vonImma Luise Harms 17.11.2008

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Ich stehe Kopf. Das soll gut sein. Die Organe können mal ihre Lage verändern. Das Blut kommt mit Schwung in den Kopf und macht gute Gedanken. Auch fürs Rückgrat soll’s gut sein, und für die Haltung. Ich drücke die Schultern noch ein bisschen weiter nach unten bzw. nach oben. Unter dem Schambein hat sich eine Kuhle gebildet. Die Gedärme sind aufs Zwerchfell gerutscht und liegen da ganz gut. Durch die Terrassentür sehe ich in den Garten. Der Himmel ist durch die unteren Augenlider, die keine Muskeln haben, um das Auge bewusst freizugeben, ein bisschen abgeschnitten. Aus seinen Rändern lösen sich einzelne gelbe Blätter und steigen trudelnd auf bis in das Gras am oberen Bildrand.

Die Wirkung der Schwerkraft wird unterschätzt, glaube ich. Raumfahrt, Astronomie, Statik – da ist das klar. Aber was macht die Schwerkraft mit uns? Mit unserer Körpererfahrung, unseren sozialen Beziehungen, unserem Gefühl für Symmetrie und Ordndung?

Schwerkraft ist ja die Anziehungskraft zwischen zwei Massen. Masse 1 mal Masse 2 geteilt durch das Quadrat des Abstandes und die Gravitationskonstante. Die kreisende Ordnung der Welt wird zwischen den Gravitationskräften und den Zentrifugalkräften aufgespannt. Nur weil die Erde sich groß und schwer und greifbar unter uns ausdehnt, vergessen wir, dass die Kräfte, die an unseren Körpern zerren, sehr komplex zusammengesetzt sind. Denn die Gravitation wirkt nicht nur im Großen sondern auch in unserer kleinen Alltagswelt – zwischen allem, was irgendwie Masse hat. Je kleiner der Abstand ist, umso mehr.

Das sieht man an der Körperhaltung. Es gibt eine gute Haltung und eine schlechte. Eine gute Haltung ist die Auseinandersetzung des Körpers mit der Erdschwere, unbeeindruckt von den kleinen Störungen durch schwache Umgebungskräfte. Eine schlechte Haltung ist so eine, die den Körper nicht nur gegenüber der Schwerkraft der Erde ins Gleichgewicht zu bringen versucht, sondern auch noch gegenüber dem Schwerefeld eines Gegenübers, besonders dem eines imaginierten Gegenübers.

Die Gravitationskraft ist eine Vereinigungskraft. Die Massen rücken bis auf ihre Körpergrenzen zusammen, wenn’s geht, sogar noch weiter. Vernunft-begabte Individuen reagieren darauf mit einer eigenen Intention. In ihrer Körperhaltung drücken sie aus, wie sie die Aussicht auf Verschwinden in der Vereinigung finden. Zum Beispiel so: die Haltung des Widerstandes (Hohlkreuz) , die Haltung der Bedürftigkeit (vorgeschobene Schultern), die Haltung der Angst (hochgezogene Schultern), die Haltung der Resignation (krummer Rücken). Das Gegenüber, das den Haltungsschaden erzeugt hat, müsste eigentlich auch einen Abdruck davon an sich tragen. Die Gravitation ist ja immer eine zweiseitige Angelegenheit. Genau genommen ziehen wir auch die Erde an. Ein ganz kleines bisschen zwar bloß, aber immerhin.

Auch das Bewusstsein bildet sich unter der Erfahrung von Schwerkraft. Die eindeutige Gerichtetheit der auf den Körper wirkenden Kraft (und da spüren wir ja bewusst vor allem die Kraft der Erde) ordnet unsere Raumvorstellungen: oben und unten – und mit den Raumvorstellungen unsere Weltvorstellungen: Ordnung ist Hierarchie – und mit den Weltvorstellungen unsere Wertvorstellungen: oben ist gut, unten ist schlecht. Gott ist im Himmel, die Hölle ist irgendwo da unten in der Erde. Unterlegen und überlegen. Die oberen Zehntausend. An der Spitze stehen. Unterliegen. Die Schlange muss nach dem Sündenfall auf ihrem Bauch am Boden rumkriechen, der Mensch darf weiter aufrecht gehen, den Kopf oben behalten.

Alle unsere Vorstellungen sind von einem Vektorensystem durchzogen, dessen Gerichtetheit eindeutig ist: y zeigt von der Erde weg, -y strebt ihr entgegen. Das ist interessant, weil das Ideal eben nicht in der Verschmelzung mit der großen Gravitante liegt, sondern in der Behauptung der Eigengravitation. Das gilt auch für die Bezüge in den sozialen Gravitationssystemen. Personen mit einer starken Eigengravitation (wie viel an fremder Masse müssen sie sich einverleibt haben, um so wirken zu können?) erzeugen ein sogartiges Feld von widerstrebenden Wünschen in ihrer Umgebung. Sie polarisieren. Das ist wie ein Magnetfeld, ein Spinnennetz aus Anziehung und Abstoßung, Hinwollen und Wegwollen.

