssig zu machen geeignet ist, bis zu welchem Grad es ihnen bewußt wurde und was sie daraus für Schlußfolgerungen zogen, ließe sich nur nach sorgfältigem Studium der Individualbiographien, gesehen im Zusammenhang mit der Ideengeschichte der Zeit, entscheiden. Was Darwin selbst angeht, läßt sich eine solche Entscheidung treffen; die zahllosen Briefe, Notizen, Forschungsberichte, die wir von ihm haben, gestatten tiefe Einblicke auch in seine nicht-naturwissenschaftliche Denkarbeit. Eine charakteristische Briefstelle sei zitiert:

»Ich kann mich nicht dazu überreden, daß ein wohlwollender und allmächtiger Gott die Ichneumonidae geschaffen hat (eine Art von Schlupfwespen, die ihre Eier in lebendige Raupen legen – G. K.), mit der ausdrücklichen Absicht, sich innerhalb der lebendigen Leiber von Raupen zu ernähren.« (I cannot persuade myself that a beneficient and omnipotent God would have designedly created the Ichneumonidae with the express intention of their feeding within the living bodies of Caterpillars.) (Desmond/Moore, S. 479)

Es wird von keinem Forscher bezweifelt, daß Darwin als Folge seiner Forschungen und Überlegungen nicht bloß den Christenglauben aufgab – auch der Tod der heißgeliebten Tochter Annie im Alter von zehn Jahren trug dazu bei –, sondern daß Darwin wußte, Evolutionstheorie und Eingreifen Gottes lassen sich nicht versöhnen. Es gibt zahlreiche Belege dafür, daß Darwin jede Form von Teleologie strikt ablehnte; daß die Natur nicht nach einem Plan oder auf ein wie immer geartetes Ziel gerichtet funktioniere, stand für ihn fest.

Eine weiterreichende Frage jedoch, nämlich die, ob Darwin das Walten eines außernatürlichen Wesens annahm oder nicht, diese Frage läßt sich nicht eindeutig beantworten. Das hängt damit zusammen, daß Darwin, der äußerst sensibel auf Ablehnung oder Kritik reagierte, seine innersten Regungen, seine Zweifel und seine Häresien für sich zu behalten suchte. Selbst seiner eigenen Frau gegenüber – an der er hing, die ihm unentbehrlich war, mit der er dreiundvierzig Jahre zusammenlebte und zehn Kinder hatte –, selbst ihr gegenüber konnte er in Sachen des Gottesglaubens nicht aufrichtig sein. Emma Wedgwood, seine Kusine, bevor sie 1839 zustimmte, seine Frau zu werden, hatte ernste Bedenken, ob nicht Charles’ Ideen gottlos seien. Er konnte sie, später andere, davon überzeugen, daß das nicht der Fall sei, aber seine Äußerungen dazu sind widersprüchlich. Gott könnte ja, wie Deisten meinen, das Prinzip, das Gesetz der Evolution erschaffen und es dann sich selbst überlassen haben. Darwin dürfte die Entscheidung, ob sich das so verhalte oder nicht, niemals endgültig getroffen, vielmehr das ganze Problem aus seinem Denken verbannt haben.

