„Gentrifizierung“ – das Wort klingt nach Stadt. Und da kommt es auch her. Es bezeichnet die Umstrukturierung und Aufwertung einzelner Stadtbezirke und die nachfolgende ökonomische Verdrängung der BewohnerInnen, die sich das neue Mietniveau nicht mehr leisten können. Das Wort selbst ist schon eine Beschwichtigung des Sachverhalts, denn der darin steckende englische Begriff „gentle“ heißt eigentlich „sanft“. Der Gentleman ist zwar ein feiner Herr, was aber nicht heißt, dass er immer sanft oder gar besonders sozialverträglich wäre.
Wahrscheinlich würde der Begriff der „Verwertung“ das, was in den Städten passiert, besser beschreiben: Alles, was Geld abwirft, hat darin eine Zukunft; alles, was sich außerhalb der Geldkreisläufe an menschlichen Begegnungen abspielt, hat keinen Platz mehr. Um ein Bild zu benutzen: an die Stelle der Parkbank tritt das Straßencafé!
Und nun also auch auf dem Land, in den Dörfern und den Kleinstädten? Was vorgefunden wird, wird umstrukturiert und verwertet, so jedenfalls die Befürchtung vieler, die hier leben. Und so ist es zu dieser kleinen Untersuchung gekommen. Handelt es sich um ein wirkliches Problem der in den ländlichen Gemeinden lebenden Menschen oder ist die Debatte auch so ein Import aus der Stadt, den niemand hier braucht?
Mitte Dezember 22 trafen sich zwei Hände voll Menschen aus ländlichen Gemeinden, um die Frage zu diskutieren. Es stellte sich schnell heraus, dass zwar alle in der Region leben, aber vor kürzerer oder längerer Zeit aus der Stadt zugezogen sind. Die angestammten Einheimischen fehlten vollständig. Ist das ein Hinweis darauf, dass ihnen ein Problem eingeredet werden soll? Die Diskutierenden meinten: nein, die Reibungen, die Fremdheit und unterschiedlichen Interessen zwischen Einheimischen und Zugezogenen kommen überall in den Dörfern zur Sprache, nur auf eine andere Weise, wie die in dieser Broschüre abgedruckten Interviews auch zeigen.
Der Veranstaltungstitel selbst könnte eine Barriere gewesen sein. So wie überhaupt die Art, sich auszudrücken, mit Fremd- oder Fachwörtern um sich zu werfen, ausgrenzend wirkt, ob gewollt oder nicht. Wir können also davon ausgehen, dass die Ausgangslage bekannt ist und dass Gedanken darüber, wie ihr zu begegnen ist, auf breiteres Interesse stoßen, wenn es gelingt, sie einladend und allgemeinverständlich zu formulieren.
Die harten Fakten, die die Entwicklung auf dem Land belegen, müssen hier wohl kaum genauer dargestellt werden: Wie die Grundstückspreise gestiegen sind, wie die Einwohnerschaft sich verändert, wie sich das Leben und der Alltag in den Dörfern verändern, darüber kann niemand hinwegsehen, der hier lebt. Sicher stellt sich die Veränderung im sogenannten Umland der Großstadt noch einmal anders dar als in entlegenen Gegenden, allerdings dort auch einfach nur weniger krass und zeitlich verzögert.
Aber was macht es aus, dass das Land, die Dörfer mit allen ihren Möglichkeiten so in das Blickfeld derer geraten sind, die Geld haben und exklusiv wohnen oder Gewinn-bringend investieren wollen? Welche Rolle spielen die bisher Zugezogenen darin? Sind sie etwa die „Trüffelschweine“, die für die Nachfolgenden die ländlichen Gegenden erschlossen haben und attraktiv gemacht haben?
