vonImma Luise Harms 19.11.2020

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Wir sitzen in einem Aquarium – oder nein, es ist eher wie ein Schwimmbecken bei abgelassenem Wasser: der Boden gefliest, die Wände grün, die Stimmung kalt bis fischig. Gemeinderatssitzung in Möglin. Die Tische, die sonst zu einer langen Reihe zusammengestellt sind, sind heute über den ganzen Raum verteilt. Einzelplätze wie bei einer Abiturprüfung: Niemand in Flüsterweite. Wir haben Corona, und da muss das so angeordnet werden. Niemand in Viren-Übersprungweite. Für die Gäste – das sind wir zu dritt – sind in der hintersten Ecke noch ein paar Stühle aufgestellt. F. rückt an mich ran, um mit mir zu flüstern. Mir ist das unbehaglich, obwohl ich sonst mit ihm vertrauensvoll am Küchentisch sitze. Aber Abstands-Stimmung ist ansteckend. Ich will hier Distanz und rücke ein Stück weg, er aber hinterher. Ich behalte meine Unbehaglichkeit für mich.

Warum sind wir hier? Den Gemeinderat habe ich vor anderthalb Jahren verlassen, heute bin ich zum erstem Mal Gast. Vor ein paar Tagen haben wir zum Politisieren beim Kaffee zusammen gesessen und uns über Innenminister Seehofer aufgeregt, der den Gemeinden einfach untersagt, geflüchtete Menschen aus den bedrohten und zum Bersten vollen Flüchtlingscamps auf der griechischen Insel Lesbos aufzunehmen. Er untersagt es ihnen, obwohl sie sich in der Lage fühlen, den Menschen Platz, Unterstützung und Integration anzubieten. Und sie müssen es ja schließlich machen!
Wir fanden die Aktion der „Seebrücke“ toll, die die Willenserklärungen der verschiedenen Städte und Gemeinden sammelt, um Druck auf Seehofers Zumauer-Politik zu machen. Es sind schon 70! Und ja: wir sind doch auch eine Gemeinde! Wir verabreden, zur Bürgerfragestunde in der nächsten Gemeinderatssitzung zu gehen und vorzuschlagen, dass Reichenow-Möglin auch seine Bereitschaft erklärt, Geflüchtete hier aufzunehmen, wenn sie es denn bis hierher schaffen.

Und da sind wir nun also. Als wir die steinernen bis gleichgültigen Minen der tischweise Vereinzelten sehen, sinkt uns etwas der Mut. Aber M., das Gemeinderatsmitglied unseres Vertrauens, ist eingeweiht und hat die Sache zu seiner eigenen gemacht. Bürgermeister H. begrüßt, hakt schnell die ersten Punkte der Tagesordnung ab: Ladung, Protokollgenehmigung, Feststellung der Beschlussfähigkeit und der Unbefangenheit bei allen Punkten, etc. Und dann kommt schon die Bürgerfragestunde und unser Einsatz. F. haben wir als Sprecher vorgeschoben. Er erklärt mit anschlussfähigen Argumenten, worum es uns geht. Die Gemeinde könnte doch, wenn es dazu kommen sollte, auch ihre Bereitschaft erklären, auf Lesbos festsitzende Geflüchtete hier aufzunehmen, vielleicht einfach nur eine Familie, damit es nicht so Ansturm-mäßig herüberkommt. Ich ergänze, dass das auch eine Gelegenheit wäre, dem Innenminister, der die Gemeinden meint, gängeln zu müssen, mal die gelbe Karte zu zeigen.

Betretene Gesichter an den Einzeltischen. Bürgermeister H. erklärt, dass er das eigentlich eine gute Initiative findet, bittet um Beiträge. D., nach meiner Einschätzung rechtsoffen, aber auch immer recht offen, fragt, was das denn für Konsequenzen hätte, diese Erklärung, die der Gemeinderat geben soll. Ob wir die Menschen dann versorgen müssten? Und wir sollen ihn nicht gleich in die rechte Ecke stellen, nur weil er danach fragt… Unser Gewährsmann M. betont den appellativen Charakter. Auch Jungbauer N. will wissen, wozu wir uns damit verpflichten. Der Bürgermeister brummelt so vor sich hin: „Also ‘ne Wohnung hätten wir ja grade, nur die kann ich nicht ewig freihalten.“

Es wird noch ein bisschen hin und her geredet; alle, die überhaupt was sagen, betonen, dass sie die Initiative im Prinzip gut finden, aber unklar, was das praktisch heißt. Der Bürgermeister, der noch eine lange Tagesordnung vor sich sieht, meint irgendwann: „Nun haben wir uns ja ein bisschen darüber ausgetauscht, ich seh‘ eigentlich keine großen Widerstände. Dann können wir das doch eigentlich so beschließen.“ Wir trauen unseren Ohren nicht; so leicht hätten wir uns das nicht vorgestellt! Da meldet sich unser Gewährsmann, sagt: Halt, halt – nicht so einfach und schnell beschließen! Erst nochmal eine richtige Vorlage für einen richtigen Tagesordnungspunkt, und dann beim nächsten Mal drüber reden und verabschieden.