Schranken des Bürgertums

In der Familie, in die Charles Darwin 1809 hineingeboren wurde, gab es viele angesehene, tüchtige, reiche Leute. Der Großvater, Erasmus Darwin, war Arzt, »freethinker«, Freidenker, und Lebenskünstler. Sein Sohn Robert Darwin, Charles’ Vater, gleichfalls Arzt, hatte es zu ansehnlichem Vermögen gebracht, ein Haus gebaut, fünf Kinder gezeugt. Charles – acht Jahre alt, als seine Mutter starb –, von drei älteren Schwestern bemuttert, behütet und behindert, wuchs in einer Atmosphäre der Gutbürgerlichkeit auf. Der Vater hatte die Forschungsreise, das Studium und die Existenz nach dem Studium finanziell ermöglicht. Auch Emma Wedgwood brachte Geld in die Ehe mit. Nach einigen Jahren in London, das Darwin als laut, übelriechend und unruhig empfand – es war die Zeit, da die Chartistenbewegung Millionen Menschen erfaßte –, ließen sich die Darwins im September 1842 in einem Haus im dörflich-stillen Downe, Kent, nieder. Finanziell waren sie unabhängig, besaßen Güter, Darwin investierte in der englischen und amerikanischen Industrie, kaufte und verkaufte Eisenbahnaktien. Es war die Zeit des fieberhaften Eisenbahnbaus und der fieberhaften Spekulationen, eine Situation, die den hypersensitiven, stets kränkelnden Darwin nicht zur Ruhe kommen ließ. Mit sozialen Aktivitäten wünschte Darwin sich nicht zu bemengen. Mit radikalen Bewegungen wollte er nichts zu tun haben. Als ein radikaler Politiker zusammen mit Annie Besant (1847–1933), einer damals weithin bekannten Sozialistin und Publizistin, vor Gericht stand, weil die beiden empfängnisverhütende Mittel öffentlich empfohlen hatten, riefen die Angeklagten Darwin als Zeugen auf. Sie nahmen an, ein Gelehrter, der so viel zur Bekämpfung des Aberglaubens getan hatte, müsse auf ihrer Seite sein. Darwin indes bat das Gericht in beschwörenden Worten, nicht auf seiner Einvernahme zu bestehen; keinesfalls aber würde er zu Gunsten der Angeklagten aussagen, er habe die entgegengesetzte Meinung zur Geburtenkontrolle. Daß Frauen Männern intellektuell unterlegen seien, gehörte ebenso zu seinen Überzeugungen; auch meinte er, »freethinking« gezieme nur den Gebildeten (Desmond/Moore, S. 627, 657, 659). Darwin haßte Sklaverei, die Armut der Nicht-Priviligierten bedrückte ihn. Der armen Bevölkerung von Downe half er, indem er Sparmaßnahmen innerhalb ihrer Familienhaushalte vorschlug und organisierte.

Ein Bildungserlebnis

Eine Analyse der Probleme, von denen sich Darwin distanzieren wollte, erreichte ihn per Post. Er erhielt im Juni 1873 ein Exemplar der zweiten Auflage des von Marx bedeutend überarbeiteten 1. Bandes des »Kapital«, in das Marx eine Widmung geschrieben hatte. Darwin reagierte mit einem Brief (siehe die Abbildungen). Die Widmung hat den Wortlaut:

»Mr. Charles Darwin

On the part of his sincere admirer

Karl Marx

London, 16 June 1873

1, Modena Villas

Maitland Parc Road« (Mr. Charles Darwin, von einem aufrichtigen Bewunderer, Karl Marx, London, 16. Juni 1873, 1, Modena Villas, Maitland Parc Road).

Der Brief hatte den Wortlaut:

»Oct 1. 73

Dear Sir

I thank you for the honour which you have done me by sending me your great work on Capital; and I heartily wish that I was more worthy to receive it, by understanding more of the deep and important subject of political economy. Though our studies have been so different, I believe that we both earnestly desire the extension of knowledge and that this in the long run is sure (to) add to the happiness of Mankind.

I remain, dear Sir yours faithfully

Charles Darwin« (1. Oktober 1873, Sehr geehrter Herr, ich danke Ihnen für die Ehre, die Sie mir durch die Übersendung Ihrer großen Arbeit über Kapital erwiesen haben; und ich wünsche herzlich, daß ich würdiger wäre, es zu empfangen, indem ich mehr von dem tiefen und wichtigen Gegenstand Politische Ökonomie verstünde. Obwohl unsere Studien so verschieden waren, glaube ich, daß wir beide ernsthaft die Ausdehnung des Wissens wünschen und daß dies auf lange Sicht sicher das Glück der Menschheit vermehren wird. Ich bin, sehr geehrter Herr, aufrichtig Ihr Charles Darwin).

