vonHelmut Höge 08.03.2011

Hier spricht der Aushilfshausmeister!

Helmut Höge, taz-Kolumnist und Aushilfshausmeister, bloggt aus dem Biotop, dem die tägliche taz entspringt.

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Photo: facebook, arabian revolution


Die libyschen Rebellen in den befreiten Gebieten scheinen ihre Organisationsvorstellungen von Gaddafis “Grünem Buch” abgeleitet zu haben, in dem es um die Konzeption einer Basisdemokratie (ohne Parteien, Parlamente und den ganzen Quatsch) geht.Sein “Grünes Buch” ist immer noch sehr lesenswert – und wenn es hilft, den Autor als Herrscher zu liquidieren, um so besser. Eigentlich müßte das ganz in seinem Sinne sein. Außerdem: Wer so ein Buch schreibt und dann irgendwelche dusseligen Ami-Hupfdohlen für 45 Minuten privat nach Libyen einlädt, wofür er eine Million Dollar zahlt – der hat sowieso sein Leben verwirkt.


Im Freitag hat Lutz Herden einige politische Aktivitäten von Gaddafi zusammengetragen:

Arabien hat mit Muammar al-Gaddafi gebrochen, will ihn weder entbehren noch vermissen. Und Afrika? Es verliert mit dem arabischen Führer einen Pan-Afrikaner, wie es keinen anderen gab. Die Dekade zwischen 2001 und 2011 wäre für die Afrikanische Union (AU) – den zweiten großen Staatenbund nach der Organisation für Afrikanisch Einheit (OAU) – anders verlaufen, vielleicht nie zustande gekommen, hätte es den missionarischen Mentor aus Tripolitanien nicht gegeben. Als Randstaat im arabischen Nordafrika verschrieb sich Libyen bis zuletzt mit gläubiger Energie und unglaublichem finanziellen Aufwand der Integration seines Kontinent. Weder der Kenianer Jomo Kenyatta noch der Senegalese Léopold Senghor noch Nelson Mandela – um nur einige der historischen Führer Afrikas zu nennen – kam je auf die Idee, Vereinigte Staaten von Afrika auszurufen. Oberst Gaddafi tat es am 9. September 1999 in Sirrte. Und gab den überzeugten Panafrikaner, der erhobenen Hauptes einem gescheiterten Panarabismus zu entkommen suchte.

Als er seine Proklamation verlas, erinnerte man sich des Zeremoniells von Khartum gut 30 Jahre zuvor, am 8. Juni 1970. Gaddafi, damals 28 und noch kein Jahr im Amt, beschwor zusammen mit den Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Dschafar an-Numairi den Zusammenschluss Libyens mit Ägypten und dem Sudan. Diese Union – mehr Blendwerk ihrer Schöpfer als realpolitische Größe – hatte ausgedient, als Nasser drei Monate später überraschend starb und Nachfolger Sadat wenig Neigung verspürte, mit dem Libyer weiter Bruderküsse zu tauschen. Gaddafi hielten diese und andere Enttäuschungen nicht davon ab, nach Sirrte zu gehen und einen neuen, diesmal panafrikanischen Anlauf zu nehmen.

Als im sambischen Lusaka Mitte 2001 ein letzter Gipfel die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) der Geschichte überließ und die Transformation zur Afrikanischen Union (AU) besiegelt war, kursierte unter den 53 Delegationen ein „Konstitutivakt“ , der viel versprechender kaum sein konnte. Man wollte tatsächlich aufbrechen zu Vereinigten Staaten von Afrika. Es sollte Vorstufen geben, gegen die vier Jahrzehnte OAU wie ein bescheidenes Vorspiel wirkten: die AU wollte ein gemeinsames Parlament (das es heute im südafrikanischen Midrand gibt), eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Armee, die Afrikanische Zentralbank, einen Afrikanischen Gerichtshof. Das institutionelle Muster EU schien unverkennbar, als sollte auf dieser Weise beteuert werden: Gaddafi will als einer der Schirmherren dieser Integration kein weltenferner Visionär mehr sein, den die Utopien für das Machbare entschädigen.