Wir wollen es erst gar nicht glauben, dass ausgerechnet er jetzt die Initiative in ihrem ersten Schwung ausbremst. Später verstehen wir: Er will, dass ein richtiger, ausformulierter Antrag in die nächsten Sitzungsunterlagen kommt, und so eine breitere Öffentlichkeit und Presse und eine ganz andere Wirkung.

Also setzen wir uns in der Woche drauf zusammen und formulieren einen schriftlichen Antrag, den M. dann einreichen kann. Darin wird ausdrücklich auf die Situation auf Lesbos eingegangen. Der Antrag selbst lautet: „Angesichts der Lage in den Flüchtlingszentren auf den griechischen Inseln erklärt die Gemeindevertretung von Reichenow-Möglin gegenüber der Kreis-, Landes- und Bundesregierung ihre Bereitschaft, flüchtende Menschen in ihrer Gemeinde freundlich aufzunehmen und zu integrieren.“ Wir haben noch eine Weile über den Begriff „freundlich“ diskutiert, den ich in den Satz geschmuggelt habe, damit sich darin eine Haltung ausdrückt.

M. schickt also den Brief so ab – und bekommt umgehend Post von Amtsdirektor B., dem Oberaufseher und Vollstrecker der Gemeinderäte in unserem Amt. Also so ginge das nicht, da müsse er als Rechtsaufsichts-Verpflichteter einschreiten! Die Gemeinde habe keine Befugnis, über die Aufnahme von Geflüchteten zu entscheiden. Und dann kommen noch Argumente, die sich sehr nach Seehofer anhören. Zum Schluss wird er versöhnlich und empfiehlt eine Formulierung, die nach seiner Auffassung im Rahmen des rechtlich Möglichen bleibt und unser Anliegen dennoch transportieren könnte. Seine Formulierung dieses Satzes: Die Gemeindevertretung erkläre ihre Bereitschaft, die Entscheidungsträger auf Kreis-, Landes- und Bundesebene bei der freundlichen Aufnahme von Geflüchteten zu unterstützen.

Das ist nun eine interessant Volte. Kann man denn davon ausgehen, dass die Entscheidungsträger überhaupt bereit sind, freundlich aufzunehmen? Von Seehofer wissen wir, dass er nicht nur nicht freundlich, sondern überhaupt nicht aufnehmen will! Wen will die Gemeinde dann unterstützen? Der Antrag droht zu implodieren. M. rettet ihn durch eine andere Variante. Nun erklärt der Gemeinderat seine Unterstützung für die Initiative im Dorf, die vorhat, Geflüchtete, die herkommen, freundlich aufzunehmen. Statt der implodierten Variante haben wir jetzt einen Zirkelschluss. Denn die Initiative, die da unterstützt werden soll, ist ja lediglich eine Initiative, um den Gemeinderat bei der „freundlichen Aufnahme“ zu unterstützten. Aber egal jetzt, der Antrag wird eingereicht, nicht mehr beanstandet und liegt bei der nächsten Gemeinderatssitzung vor.

Wir sind wieder da. Die Tische sind wieder verteilt, die Gemeinderatsmitglieder sitzen isoliert und wir in der Ecke. Wir kriegen Rederecht, was man braucht, um auch außerhalb der Bürgerfragestunde die Stimme erheben zu dürfen, obwohl Bürgermeister H., unser Goldstück, das nie so eng auslegt. Der Amtsdirektor ist nicht da (womit wir eigentlich gerechnet hatten), die Presse ist nicht da (was wir uns gewünscht hatten), die Ratsmitglieder sitzen mit verschlossenem Mund, gesenkten Augen und gespitzten Ohren da.

Der Tagesordnungspunkt kommt gleich nach der Bürgerfragestunde, die heute ungenutzt bleibt. H. lädt zur Debatte. M. erklärt nochmal Sinn und Zweck der Resolution. Der recht offene D. ergreift das Wort. Er habe mit verschiedenen Bürgern der Gemeinde über den Wortlaut geredet, und das würde von ihnen eher skeptisch gesehen, also nicht mitgetragen. Und da er ja deren Vertreter sei, ihnen also in gewisser Weise rechenschaftspflichtig, könne er nicht guten Gewissens zustimmen. M. kontert, dass er ja seiner eigenen Auffassung verpflichtet sei, und nicht der Meinung der Wähler. (Verkehrte Welt, denke ich, wie oft haben wir früher das imperative Mandat gefordert!) Jungbauer N. gibt zu bedenken, dass ja nicht sicher sei, dass Geflüchtete hier von allen freundlich aufgenommen und nicht vielleicht sogar angegriffen würden. Da schaltet sich Bürgermeister H. ein, und seine Stimme erhebt sich, da würde er aber für sorgen, dass hier niemand angegriffen wird, in seiner Gemeinde! Da würde er sich persönlich davorstellen! Die Ortsvorsteherin A. ergreift das Wort, was sie selten tut, und murmelt in die Leere vor ihrem Einzelpult: Ob man nicht erstmal eine Bürgerversammlung machen sollte, wie damals bei den Windmühlen. Das Argument wird nicht weiter beachtet; es wird weiter geredet. Ich weise auf den Zirkelschluss hin, weil ich die erste Formulierung besser gefunden hätte, weil sich da der Gemeinderat selbst in die Verantwortung stellt. Aber da will sich H. nicht gegen den Amtsdirektor stellen, denn, so meint er: auch eine „freundliche Aufnahme“ sei eine Aufnahme, und die stehe uns eben nicht zu.