Welche Motive gibt es überhaupt, aufs Land ziehen zu wollen? Die Antwort auf diese Frage muss man für zwei, vielleicht auch drei Epochen unterschiedlich beantworten. Die erste Generation der Zuziehenden kam größtenteils aus den Szenevierteln der Großstadt und wurde von dort oft durch die Gentrifizierung, so wie sie oben beschrieben wurde, weggetrieben: In Kreuzberg, Prenzlauer Berg, Mitte – in Bezirken, die vor und kurz nach dem Mauerfall aus unterschiedlichen Gründen Möglichkeiten für Menschen mit Ideen, aber ohne Geld boten – wurde der Raum für sie knapp. Das bunte Treiben auf der Straße, in den Kneipen, Clubs und ehemals besetzten Häusern hatte TouristInnen und junge Leute aus den Provinzstädten in großer Zahl angelockt.
Wo sich ein wachsendes Interesse bemerkbar macht, entsteht ein Markt. Und der hat seine eigenen Regeln und Zwangläufigkeiten: schicke Läden und Bars entstehen, Fabriketagen werden zu Lofts ausgebaut, von den kleinen Geschäften können sich nur die Bioläden halten, und auch die können sich auf die Dauer nicht gegen die neu entstehenden Biomarkt-Ketten behaupten. Und vor allem, die Preise steigen, für den Kaffee an der Ecke genauso wie für die Miete.
Der Kiez mit seinen bekannten Strukturen, seinen Versprechungen auf menschliche Nähe und Raum für alle war für die Alternativ-Szene wie ein Dorf. Genau dieses Dorf versuchten viele der Stadtflüchtigen dann im Umland wiederzufinden bzw. als Kollektive neu zu gestalten. Dem ersten Eindruck nach schien alles dazu einzuladen: verlassene Häuser, leerstehende Höfe und Betriebsstätten, Dörfer, die aussahen, als sei die Zeit hier stehengeblieben, Fassaden, die, zwar grau und abgeblättert, Kindheitsfantasien vom Leben auf dem Land weckten. Und alles war für „einen Appel und ein Ei“ zu erwerben. Verschiedene Förderprogramme halfen zusätzlich, einen neuen Anfang zu machen.
Haben wir, die SiedlerInnen, uns jemals gefragt, warum die Häuser, die Höfe und Gemeinde-eigenen Gebäude leer standen und verscherbelt wurden? Welche Dramen sich in den ersten Jahren nach der sogenannten Wende hier abgespielt hatten, davon wussten wir, wenn wir aus dem Westen kamen, wenig. Wir haben uns mit der Vorstellung zufrieden gegeben, dass die jungen Menschen weggegangen sind, um woanders Arbeit zu finden, und die Betriebe zugemacht wurden, weil sie nicht mehr wirtschaftlich arbeiten konnten. Was diese ersten Jahre nach der Wende mit den zurückgelassenen BewohnerInnen gemacht haben, in denen sie die vollständige Entwertung dessen, was ihr Leben bisher ausgemacht hatte, hinnehmen mussten, und welche Verletzungen ihnen durch das gnadenlose Dichtmachen und Verscherbeln ihrer bisherigen Arbeitsplätze zugefügt wurden, das haben wir kaum wahrgenommen. Hoffnungslosigkeit und Apathie haben wir leicht als Stumpfheit und Ideenlosigkeit angesehen und haben uns aus einer Mischung von Unwissenheit und Überheblichkeit dazu berufen gefühlt, frischen Wind in das Dorfleben zu bringen.
Die Ausdünnung der ländlichen Gebiete wurde Landflucht genannt, als sei das eine freiwillige, individuelle Umorientierung in der Lebensplanung. Tatsächlich müsste man eher von Vertreibung sprechen, wenn die Lebensgrundlagen so ausgetrocknet werden. In diesen leergefegten Dörfern, in denen oft nur Ältere und Arbeitslose übrig geblieben waren, siedelte sich die erste Generation der Zuziehenden an. Das Bild des Siedelns im leeren Raum spiegelt sich immer noch den Bezeichnungen von groß angelegten Förderprogrammen wider, wie „Raumpioniere“ oder „Neulandgewinner“.