Vielleicht ist der Magnetismus, die zweite geheimnisvoll und universal wirksame Kraft, die emotionale Reaktion der Materie auf die Erfahrung der Gravitation? Die unendliche, unstillbare Sehnsucht nach Verschmelzung – durch eine leichte Drehung kippt sie in die gleichermaßen unendliche und unstillbare Sehnsucht nach Freiheit, Loslösung und bedingungslosem bei-sich-Sein. Vielleicht ist deshalb die Drehung – der Richtungswechsel, das Kreiseln um sich und andere – die Bewegung, die zwischen endgültigem Zusammenbruch und Auseinanderfallen so etwas wie einen dauerhaften Körper, ein System formt.

Meine Beine schwanken. Sie wollen nach hinten überkippen. Ich straffe mich noch einmal, Haltung bewahren. Gleichgewicht ist die Anordnung, bei der der Schwerpunkt eines Gebildes unter dem Aufhängungspunkt liegt. Dann muss es aber etwas geben, was zur Aufhängung geeignet ist, und Haltung ist nichts als Halterung, nämlich an einem anderen, gegen die Schwerkraft errichteten System. Oder Gleichgewicht herrscht, wenn der Schwerpunkt eines Körpers genau über dem Auflagepunkt liegt. Mathematisch ausgedrückt: Die Gerade, die die Schwerpunkte der beiden Körper verbindet, muss ihre Berührungsfläche schneiden. Dann können sie, so wie die Dinge liegen, nicht weiter aneinanderrücken. Das nennt man „labiles Gleichgewicht“, weil es eben leicht kippen kann.

Bei den meisten Gleichgewichtszuständen handelt es sich um labile Gleichgewichtszustände, die umso labiler sind, je kleiner die Auflagefläche ist. Ich stabilisiere den Kopfstand mit den Ellenbogen, die mittelmäßig groß sind, jedenfalls größer als meine Füße. Aber auf denen stehe ich eigentlich doch sicherer. Eine Frage der Gewohnheit und der Evolution. Es gibt Hilfsmittel zum Halten des Gleichgewichtes, zum Beispiel ein Drehmoment erzeugen wie beim Fahrrad-Fahren. Oder eine Massenträgheit, wie eine Balancierstange auf dem Seil. Oder die Pendelbewegung: immer kurz raus aus dem Gleichgewicht, auf den anderen Fuß stellen und dann wieder rüberkippen. Wie genial das eingerichtet ist mit dem Gehen!

Aus der Gleichgewichtserfahrung kommt auch ein Sinn fürs Gleichgewicht, die Ästhetik der Ausgewogenheit. Die gefällige Verteilung der Sofakissen, der goldene Schnitt in der Abbildungskunst. Und weiter: an der ästhetischen und mentalen Erfahrung hängt die Vorstellung von Gerechtigkeit. Der Ausgleich der Interessen im Rechtsbewusstsein ist das normative Äquivalent zum Ausbalancieren des Körpers. Das betrifft jetzt einen sozialen Körper, Menschen die zur Wahrnehmung ihrer Interessen aufeinander angewiesen sind. Der Witz ist, dass alle Beteiligten eigentlich eine Intuition davon haben, was gerecht wäre, wie Rechte, Vorteile und Lasten verteilt werden müssen, damit das soziale Gebilde im Gleichgewicht ist. Wenn ich mit jemand um etwas konkurriere, könnte ich genauso gut den andern entscheiden lassen, wie es richtig zu verteilen wäre.

In der Praxis hat man dieses Vertrauen nicht, und das aus gutem Grund. Der andere wird nicht in das Gleichgewichtssystem mit einbezogen. Es wird eine „Gegenseite“ konstruiert, die das Gebilde zu ihrer Seite kippen will; das muss durch ein entsprechendes stärkeres Gewicht auf der eigenen Seite „ausgewuchtet“ werden. List über List, Betrug über Betrug. Sie rechtfertigen sich gegenseitig und bilden ein Gleichgewicht des Übelwollens – im besten Fall. Im Allgemeinen bricht das irgendwann zusammen. Das macht denen nichts, die darauf vorbereitet sind und rechtzeitig ein Bankkonto in der Schweiz aufgemacht haben.

Der Druck auf den Kopf wird größer, die Füße werden unangenehm taub, die Arme sehnen sich danach, nicht länger die Füße sein zu müssen. Jetzt reicht’s. Kontrolliert ziehe ich die Beine an. Der Rücken krümmt sich und schiebt sich nach hinten, damit der Schwerpunkt meines Körpers immer schön über dem gestützten Kopf bleibt, dann setze ich die Füße vorsichtig auf den Boden zurück und strecke mich aus.

Ich schmiege mich an den Teppich, der Teppich schmiegt sich an die Dielen. Die Dielen liegen auf ihren hölzernen Unterlagen. Die sind solide mit dem Fundament des Hauses verbunden und das ist fest in der Erde gegründet. Die Erde hat mich wieder. Meine Eingeweide breiten sich aus wie der Pfannkuchenteig in der Pfanne. Das Blut strömt ruhig und warm durch die Adern. Und auch die Gedanken fließen zurück in geordnete Bahnen.

Wie süß ist es doch, sich der Macht des Faktischen in den Arm zu legen.

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