Zwar hatte Darwin (von den 820 Seiten des Buches) nur die ersten 105 Seiten aufgeschnitten und gelesen, auf denen über Wertform, Äquivalenzform, Geldform, Fetischcharakter der Ware zu lesen war, genug, um Darwin zu überzeugen, daß Politische Ökonomie ein tiefer und wichtiger Gegenstand sei. Das hatte er bisher nicht gesehen. Politische Ökonomie war im damaligen England lange vor Marx im Kampf gegen die Ungerechtigkeit des Kapitalismus betrieben worden im Zusammenhang mit der politischen Bewegung, vor der Darwin aus London geflohen war. In seinem Exemplar des »Kapital« hatte er nicht weit genug gelesen, um zu erkennen, daß es Marx um das ging, was Brecht später Eingreifendes Denken nannte. Für Darwin war die Lektüre ein Bildungserlebnis. Sein Brief an Marx war aufrichtig. Er konnte sehr scharf reagieren, wenn ihm ein Mensch oder dessen Schriften mißfielen. Es gibt beispielsweise einen Brief von ihm, in dem er in der Tat seine Erlaubnis, ihm eine Schrift zu widmen, schroff verweigert. Da in England sich die Legende zäh am Leben erhält, Darwin habe sich eine Widmung von Marx verbeten, sei gesagt, jener Ablehnungsbrief vom Oktober 1880 war an Edward Aveling gerichtet (siehe dazu Dominique Lecourt). Und wäre es ihm nur um eine höfliche Danksagung gegangen, er hätte nicht seine eigene Leistung mit der von Marx zusammengeklammert.

Auch die Bewunderung, derer Marx Darwin in seiner Widmung versicherte, war echt. Es war Engels, der Marx auf Darwin hinwies, er hatte »Origin« im Jahr des Erscheinens gelesen und Marx (Brief vom ca. 12.12.1859, MEW 29, S. 524) davon berichtet, er finde das Werk »ganz famos«, noch nie sei »ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen«. Im Jahr darauf hatte auch Marx Origin gelesen und schrieb darüber an Engels.

»Obgleich grob englisch entwickelt, ist dies das Buch, das die naturhistorische Grundlage für unsere Ansicht enthält« (Brief vom 19. 12. 1860, MEW 30, S. 131).

Und dann, eineinhalb Jahre später, wieder an Engels:

»Mit dem Darwin, den ich wieder angesehn, amüsiert mich, daß er sagt, er wende die Malthussche Theorie auch auf Pflanzen und Tiere an, als ob bei Herrn Malthus der Witz nicht darin bestände, daß sie nicht auf Pflanzen und Tiere, sondern nur auf Menschen – in der geometrischen Progression – angewandt wird im Gegensatz zu Pflanzen und Tieren. Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Aufschluß neuer Märkte, ›Erfindungen‹ und Malthusschem ›Kampf ums Dasein‹ wiedererkennt. Es ist Hobbes’ bellum omnium contra omnes, und es erinnert an Hegel in der ›Phänomenologie‹, wo die bürgerliche Gesellschaft als ›geistiges Tierreich‹, während bei Darwin das Tierreich als bürgerliche Gesellschaft figuriert.« (Brief vom 18.6.1862, MEW 30, S. 249)

In schlechter Gesellschaft

Darwin war bei seinem Versuch, die bürgerliche Gesellschaft zu verteidigen, auf eine sehr frühe Schrift eines der vielen Autoren gestoßen, die, aufgeschreckt von den während der Französischen Revolution 1789 getroffenen Maßnahmen zum Aufbau einer menschlichen Gesellschaftsordnung, behaupteten, dergleichen Maßnahmen seien nicht nur vergeblich sondern auch gefährlich. Der Reverend Malthus war einer dieser Autoren. Von der irrigen Annahme ausgehend, Menschen brauchten mehr als sie produzieren können, kam er in seiner 1790 erschienenen Schrift zu der Schlußfolgerung, es gäbe überflüssige Menschen, Fürsorge für Arme sei, da sie zur Existenz Überflüssiger beitrage, schädlich. Malthus war, nicht nur bei Darwin, äußerst erfolgreich. Bis zum heutigen Tag gehört die kriminelle Behauptung, es gäbe »disposable people«, zum Instrumentarium der radikalen Verfechter des kapitalistischen Systems. Darwin aber fühlte sich in solcher Gesellschaft nicht wohl. Die apologetischen Züge in Darwins Darstellungsstil, seine stetige Suche nach neuen Argumenten, seine gelegentliche Zurücknahme von früher Gesagtem kommen daher. Im Krimkrieg 1853–56 suchte er dessen Gräßlichkeiten als Kampf ums Dasein zu entschuldigen. Aber im »Origin«, 1859, entschuldigt er sich für die Verwendung des Begriffs. Er verwende den Begriff »in einem weiten und metaphorischen Sinn«, versichert er, er ziehe auch die wechselseitige Abhängigkeit der Lebewesen in Betracht, die ja nicht gut als Kampf bezeichnet werden könne, und nur in diesem allgemeinen, verschiedene Bedeutungen umfassenden Sinne verwende er »der Bequemlichkeit zuliebe« (for convenience sake) den Ausdruck (1859, S. 116).