Die ersten 10 oder 15 Jahre der Nach-Wende-Zuzüge waren von vorsichtiger gegenseitiger Neugier gekennzeichnet: Die Einheimischen waren von den Ideen und Initiativen der NeusiedlerInnen beeindruckt und boten ihre Hilfe an; die Zugezogenen staunten darüber, wie selbstverständlich sowas auf dem Dorf lief: Da wurde der Trecker rausgeholt, ohne lange zu fragen. Die Neuen kamen auf die Dorffeste, die Alteingesessenen kamen sie besuchen, wenn die Projekte mal einen Tag der Offenen Tür machten.
Alle erzählen, dass diese anfängliche Offenheit sich nach einiger Zeit verbrauchte. Zum Teil lag das an der Erfahrung, dass man von der jeweils anderen Seite doch nicht wirklich akzeptiert wurde; letztlich blieb man unter sich. Es machte sich aber auch mehr und mehr eine kulturelle Schranke bemerkbar, die aus unterschiedlichen Lebensweisen und unterschiedlichen politischen Ansichten bestand. Fragen der Ernährung, der Tierhaltung und Landwirtschaft allgemein, der Energiegewinnung, aber auch des Verhältnisses zur AFD und zu nationalistischen Tendenzen führten zu Konfrontationen oder zum kompletten Rückzug.
Zwei weitere Entwicklungen vollzogen sich ab den Nuller-Jahren. Sie führten zum zweiten Besiedlungsschub. Einerseits kamen jungen Leute zurück ins Dorf, die vor Jahren weggegangen waren, um woanders eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten. Sie kamen als junge Familien zurück, um in das Haus der verstorbenen Oma oder Nachbarin einzuziehen.
Gleichzeitig hatten sich die Projekte der 90er Jahre soweit gemausert, dass sie ein attraktiver Ausflugsort für die alten Freunde und Freundinnen aus der Stadt wurden. Es entstand also ein lebhafter Stadt-Land-Tourismus, bei dem nicht nur die schönen Seen, die Wälder und die weit gedehnten Felder bewundert wurden. Auch die Projekthöfe selbst mit ihren unkonventionellen Ausgestaltungen und ihren kleineren oder größeren Veranstaltungen machten die Vorstellung attraktiv, hier auch für sich einen Ort aufzutun. „Kann man hier nicht noch was kaufen?“, war die Frage, die immer häufiger von Gästen zu hören war. Oft traten die Rückkehrenden und die neu am Land Interessierten dabei in Konkurrenz. Dort, wo Familienbande eine Rolle spielten, wurde vielleicht den RückkehrerInnen der Vorzug gegeben. Wo aber die ErbInnen weit weg wohnten und keinen Bezug mehr zum Dorf und seinen BewohnerInnen hatten, entschied oft das höhere Angebot.
Nun ging auch dem letzten angestammten Dorfbewohner auf, welchen Schatz er mit seinem Stück Land besaß. Ab Ende der Nuller-Jahre, Anfang der 10er-Jahre wurde kaum noch verkauft. Das verknappte Angebot führte zu einem weiteren Preisanstieg. Die Zuziehenden aus der Stadt, die noch ein Haus ergattern konnten, bildeten mit der ersten Generation der Zuziehenden eine deutlich wahrnehmbare ländliche „Alternativ-Szene“. In ihrem Einflussbereich entwickelten sich Veranstaltungsorte, Bioläden und verschiedene ländliche Initiativen. Die zurechtgemachten ehemaligen Gemeinde-eigenen Gebäude oder Höfe wurden, oft mit Fördergeldern, zu Seminarräumen und Veranstaltungsorten ausgebaut, die mit einem an die Interessen der Zugezogenen angepassten Programm warben. Ein breites Angebot von Yoga- und Töpfer-Kursen, Baumschnitt-Workshops, Kräuterwanderungen, Konzerten oder Lesungen entstand.