Der Spiegel schreibt heute über Libyen:

Unser Reporter Clemens Höges berichtet aus der Stadt: “Die Luftwaffe hat wieder Ras Lanuf bombardiert, aber die Stellungen nicht getroffen.” Die Lage sei sehr angespannt: “Alle erwarten für heute größere Gefechte.” Die Rebellen versuchen trotz der Angriffe, von Ras Lanuf aus weiter nach Osten vorzurücken. Angeblich haben die ersten schon die halbe Strecke bis Ben Dschawad geschafft.

Auch in Sawija im Westen Libyens gibt es am Dienstag wieder Kämpfe. Ein Augenzeuge berichtete der Agentur AP, Gaddafi-Anhänger hätten die Stadt eingenommen. Wie es weiter hieß, fuhren Panzer und andere Kampffahrzeuge der regimetreuen Truppen in die Stadt und feuerten willkürlich auf die Häuser. Ähnliches berichtet al-Dschasira.

Die Rebellen haben offenbar noch weitere Probleme: Den Aufständischen im Osten Libyens droht das Benzin auszugehen. In der von den Gaddafi-Gegnern kontrollierten Landeshälfte gebe es nur noch Fahrzeug-Treibstoff für eine Woche, berichtete die in Dubai erscheinende Tageszeitung “Gulf News” unter Berufung auf einen Beamten der Übergangsregierung in der ostlibyschen Metropole Bengasi.

Die Junge Welt zieht heute einen Vergleich zwischen der sich anbahnenden Unterstützung der lybischen Rebellen gegen die Truppen und Söldner des Gaddafi-Regimes durch NATO, CIA, US-Air Force etc. und deren Engagement in Bosnien:

Neben der »no-fly-zone« sind auch verdeckte militärische Operationen und die Aufrüstung der Ghaddafi-Gegner im Gespräch, wie weiland in Bosnien in den 90er Jahren, als die NATO die antijugoslawischen Sezessionskräfte unterstützt und den Bürgerkrieg dort um Jahre verlängert hatte.

Der Vergleich Libyen Bosnien hinkt jedoch, auch war das kein Bürgerkrieg in Bosnien, sondern ein Nationalitätenkrieg um Territorien, in Bürgerkriegen geht es nicht um Territorien. Auch in Libyen findet kein Bürgerkrieg statt, sondern ein Volksaufstand gegen ein schändliches  Regime. Im übrigen ist der “Bürgerkrieg” nur ein anderes Wort für Klassenkampf, wie Rosa Luxemburg gegenüber der verbrecherischen deutschen Sozialdemokratie hervorhob.

Was die Junge Welt aufzählt an personellen und technischen Möglichkeiten der USA, die libyschen Rebellen zu unterstützen, wird außerdem zum großen Teil von diesen abgelehnt.

Derzeit sind alle Augen auf Libyen gerichtet. Die Aufständischen müssen um jeden Preis siegen, sonst ist die ganze Arabische Revolution gefährdet. Die richtige Frage dabei stellen sich nicht die Amis, die Nato, die JW, Chavez oder sonstwer, sondern immer mehr aufständische Araber in den Nachbarländern: Sollen sie internationale Brigaden aufstellen, um das Gaddafi-Regime gemeinsam zu besiegen?


AP meldet um 16 Uhr:

Im Zuge der Gegenoffensive der libyschen Streitkräfte haben Kampfflugzeuge am Dienstag mindestens fünf Luftangriffe auf Stellungen der Aufständischen in der Nähe des Ölhafens Ras Lanuf geflogen. Tote oder Verletzte habe es dabei offenbar nicht gegeben, sagte ein Reporter der Nachrichtenagentur AP, der die Angriffe beobachtete.