Unbeschwert von solchen Sorgen sind Darwins revolutionäre Leistungen als Forscher; sie werden in Walter Hollitschers Darstellung folgendermaßen zusammengefaßt:

»In Darwins Werken werden mannigfaltige Beweisgründe für die Entwicklung der Arten, für die Abstammungslehre (Deszendenzlehre) systematisch zusammengetragen: Beweise aus der Fossilienkunde, der vergleichenden Anatomie und Physiologie, der Tier- und Pflanzengeographie, der Embryologie sowie der Lehre von den rudimentären Organen. Diese letzteren sind funktionslos gewordene Überreste von Gebilden, die bei den stammesgeschichtlichen Vorfahren lebensnotwendig waren und bei deren Nachkommen verkümmert sind. Die stattgefundene Evolution erklärt Darwin mit natürlicher und gesellschaftlicher Zuchtwahl.

Die Lehre von der biologischen Evolution ist seitdem Wesensbestand der wissenschaftlichen Biologie. Der von Darwin aufgewiesene ›Mechanismus‹ der Evolution ist von nun an Gegenstand der Forschung, seit mehreren Jahrzehnten auch des exakten Experiments und der mathematischen Analyse.« (Hollitscher 1965: 328 f.).

Auch seither sind Darwins Befunde mit neuen Ergebnissen der Forschung konfrontiert, zum Teil modifiziert oder auch korrigiert worden. Seine Grundgedanken sind Bestandteil modernen Denkens.

Problematische Verallgemeinerungen

Das gilt nicht für Darwins Theorie des menschlichen Geistes. Er stellt sie folgendermaßen dar:

»Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Unterschied zwischen dem Geist (mind) des niedrigsten Menschen und dem des höchsten Tieres immens ist. Ein menschlicher Affe, könnte er einen objektiven Blick auf seinen eigenen Fall werfen (take a dispassionate view of his own case) würde zugeben, daß er zwar einen listigen Plan zur Plünderung eines Gartens machen, daß er zwar Steine zum Kampf oder zum Öffnen von Nüssen verwenden könne, daß aber der Gedanke, einen Stein zu einem Werkzeug zu gestalten, ganz außerhalb seines Horizonts liege. Weniger noch, so würde er zugeben, könnte er einen Gedankengang metaphysischer Überlegungen verfolgen, ein mathematisches Problem lösen, über Gott nachdenken, eine großartige Naturszene bewundern. Einige Affen hingegen würden wahrscheinlich erklären, daß sie die Schönheit der Farbenpracht von Haut und Fell ihrer Ehepartner (partners in marriage) bewundern können und das auch tun. Sie würden zugeben, daß, obwohl sie anderen Affen durch Schreie Mitteilung machen können von ihren Wahrnehmungen und ihren einfachereren Bedürfnissen, die Vorstellung ihnen niemals in den Sinn gekommen war, bestimmte Ideen durch bestimmte Schälle auszudrücken. Sie mögen darauf bestehen, daß sie bereit seien, ihren Affenkameraden aus dem gleichen Trupp in vielfacher Weise beizustehen, ihr Leben für sie zu riskieren, ihre Waisen in Obhut zu nehmen; aber sie wären gezwungen anzuerkennen, daß selbstlose Liebe (disinterested love) für alle lebenden Kreaturen, die nobelste Eigenschaft des Menschen, völlig außerhalb ihrer Fassungskraft liege.« (1871, I: 104 f.).

