Seit dem ungeahndeten Petrocaribe-Korruptionsskandal 2018 verschärft sich die Lage in Haiti, weil die Zivilgesellschaft kein Gehör findet und die Bandenkriminalität eskaliert. Anfang Juli besuchte UN-Generalsekretär António Guterres Haiti und sprach von einem Albtraum. Seit April greift die Selbstjustiz durch die neue Bürgerwehr-Bewegung Bwa Kale um sich, der seitdem laut UN mindestens 264 Menschen zum Opfer fielen. Derweil werben die haitianischen Menschenrechtler Pierre Espérance und Rosy Auguste in Europa für eine politische Lösung statt einer Militärintervention, wie sie Guterres im Prinzip unterstützt.
Es sind erschreckende Zahlen: Die UN-Sondermission in Haiti (BINUH) habe die Tötung von „mindestens 264 mutmaßlichen Bandenmitgliedern“ erfasst, die von „selbsternannten Bürgerwehrgruppen“ getötet worden seien, sagte die Sondergesandte in Haiti, María Isabel Salvador, am 6. Juli vor dem UN-Sicherheitsrat. Die haitianische Bevölkerung erlebe, dass sie „in einem Albtraum gefangen“ sei, sagte UN-Generalsekretär António Guterres, der am ersten Juli-Wochenende die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince besucht hatte.
In Haiti forderte Guterres angesichts eskalierender Kämpfe zwischen verfeindeten Gangs eine internationale Schutztruppe zur Unterstützung der Polizei in dem Karibikstaat. „Ich bin in Port-au-Prince, um meine uneingeschränkte Solidarität mit dem haitianischen Volk zum Ausdruck zu bringen und die internationale Gemeinschaft aufzufordern, Haiti weiterhin zur Seite zu stehen, auch mit einer robusten internationalen Truppe zur Unterstützung der haitianischen Nationalpolizei“, schrieb Guterres auf Twitter. „Dies ist nicht die Zeit, Haiti zu vergessen.“
Die Banden können tun und lassen, was sie wollen
Auf Besuchsreise in Berlin, Brüssel und Paris werben unterdessen Pierre Espérance und Rosy Auguste für eine zivile Lösung der haitianischen Krise. Die beiden aus Haiti stammenden Menschenrechtler wissen, wovon sie reden. Espérace ist Generaldirektor des Haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes (RNDDH) und Auguste ist Programmdirektorin ebendieses Netzwerkes. Das Plädoyer für eine zivile Lösung kommt nicht von ungefähr, denn seit Monaten steht eine Militärintervention im Raum, für die auch UN-Generalsekretär António Guterres durchaus zu haben ist. Die von den USA im vergangenen Oktober im UN-Sicherheitsrat eingebrachte Resolution zur Entsendung einer „Eingreiftruppe“ wurde zurückgewiesen, weil Russland und China sich dagegenstellten.
Auch Espérance und Auguste lassen bei ihrem Hintergrundgespräch Ende Juni in Berlin am Ernst der Lage keinen Zweifel: Bewaffnete Gruppen kontrollierten faktisch die gesamte Hauptstadt, sagt Espérance. „Sie können tun und lassen, was sie wollen.“ Das liegt auch daran, dass die Banden in Port-au-Prince eng mit der politischen Elite verbunden sind. Ein Insider, Mathias Pierre, einst Minister für Wahlen und innerparteiliche Beziehungen in Haiti, sagte der Agentur Bloomberg, dass Teile der Regierung, Teile der Opposition und Mitglieder des Privatsektors die Banden seit Jahren finanzieren und mit ihnen „in Komplizenschaft“ arbeiten würden. „Das ist es, was die Banden am Leben erhält“, erklärte er. Espérance und Auguste sehen das ähnlich und halten eine militärische Intervention für „rein kosmetisch“, wenn sie sich nur um ein Ende der Ganggewalt kümmere.
Espérance sieht eine Verschärfung der haitianischen Lage seit 2018. Im November jenes Jahres hatte der Oberste Rechnungshof Haitis festgestellt, dass 15 ehemalige Regierungsfunktionäre für soziale Zwecke eingeplante Gelder veruntreut hätten. Dabei handelt es sich um 3,8 Milliarden US-Dollar aus dem Sozialfonds von Petrocaribe. Bei diesem noch von Venezuelas verstorbenem Präsidenten Hugo Chávez initiierten Projekt lieferte Venezuela Öl zu Vorzugspreisen an bedürftige karibische Länder, um Spielraum für Sozialpolitik zu schaffen.
Veruntreuung von Mitteln aus dem Petrocaribe-Sozialfonds nicht aufgeklärt
Die Veruntreuung fand zwischen 2008 und 2016 statt und soll vor allem unter Präsident Michel Martelly (2011 bis 2016) Höchststände erreicht haben. Der Oberste Gerichtshof ermittelte, dass auch Martellys Nachfolger und Parteifreund Jovenel Moïse selbst Geld veruntreut haben soll. Bis heute ist die Veruntreuung von Mitteln aus dem Petrocaribe-Sozialfonds nicht aufgeklärt, obwohl die Zivilgesellschaft dies vehement einfordert und unzählige Male deswegen auf die Straßen gegangen ist – von den internationalen Medien weitgehend ignoriert.
International Schlagzeilen machte hingegen der Mord an Präsident Jovenel Moïse am 7. Juli 2021. Er wurde in seinem eigenen Zuhause von kolumbianischen Söldnern ermordet, die sich als Mitarbeiter der US-Drogenbekämpfungsbehörde Dea ausgegeben hatten. Haiti ist ein wichtiges Transitland für Drogen. Die Verbindungen zwischen Ex-Militärs, Politikern und den Drogenbossen sind bekanntermaßen eng; auch Moïse wurden immer wieder enge Verbindungen zu kriminellen Banden nachgesagt, belegt ist das freilich nicht.
// Martin Ling
Dieser Artikel ist in voller Länge in der aktuellen Ausgabe der Lateinamerika Nachrichten Nummer 589/590 – Juli/August 2023 nachzulesen.