Die Stadt Sawija in der Nähe der Hauptstadt Tripolis wurde nach Augenzeugenberichten bereits von Anhängern von Machthaber Muammar al Gaddafi zurückerobert. Ein Augenzeuge berichtete telefonisch, Panzer und andere Kampffahrzeuge der regierungstreuen Truppen patrouillierten in der Stadt und feuerten willkürlich auf Häuser.

“Die Stadt liegt in Ruinen”, sagte der Augenzeuge. “Manche Gebäude sind völlig zerstört und in den Straßen wird auf jeden geschossen. Es gibt viele Verletzte, aber den Krankenhäusern geht das Material aus.” Außerdem seien in Sawija alle Strom-, Telefon- und Internetverbindungen unterbrochen worden.

Ein Sprecher des libyschen Nationalrats erklärte unterdessen, ein angeblicher Gesandter Gaddafi habe Kontakt zur Opposition in der Stadt Bengasi aufgenommen und Gespräche über einen möglichen Rücktritt des Staatschefs angeboten. Es könne jedoch nicht überprüft werden, ob der Mann tatsächlich auf Geheiß Gaddafis handelte oder aus eigener Initiative aktiv geworden sei, sagte Mustafa Gheriani der Nachrichtenagentur AP. “Unsere Haltung ist klar: Keine Verhandlungen mit den Gaddafi-Regime”, sagte Gheriani.

Der österreichische “Standard” hat gute Nachrichten, wahrscheinlich stimmen sie nur leider nicht:

Ultimatum: Rebellen geben Gaddafi 72 Stunden Zeit, um das Land zu verlassen. Keine US-Waffenlieferung an Rebellen – Luftschläge gegen Stellungen der Rebellen in Ölregion

In Libyen scheinen sich die Anzeichen für eine Niederlage des Gaddafi-Regimes zu verdichten. Der Standard berichtet auch heute wieder live  über die Ereignisse in dem nordafrikanischen Land. Unterhalb steht wieder ein Diskussionsforum bereit. Bitte bleiben Sie sachlich und behandeln Sie einander mit Respekt.

In jedem arabischen Aufstand spielt das Militär eine andere Rolle. In Libyen ist es auf die Seite der Aufständischen übergetreten und hat sich einem “Nationalrat” unterstellt, der seine Basis in den neuen “Volkskomitees” der “befreiten Gebiete” hat. Diese befinden sich im wirtschaftlich von Gaddafi vernachlässigten Osten des Landes. In Tunesien stellte sich das Heer zwischen Polizei und Demonstranten. In Ägypten hat das Militär, dem große Teile der Landwirtschaftsflächen gehören, den Übergang zu einer Neuordnung geschafft – jedenfalls bis jetzt. Bei der Stürmung der Staatssicherheitszentralen in den letzten Tagen stellte sich gegen die Demoinstranten.

Aus dem Jemen berichtete AP um Mitternacht:

Die jemenitischen Streitkräfte haben am Dienstag die von Studenten besetzte Universität in der Hauptstadt Sanaa gewaltsam gestürmt. Wie Augenzeugen berichteten, gingen die Soldaten dabei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die jungen Männer und Frauen vor, die für einen Rücktritt des Präsidenten Ali Abdullah Saleh demonstriert hatten. Nach Angaben von Ärzten wurden 98 Menschen verletzt, viele von ihnen schwer.

Zuvor hatten sich etwa 2.000 Häftlinge den Protesten gegen Saleh angeschlossen und in einem Gefängnis in Sanaa gemeutert. Der Aufstand sei am späten Montag ausgebrochen, sagte ein Behördenvertreter am Dienstag. Die Häftlinge hätten mehrere Wachleute als Geiseln genommen und bessere Haftbedingungen gefordert. Das Sicherheitspersonal habe Tränengas eingesetzt und in die Luft geschossen. Mindestens ein Häftling kam ums Leben, 80 Menschen wurden verletzt, wie die Polizei mitteilte.