Den unmittelbar anschließenden Absatz beginnt Darwin mit den entscheidenden Worten:

»Nichtsdestoweniger ist der Unterschied zwischen dem Geist des Menschen und dem höherer Tiere, groß wie er ist, gewiß einer des Grades und nicht der Art.« (one of degree and not of kind)

Nicht bloß den Begriff mind (Geist) verwendet Darwin gleicherweise für Tier und Mensch, sondern auch die Begriffe Schönheit, Emotionen mit mehreren Unterbegriffen wie Furcht, Freude und andere, auch Ehe und auch Musik. Zikaden, Grillen und sogar Fröschen wird die Fähigkeit des Gesangs (singing) zugeschrieben: »… manche Frösche singen in einer ausgesprochen angenehmen Art«, heißt es (1871, II: 27) und auf siebzehn Seiten werden Beispiele für (mit der Larynx erzeugte) Vokalmusik zum Unterschied von geräuschhaft mittels Federn oder Schnäbeln erzeugter Instrumentalmusik verschiedener Vogelarten gegeben (ebenda: 51 ff.). »Singen«, schreibt Darwin – und er spricht von Tieren (ebenda: 55) – »ist zu einem Grad (to a certain extent) eine Kunst«. Die Unzulänglichkeiten der Methode der Extrapolation werden hier greifbar; Darwin sah das:

»Zweifellos wäre es sehr interessant gewesen, die Entwicklung jeder einzelnen Fähigkeit von dem Status, in dem sie bei den niederen Tieren existiert, zu dem, in dem sie beim Menschen existiert, zu verfolgen; aber weder mein Können noch mein Wissen gestatten den Versuch.« (Undoubtely it would have been very interesting to have traced the development of each seperate faculty from the state in which it existes in the lower animals to that in which it existes in man, but neither my ability nor knowledge permits the attempt.) (187)

Darwin verfehlte die Spezifik der Kunst und die Spezifik der Wissenschaft; auch sah er nicht – obwohl diese Einsicht unter seinen Zeitgenossen heranreifte –, daß das Wissen zu den Errungenschaften der Menschheit gehört, das körperlich Arbeitende durch ihre körperliche Arbeit erworben haben.

Unverlierbares Erbe

Aber zur Verteidigung von Herrschaftssystemen taugen Darwins Gedanken nicht. Die herrschende Klasse Englands hat Darwin nicht verziehen, daß er Gott als Schöpfer abschaffte und selbst Religion nicht durch göttliche Inspiration, sondern durch natürliche Evolution entstehen sah. Der kaum glaubhafte Tatbestand, daß eine zu Anfang des 20. Jahrhunderts begonnene Gesamtausgabe von Darwins Werk es sage und schreibe auf einen Band gebracht hat und daß bis heute ein beträchtlicher Teil seiner Schriften, Notizen, Briefe unediert geblieben ist, ist symptomatisch. Erst recht in den USA wurde und wird mit enormem finanziellen Aufwand Darwin diskreditiert. So wird, nur allzu erfolgreich, unter anderem der Unfug des »Creationism« gefördert – der mit Eifer und Gelehrsamkeit in eigens dafür gegründeten Universitäten und Instituten betriebene Versuch, den Schöpfungsmythos an die Stelle des tatsächlichen Geschichtsverlaufs zu schieben. Bis zum heutigen Tag glaubt – wenn Umfragen vertraut werden kann – mehr als die Hälfte der Bevölkerung der USA daran, daß Gott ihre Geschicke lenkt.

Mit dergleichen Verdunkelungsmanövern ist Darwins Denken unvereinbar. Sein großes Konzept hat nicht nur – mit einer Genauigkeit und einer Gründlichkeit, die im 19. Jahrhundert keine Parallelen hatten – das Wissen der Menschheit vermehrt; es besteht darauf, daß Wissen eine der Voraussetzungen des Glücks der Menschheit ist. Darwins Konzept ist unverlierbarer Bestandteil des modernen Denkens.

* Zitierte Literatur:

– Charles Darwin, The Origin of Species by Means of Natural Selection or The Preservation of Fa­voured Races in the Struggle For Life (1859), London 1982

– ders., The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex (1871), 2 Bde., Princeton, NJ 1981

– Adrian Desmond u. James Moore, Darwin, London 1991

– Walter Hollitscher, Die Natur im Weltbild der Wissenschaft, Wien 1965

Aus: Georg Knepler, Macht ohne Herrschaft. Die Realisierung einer Möglichkeit, hrsg. v. Stefan Huth, Berlin 2004

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