Einige wollen wissen, wieviel das denn eigentlich sind, in der Initiative, und was wir denn machen würden, wenn der Fall einer Aufnahme wirklich eintreffen würde. „Dann seid ihr doch wieder hier und nagelt uns auf diesen Beschluss fest!“ mault D.  „Ja klar!“ denke ich. „Nein“, sage ich, „wir würden uns dann schon kümmern und gucken, wo wir Unterstützung kriegen“.

H. findet, dass jetzt genug diskutiert ist, und kommt zur Abstimmung. Wir sind gespannt. Vier Stimmen dafür, vom Antragsteller M., von unserem Nachbarn S. und auch dem Gemeinderatsneuling R. Die vierte Stimme kommt von Bürgermeister H. selbst. Mutig, mutig! Dann ruft er die Enthaltungen auf. Das sind drei. Die Gegenstimmen, zwei, kommen von D. und vom Jungbauern N. Möglich, wenn der Bürgermeister die richtige Reihenfolge bei der Stimmabgabe eingehalten hätte – erst die Ja-Stimmen, dann die Nein-Stimmen, dann die Enthaltungen – dass das Ergebnis anders ausgesehen hätte. Aber die Ratsmitglieder konnten sich ja vorher nicht weiter verständigen, sie sitzen auf Flüstern-verboten-Abstand.

Wir feiern das Ergebnis als kleinen Sieg. Wir haben so etwas wie einen Freibrief der Gemeindevertretung für die „freundliche Aufnahme“ von geflüchteten Menschen. Wenn man sie denn bis nach Reichenow-Möglin kommen lässt. Schade, dass die Presse nicht da war!

Epilog 1:

F. findet die Anregung von Ortsvorsteherin A. prima, eine Bürgerversammlung zum Thema zu machen, gerade jetzt, wo die Sache vom Gemeinderat schon durchgewunken wurde. Er wird bei ihr vorstellig, um sie beim Wort zu nehmen. Aber A. lässt durch ihre Familie Mittagsschlaf vorschützen.

Epilog 2:

Die MOZ, die mächtige, weil allein herrschende Lokalzeitung, hat sich dann drei Wochen später doch noch bei M. gemeldet. Am Tag darauf erscheint ein Artikel mit ausführlichen Zitaten aus unserem Antrag unter der Überschrift: „Reichenow-Möglin nimmt Flüchtlinge als Zeichen der Solidarität zu Griechenland auf“. Da hatten wir große Freude und haben uns gefragt, ob Amtsdirektor B. wegen dieser angekündigten Kompetenzüberschreitung jetzt wohl im Dreieck springt und ob er auf Gegendarstellung besteht und was das Dorf wohl sagt.

Epilog 3:

Nun wissen wir, was das Dorf sagt. Schon nach der ersten Gemeinderatssitzung zum Thema hatte sich das Gerücht festgesetzt, dass in die leer stehende, Gemeinde-eigene Wohnung im Dorfzentrum demnächst eine Flüchtlingsfamilie einzieht; sie steht gewissermaßen schon vor dem Ortsschild, die Familie! „Das geht doch nicht!“, „Das haben die über unseren Kopf hinweg beschlossen!“, „Die Wohnung ist doch viel zu klein für ‘ne ganze Flüchtlingsfamilie!“, „Wie soll man sich denn mit denen verständigen; die können doch höchstens englisch!“ So gingen die Wogen hoch, ohne dass wir davon etwas ahnten. Die Feinheiten der in der zweiten Gemeinderatssitzung beschlossenen Resolution wurden offenbar nicht mitkolportiert.
Nach dem Zeitungsartikel und nach einer Meldung im RBB, der das Thema ebenfalls aufgegriffen hat, kommt eine zweite, heftigere Welle von Empörung. Prügel werden angedroht, ein Verantwortlicher wird gesucht. Wir sehen die Bürgerwehr schon vorm Eingang der kleinen Gemeindewohnung stehen. Nur: es ist überhaupt kein einziger flüchtender Mensch aus den Camps in Sicht, geschweige denn, eine Familie! Schade eigentlich; da würden wir uns schon einmischen. Und der Bürgermeister stände mit uns in der Verteidigungslinie!

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