Inspiriert von den Protesten in Tunesien und Ägypten kommt es seit Wochen im Jemen zu Protesten gegen die Regierung. In der Hauptstadt Sanaa war die Lage am Dienstag angespannt. Die Streitkräfte ließen Panzerwagen auffahren und besetzten wichtige Kreuzungen und Zufahrten zum Präsidentenpalast sowie zur Zentralbank.

In mehreren Städten der Provinz Ibb beteiligten sich Zehntausende an Protesten gegen das gewaltsame Vorgehen von mutmaßlichen Regierungsanhängern. Bei Zusammenstößen am Sonntag wurde eine Person getötet, 53 weitere wurden verletzt.

Auch aus den Provinzen Dhamar, Schabwa, Hadramaut und Tais wurden Proteste gemeldet. Nachdem am Montag ein junger Demonstrant von einer Kugel schwer am Kopf verletzt worden war, schloss sich am Dienstag eine Gruppe Frauen einem Protestzug in der Hafenstadt Aden im Süden des Landes an.

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kommentare

  • In einigen arabischen Ländern protestierten heute – am internationalen Frauantag – auch vermehrt die Frauen. Die Junge Welt berichtet aus diesem Anlaß über die Situation der Frauen in Ägypten und Algerien.

    “Bald wieder ausgebootet?” fragt Sigrid Lehmann-Wacker:

    Viele, die auf den Tahrir-Platz in Kairo gingen, taten es wegen Asmaa Mahfouz’ Aufruf zur Revolution über das Internet. Die junge Frau mit Kopftuch spricht in ihrer Videobotschaft ohne Pause, atemlos. Sie beginnt mit der Mitteilung, daß vier Ägypter sich selbst in Brand gesetzt hätten, um gegen Demütigung, Hunger, Armut und Erniedrigung zu protestieren. Sie hätten das auch in der Hoffnung getan, eine Revolution wie in Tunesien zu entzünden. Sie selbst aber wolle sich nicht verbrennen, sagt sie, und weiter: »Vielleicht können wir Freiheit, Gerechtigkeit, Ehre und Würde des Menschen haben. Wir wollen am 25. Januar zum Tahrir-Platz gehen. (…) Ich werde nicht über irgendwelche politischen Rechte, ich werde nur noch über Menschenrechte reden und sonst über gar nichts. Das ganze System ist total korrupt (…) Bring fünf Leute oder zehn mit zum Tahrir-Platz. (…) Nur zu Hause sitzen und die Revolution über Facebook oder Fernsehen zu verfolgen führt zu unserer Demütigung. Führt zu meiner eigenen Demütigung. (…) Wer sagt, Frauen sollten nicht zu Protesten gehen, weil sie geschlagen werden könnten, dem sage ich, laß uns unsere Ehre und Würde und komm mit mir am 25. Januar. (…) Komm und beschütze mich und andere Mädchen in dem Protest.« (frei übersetzt aus dem Arabischen).

    Nachdem Asmaa Mahfouz am 18. Januar das Video gepostet hatte, ging sie mit einer Fahne allein auf den Tahrir-Platz, drei junge Männer kamen noch dazu. Alle vier wurden vorläufig von der Polizei festgenommen. Die 26jährige studierte Betriebswirtin hatte schon im Frühjahr 2008 mit anderen die 6.-April-Jugendbewegung gegründet. Deren Aktivisten nutzten Facebook, um Unterstützung für einen Generalstreik der Arbeiter in Al-Mahalla zu mobilisieren. Daraufhin wurde Mahfouz von ägyptischen Sicherheitskräften schikaniert und verlor ihren Job als Buchhalterin.

    Nach dem 18. Januar aber griffen Dutzende Menschen ihre Botschaft auf und begannen, eigene Bilder zu posten. Sie hefteten sich Zeichen auf die Brust, die ihre Absicht erklärten, am 25. Januar auf die Straße zu gehen. Was sich daraus ergeben sollte, hatte zu Beginn kaum jemand für möglich gehalten. Amy Goodman von der Organisation »Democracy Now« meint, das Video von Asmaa werde als Auslöser der ägyptischen Revolution angesehen.