Die Zugezogenen mischten sich auch in die Lokal- und Regionalpolitik ein: Initiativen gegen Massentierhaltung, gegen Gentechnik oder Glyphosat auf dem Acker, gegen Hochspannungsmasten und CO2-Verpressung in den Untergrund entstanden. Weitgehend blieben sie bei den Themen unter sich. Die Einheimischen hatten andere Probleme: dass die Straßen instantgesetzt werden und dass es eine anständige Beleuchtung im Dorf gibt.
Überschneidungen gab es beim Thema Windgeneratoren und – neuerdings – bei den sich ausbreitenden Photovoltaik-Feldern, allerdings oft aus unterschiedlichen Motiven: Die Neuen wollen die Dinger nicht ständig angucken müssen; die Eingesessenen halten nicht viel von Öko-Energie, weil sie ein großes Problem mit der bisherigen Energiegewinnung haben.
Ab Mitte der 10er-Jahre stellte sich die Situation so dar: diejenigen aus der Alternativ-Szene, die in die Vereine und Gemeinderäte gegangen waren, um Verantwortung zu übernehmen und Impulse zu geben, zogen sich nach und nach ernüchtert wieder zurück. Die konservativen Kräfte im Dorf wichen den Debatten aus, bremsten die Initiativen durch bürokratische Einwände oder einfach durch Nichtstun aus – und blieben unter sich. Anstelle der Menschen aus den Projekten gingen nun öfter die SiedlerInnen aus den Neubauten in die lokale Verantwortung, in die Vereine und die Gemeinderäte. Ihre Vorstellungen glichen eher denen der Alteingesessenen, nicht nur weil sie teilweise die Kindergeneration waren, sondern auch, weil sie ein ähnliches Konzept von Alltag und Privatleben hatten: klare Grenzziehungen, eine ordentliche Pflege für die Gemeinde-eigenen Flächen, Kinderspielplätze, Jugendclubs, genügend Parkflächen an den Badeseen…
Schleichend hatten sich die Dörfer gewandelt. Von bäuerlichen Produktionsstätten – heruntergekommen, aber belebt – arm, aber von einer gewachsenen Gemeinschaftlichkeit durchzogen – hin zu schmucken dörflichen Ansiedlungen – fein herausgeputzt, aber ausgestorben, eine Aneinanderreihung von Privatleben, die erfolgreich die Berührungspunkte untereinander abgepuffert haben. Dabei können sich viele der Einheimischen noch gut an die alten Zeiten erinnern und trauern ihnen nach, zumindest, was das Zusammenleben angeht. Das ist vielleicht auch ein Grund, warum sie auf die Initiativen der Alternativen, der Künstler und „Ökos“, dem Gemeinschaftsleben im Dorf neue Impulse zu geben, zuerst mit Interesse und sogar Hoffnung reagiert hatten, bis die Unterschiedlichkeiten bzw. die gegenseitigen Vorurteile sie wieder auf Distanz gehen ließen.
Seit Ende der 10er-Jahre rollt die dritte Zuzugswelle heran. Angetrieben wurde sie durch die weiter steigenden Mieten und Immobilienpreise in Berlin. Das Umland wird mehr und mehr zum Stadtrandgebiet. In vielen Dörfern entstehen Neubaugebiete, manchmal mit 10 manchmal mit 200 Baugrundstücken. Der Corona-Schock 2020 tat sein Übriges: Raus aus der Stadt, dorthin, wo Quarantäne-Maßnahmen nicht so spürbar sind und genügend Auslauf in der Natur möglich ist. Ebenfalls in dieser Zeit wurden die letzten Dörfer mit Glasfaser verkabelt, sodass von jetzt an auch in den entlegensten Gebieten Homeoffice möglich wurde.