    Die Medien vergessen unterdessen gern die Rolle der Frauen. Oft heißt es, sie hätten sich »den Protesten angeschlossen«. Gerade die westliche Presse erwähnt selten, daß der führende Kopf der bereits seit drei Jahren existierenden Demokratiebewegung Ägyptens eine Frau ist. Auch auf der Straße waren es meist Frauen, die anfingen »Mubarak, hau ab!« zu skandieren.

    Auch in der Berichterstattung über die Erhebungen in Tunesien fehlen meist die Stimmen der Frauenrechtlerinnen, die dort die Proteste mit unabhängigen Radios oder als Bloggerinnen initiiert haben. Wo werden ältere Frauenrechtlerinnen, die die soziale Lage und mangelnde Gleichberechtigung von Frauen schon seit drei Generationen anprangern, interviewt? Auf Bildern sind oft glückliche Frauen und Mädchen zu sehen, aber sie werden selten zitiert. Viel ist über die Rechte der Frauen in muslimischen Ländern geschrieben worden. Ihre Mißachtung galt als Rechtfertigung für den NATO-Angriff auf Afghanistan. Jetzt schweigen sich die westlichen Medien weitgehend über die Rolle der Frauen im Widerstand aus.

    Ägypten ist seit 1971 eine moderne, demokratisch verfaßte Republik. Schon seit 1956 haben Frauen das Wahlrecht, es gibt viele gut ausgebildete Ägypterinnen, die voll im Berufsleben stehen. Dennoch ist Frauendiskriminierung allgegenwärtig. Alle sechs Minuten wird in dem Land eine Ehe geschieden. Fast immer wird den Frauen die Schuld daran gegeben. Das hat zur Folge, daß Frauen bislang selbst mit Kindern keinen Anspruch auf Unterhalt haben. Uneheliche Kinder haben nach wie vor keine Rechte und dürfen nicht zur Schule gehen. Mädchen wird aus Kostengründen oft die schulische Ausbildung vorenthalten, daher gibt es viele Analphabetinnen. Viele Frauen können nicht das staatliche Gesundheitssystem in Anspruch nehmen, da sie nicht im Besitz einer Geburtsurkunde oder eines Personalausweises sind. Wegen dieser fehlenden Papiere werden viele Mädchen verheiratet, bevor sie das dafür gesetzlich festgelegte Mindestalter von 16 Jahren erreicht haben – oft gegen ihren Willen. Sexuelle Belästigung auf offener Straße war bisher gang und gäbe. Deshalb wagten sich Frauen vor der Revolution selten ohne ihren Ehemann oder ihre Brüder in die Öffentlichkeit.

    Die krasseste, wenn auch tabuisierte Grausamkeit gegenüber Mädchen und Frauen zeigt sich in der weit verbreiteten Praxis der Verstümmelung der Geschlechtsorgane junger Mädchen. Ägypten liegt weltweit an der Spitze, was diese archaische Praxis betrifft: Mehr als 85 Prozent der 13- bis 19jährigen Schülerinnen sind heute »beschnitten«, auch solche aus gebildeten Kreisen. 2005 waren es nach USAID-Angaben sogar noch 96 Prozent. Genitalverstümmelung, unter deren Folgen Frauen ein Leben lang leiden, ist in Ägypten erst seit 2008 offiziell verboten. Es bleibt zu hoffen, daß praktische Rechtsprechung und Aufklärungsarbeit die grausamen Rituale bald beenden.

    Derzeit besteht die Gefahr, daß die Ägypterinnen nach der Revolution, die sie entscheidend geprägt haben, wieder abgedrängt werden. In dem vom Militär ernannten Komitee, das eine neue Verfassung erarbeiten soll, ist bislang keine einzige Frau vertreten.

    Wie seinerzeit in Algerien nach dem Befreiungskampf oder nach der maßgeblich von Frauen getragenen Revolution im Iran könnten sie auch in Ägypten bald wieder brutal unterdrückt werden. Mächtige Männerbünde einerseits, aber auch Angst und mangelnde Solidarität vieler Frauen schwächen den Kampf um ihre Rechte. Feministische Forderungen jetzt im Wahlkampf aufrechtzuhalten wird eine schwere Aufgabe.

    Die neue, gewaltfreie Opposition ist im Unterschied zur Muslimbruderschaft und der alten Elite, die über mächtige Seilschaften und Geld verfügen, kaum organisiert. Während der 18tägigen Besetzung schliefen Frauen und Männer nebeneinander auf dem Tahrir-Platz. Über sexuelle Belästigungen während dieser Aktionen wurde bis zum Rücktritt von Staatschef Hosni Mubarak nichts bekannt. Es ist aber zu befürchten, daß der Geist der Gleichheit nicht bestehen bleibt.

    Die wohl bekannteste ägyptische Frauenrechtlerin, Nawal Al-Saadawi (79) mahnt, Rückschritte nicht mehr stillschweigend hinzunehmen. Die Schriftstellerin und Ärztin wurde im Kindesalter selbst »beschnitten« und kämpft seit Jahrzehnten gegen diese und andere Menschenrechtsverletzungen. Für ihre Überzeugungen mußte sie ins Gefängnis gehen, ihre Bücher standen in ihrer Heimat bis vor kurzem auf dem Index. Die Islamisten haben sie noch immer auf ihrer Todesliste.

    Die »Überreste des Mubarak-Regimes« sind nach Meinung Al-Saadawis immer noch an der Macht. Sie glaubt nicht, daß es in fünf Monaten freie und faire Wahlen geben wird. »Sie ändern die Artikel, die zum Beispiel die Amtszeit des Präsidenten festlegen. Sie beschäftigen sich mit oberflächlichen politischen Dingen. Aber die Ungerechtigkeiten der Verfassung, egal ob in bezug auf Frauen oder Christen, werden nicht geändert«, monierte sie in einem Interview auf Welt online am 21. Februar. Immer noch steht im Artikel 2 der Verfassung, daß der Islam Staatsreligion und Hauptquelle der Gesetzgebung sei. Wenngleich es in Paragraph 11 der Verfassung heißt, Männer und Frauen seien gleichberechtigt, werde die Gesetzgebung weiter hauptsächlich im Sinne der Scharia ausgelegt, wenn in der neuen Verfassung nicht ausdrücklich Staat und Religion getrennt werden, ist Al-Saadawi überzeugt. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen Kapitalismus, wachsender Armut und damit zunehmendem Sexismus und Gewalt. Im Zeit-Interview (Ausgabe vom 24. Februar) antwortete sie auf die Frage, ob es eine andere Art der islamischen Kultur gebe, »die Natur der Frauen zu schätzen«: »So ein Quatsch! Was soll denn das für eine Natur der Frauen sein?« Der einzige Zweck dieses Begriffs sei es, »uns zu spalten, damit wir besser unterdrückt werden können. Hier gehen die Diktatoren und die Interessen des Westens Hand in Hand.«

    “Aufstand der Entmündigten” heißt der Artikel von Christine Belakhdar über die algerischen Frauen:

    Es ist an jedem 8. März das gleiche Spiel: Versammlungen, Konzerte, Blumensträuße und Lobreden auf die Frauen. Und danach? Für den Rest des Jahres bleibt alles wieder beim alten. Während des Befreiungskrieges in Algerien 1954 bis 1962 kämpften zahllose Frauen an der Seite der Männer. Sie leiteten Informationen weiter, gewährten Kämpfern Unterschlupf, transportierten Waffen in Einkaufskörben oder legten Bomben. Andere schlossen sich den Widerstandsgruppen an und sorgten in den Untergrundlagern für die Versorgung der Kämpfer oder waren für die medizinische Betreuung der Verletzten zuständig. bezahlten Engagement mit Gefängnis, Folter oder Tod. Sie wurden zu Kampf- und Leidensgefährtinnen. Die traditionelle Geschlechterordnung zerbröckelte, zahlreiche Frauen verließen die ihnen zugewiesene häusliche Sphäre. Die Führungsriege der Befreiungsfront FLN war gezwungen, den politisch erstarkenden Frauen einen Platz einzuräumen. So schuf Teilnahme der Frauen an der Befreiung Algeriens alle Voraussetzungen für ihre Beteiligung an der politischen und wirtschaftlichen Gestaltung ihres nun unabhängigen Landes. Doch den konservativen Kräften innerhalb der FLN war das Nebeneinander der Geschlechter ein Dorn im Auge, und es gelang ihnen, die Frauen wieder in die Rolle der Zuschauerin zu drängen.

    Die während des Befreiungskrieges und nach der erlangten Unabhängigkeit genährten Hoffnungen der Frauen auf Gleichberechtigung wurden im Namen fundamentalistisch-religiöser Werte und des Kampfes gegen den sogenannten Werteverfall westlichen Stils zunichte gemacht. Es herrschte Angst vor der selbstbewußten, finanziell unabhängigen Frau, die angeblich die Zerstörung der Familie herbeiführen und an den Grundfesten der traditionellen Gesellschaft rütteln könnte. Die konservative Riege in den Reihen der algerischen Machthaber, denen nicht daran gelegen war, an religiösen Prinzipien und Traditionen zu rütteln – was auch ihre Privilegien in Frage gestellt hätte –, verhinderte jegliche Öffnung zugunsten der Gleichstellung von Mann und Frau. Der Weg, den Algerien in den 60er Jahren zu gehen vorgab, nämlich den Sozialismus unter Wahrung der Prinzipien des Islam zu errichten, ohne sie einer kritischen Analyse zu unterziehen, war ein von der Einheitspartei FLN in die Welt gesetztes propagandistisches Zerrbild der Realität. So kam es, daß geltende Gesetze im Widerspruch zur Verfassung standen und noch immer stehen.

    Bis in die 1980er Jahre hinein unterlagen alle Algerierinnen und Algerier demselben Bürgerlichen Gesetzbuch. Noch hatten sich die Islamisten auch nicht als Partei organisiert, doch im Parlament saßen zahlreiche einflußreiche Konservative, denen vor der westlichen Gesellschaft im Allgemeinen und der Befreiung der Frau im Besonderen graute. Und so wurde im Juni 1984 von der Nationalvolksversammlung ohne vorherige öffentliche Diskussion ein Familiengesetz verabschiedet, das sich im wesentlichen auf die Scharia und die theologischen Grundsätze des Islam berief und fortan die Frau unter männliche Vormundschaft stellte. Artikel 8 erlaubt die im Rahmen der Scharia definierte Polygamie, wenn auch unter der Bedingung, daß alle geehelichten Frauen gleich zu behandeln seien. Artikel 11 legt einen Vormund, den Vater oder einen anderen nahen männlichen Verwandten als Voraussetzung für eine Eheschließung fest. Artikel 31 bestimmt, daß die Ehe mit einem nichtmuslimischen Partner besonderen gesetzlichen Bestimmungen unterliegt, Artikel 39 verankert den Gehorsam der Frau gegenüber ihrem Ehemann. Artikel 87 schließlich bestimmt den Vater als alleinigen Erziehungsberechtigten der gemeinsamen Kinder. Erst bei seinem Ableben bekommt die Kindesmutter diesen rechtlichen Status.