Das machen sich besserverdienende Menschen aus der städtische Mittelschicht zunutze. Sie schaffen sich einen Zweitwohnsitz auf dem Land, wo sie phasenweise herkommen können, um hier zu arbeiten, ohne sich deshalb als DorfbewohnerIn zu fühlen oder sich groß in die Dorfangelegenheiten einzumischen. Diese urbanen Professionellen sind gewohnt, überall den richtigen Ton anzuschlagen: leutselig mit den DorfnachbarInnen, szene-mäßig mit denen aus den Projekten. Sie profitieren von der traditionellen dörflichen Hilfsbereitschaft genauso wie von der Offenheit der Projekte-BewohnerInnen, was ihre Baukosten für die Instandsetzung des immer noch vergleichsweise günstig erworbenen alten Hauses erheblich senkt. Außerdem finden sie so leicht jemanden, der mal den Handwerker reinlassen kann in der Zeit, wenn sie nicht da sind.
Im Kielwasser dieser wohlhabenderen Landsitz-BewohnerInnen – oder auch ihnen vorausschwimmend – kommen die Investoren, die alte Bahnhofsgebäude oder ganze leerstehende Gutshöfe aufkaufen, um sie in Ferien-Apartments oder Eigentumswohnungen umzuwandeln. Den neuen MitbewohnerInnen ist der unverbaute Blick in die Natur wichtig, Windkraftanlagen können gerne da sein, aber bitte nicht in ihrem Blickfeld! Und sie beanspruchen Ruhe, deshalb sind sie ja gekommen: schreiende Kinder, krähende Hähne oder röhrende Mopeds können sie schon mal auf die Barrikaden bringen. Natürlich verstehen sie es, Stimmen für ihr Anliegen zu sammeln und, wenn das nichts nutzt, auch rechtliche Schritte einzuleiten.
Abgesehen davon, dass offene und hilfsbereite Menschen in allen Schichten von Einheimischen und Zugezogenen, von Ärmeren und Reicheren zu finden sind – was kann der Beitrag der neuen Generation an Zweitwohnsitz-BewohnerInnen sein, damit die Dörfer lebendig bleiben? Sie wissen, was gut ist, und sind zahlungskräftig!
Das muss nicht unbedingt eine Grenze sein, die die einen mit Bitterkeit, die anderen mit Schuldgefühlen füllt. Es muss nicht zum Auseinanderdriften von Kultur und Konsum führen. Wenn Konzertkarten nicht zu 20 Euro, sondern gestaffelt oder nach Selbsteinschätzung verkauft werden, wenn die neu entstehenden Dorfläden nicht nur Lammschinken, 100G für 4,50 für die gut betuchte Kundschaft führt, sondern auch erschwingliche Waren für den täglichen Bedarf, vielleicht sogar Plätze bereit halten, wo die Nachbarschaft sich zu einem Kaffee oder einem Bier treffen kann, dann stört der gut verdienende Nachbar nicht weiter. Voraussetzung ist, dass die neu entstehenden Geschäfte mit ihrem Angebot nicht nur den Geschmack und die Kaufkraft der Besserverdienenden im Visier haben.
Auch die BewohnerInnen der Neubaugebiete können zur Bereicherung des Dorflebens beitragen, selbst wenn sie nur zum Schlafen und am Wochenende hier ihre Zeit verbringen können. Sie haben Kinder, brauchen Spielflächen, brauchen Kitas und Busverbindungen zu den Schulen. Sie haben vielleicht keine Zeit, sich an den Vorbereitungen zum Dorffest zu beteiligen, freuen sich aber, wenn sie trotzdem eingeladen werden, und werden sich bei Gelegenheit mit ihren ganz eigenen Möglichkeiten revanchieren.
Die sogenannte Gentrifizierung muss die Dörfer nicht veröden lassen, wenn es gelingt, die Mischung aufrecht zu erhalten, den Wert der gewachsenen Strukturen hochzuhalten und trotzdem offen für neue Menschen zu sein. Alle, die auf dem Land leben, haben einen Einfluss darauf, ob es gelingt, eine neue dörfliche Identität zu entwickeln, die nicht dem alten Dorf entspricht, auch nicht den verlorenen städtischen Kiezen, aber eben auch keine Stadtrandsiedlung ist, in der sich die BewohnerInnen hinter hohen Hecken verbergen. Bei den unterschiedlichen Ansichten und Lebensstilen ist dazu von allen Seiten viel Toleranz erforderlich, aber auch die Bereitschaft, sich für andere Ansichten zu interessieren und auf sie einzugehen, ohne missionieren zu wollen oder gar die jeweils anderen zu Feinden aufzubauen.
Die Pflege der Feinbilder dient oft zur Aufrechterhaltung einer eigenen Identität, wo diese längst brüchig geworden ist. Die hier Geborenen und ihre zurückgekehrten Verwandten haben vielleicht weniger gemeinsam, als sie in der Abgrenzung von den „Ökos“ vorspielen. Unter den Neuen gibt es „Besser-Wessis“ und „Besser-Ossis“, arme Schlucker und SUV-Fahrer, Menschen mit Kindern und Rentnerinnen mit viel Zeit. Nicht alle HartzIV-Empfänger sind Alkoholiker; nicht alle Alkoholiker sind Einheimische. Die einen mögen feindselig gegenüber Geflüchteten oder Menschen mit anderer Hautfarbe sein, die anderen voll kalter Gleichgültigkeit. Aber wenn‘s drauf ankommt, kommt praktische Hilfe vielleicht gerade aus dem Lager, von dem man es nicht erwartet hatte! Alle, die neu dazukommen, können eine Bereicherung sein.
Um sich in dieser Vielfältigkeit wahrnehmen zu können, braucht es die Begegnung, das Gespräch und dazu die öffentlichen Orte. Deshalb müssen offene Räume wie Gemeindezentren, Jugendclubs, Parkanlagen, Badestrände, aber auch Dorfkneipen und Cafés erhalten bleiben oder, wo es möglich ist, neu entstehen.
Auch den Zuzug neuer BewohnerInnen der frei auf dem Markt angebotenen Häuser und Grundstücke müssen die DorfbewohnerInnen, die alten und die neuen, nicht widerspruchslos hinnehmen. Auch wenn es keine rechtlichen Einflussmöglichkeiten gibt, können die Nachbarn oder auch der Gemeinderat den Verkaufenden ihre Wünsche und Empfehlungen mit auf den Weg geben. Und die Neuen können empfangen werden, es kann ihnen deutlich gemacht werden, dass sie hier nicht in einer anonymen Häuseransammlung untertauschen können, sondern auf Erwartungen treffen.
Auf die befürchtete Gentrifizierung mit Fremdenfeindlichkeit zu reagieren, ist ein Fehler. Fast alle waren ja irgendwann mal neu hier. Die, die herkommen, haben meist einen Grund, woanders wegzugehen. Nach dem 2. Weltkrieg waren es die Flüchtlinge aus dem Osten; nach dem Mauerfall die, deren Kieze in der Innenstadt zerstört wurden; in den letzten zehn Jahren die Asylsuchenden, die auf der Suche nach einem sicheren Ort über Land und Meer flüchten mussten; und jetzt eben die jungen Familien, die vom städtischen Mietpreiswucher an den Rand gedrängt werden. Alle suchen ein neues Zuhause und wollen bleiben, das ist ihr gemeinsames Interesse.
Kommt nicht von „gentle“!
Als Gentrifizierung (von englisch gentry „niederer Adel“), auch Gentrifikation, im Jargon auch die Yuppisierung (siehe Yuppie), bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung zugunsten zahlungskräftigerer Eigentümer und Mieter und deren anschließenden Zuzug.