    Mit der demokratischen Öffnung Algeriens ab Februar 1989 und der Annahme einer neuen Verfassung, der Einführung eines Mehrparteiensystems mit der Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Partizipation durch die Gründung von Frauenorganisationen und -vereinen konnten sich Algerierinnen, unter ihnen zahlreiche Hochschullehrerinnen, Rechtsanwältinnen und Journalistinnen, wieder Gehör verschaffen und Kampagnen gegen dieses, wie sie es nannten, »Gesetz der Schande« führen. Doch die zunächst hoffnungsvolle Demokratisierung des Landes brachte auch den gemäßigten und radikalen islamistischen Kräften neuen Einfluß, die in ihren Parteiprogrammen oder mittels ihrer Frauenorganisationen die Verbannung der Frau ins Haus forderten. Deshalb gelang es den liberalen Frauenorganisationen – trotz der Versprechen des jetzigen Präsidenten Abdelaziz Bouteflika – bis heute nicht, dieses Gesetz abzuschaffen.

    2005 wurden nach vielen Protesten und langen Verhandlungen endlich einige positive, doch völlig unzureichende Änderungen wirksam, und so befindet sich das geltende Recht nach wie vor im Widerspruch zu den von Algerien unterzeichneten internationalen Konventionen und zu den gesellschaftlichen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts.

    Am 8. März 2010 riefen algerische Frauenorganisationen die Kampagne »Kif-Kif devant la loi« (»Kif-Kif« bedeutet in dem in Algerien gesprochenen Arabisch »gleich«) ins Leben, deren Ergebnisse 2012 dem UN-Ausschuß für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau als Gegenbericht zu offiziellen Stellungnahmen der algerischen Machthaber vorgelegt werden sollen. Sie versteht sich als Fortführung der 2004 ins Leben gerufenen Initiative gegen das Gesetz von 1984 »20 ans barakat« (20 Jahre – Schluß damit!): Die Frauen forderten und fordern den Gesetzgeber auf, das skandalöse, verfassungswidrige Familiengesetz abzuschaffen, das ein Zugeständnis an die Islamisten war. Es sei ein Angriff auf die Integrität der Frauen als Bürgerin und öffnet der Gewalt gegen Frauen in Algerien Tür und Tor, meint die algerische Soziologin Dalila Djerbal. Sie ist Mitgründerin der Frauenorganisation »Réseau Wassyla«, die 2000 gegründet wurde – zu einer Zeit, als Terroranschläge und Massaker in Algerien ihren Höhepunkt erreicht hatten: Mädchen und Frauen wurden zu Hunderten getötet oder entführt, vergewaltigt und in die Berge verschleppt, wo sie Terroristen gefügig sein mußten. Dies waren einschneidende und traumatisierende Ereignisse im Leben der Frauen und ihrer Familien, die von offizieller Seite stets mit Schweigen quittiert wurden.

    Lange Zeit hatte sich die Arbeit der algerischen Frauenbewegung auf die Rechte der Frauen in der Gesellschaft konzentriert, wie etwa das Recht auf (Aus-)Bildung und Arbeit. Wassyla dagegen nimmt sich des Körpers der Mädchen und Frauen und der ihnen angetanen Gewalt im täglichen Umfeld an, sei es verbal und sexuell in der Familie oder durch Mobbing am Arbeitsplatz. Ein Netzwerk von verschiedenen Vereinen, Erziehern, Ärzten, Psychologen und Juristen stehen den Frauen und Kindern unter dem Siegel von Wassyla in Beratungszentren im ganzen Land unterstützend zur Seite.

    Das Netzwerk tritt mit zahlreichen Publikationen an die Öffentlichkeit, um möglichst viele Männer und Frauen in Stadt und Land für das Thema Gewalt an Frauen zu sensibilisieren. In einem Land, dessen Arbeitslosenquote offiziell bei mehr als zehn Prozent liegt, sind viele Frauen allein wegen ihrer gesetzlich verankerten Entmündigung innerhalb der Familie von öffentlichen Veranstaltungen und Demonstrationen ausgeschlossen. Ein Vater, ein Bruder oder Ehemann kann es der mitunter sehr gut ausgebildeten Frau untersagen, arbeiten zu gehen. Zudem erschwert das Fehlen von Kinderbetreuungsmöglichkeiten den Frauen die Teilnahme am öffentlichen Leben.

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