Am 30. Oktober wurde Luiz Inácio Lula da Silva im zweiten Wahlgang mit 50,9 Prozent der gültigen Stimmen gegenüber 49,1 Prozent der Stimmen für den Amtsinhaber Jair Bolsonaro zum Präsidenten Brasiliens gewählt. LN sprachen mit der politischen Koordinatorin der Gruppe Mulheres Negras Decidem (Schwarze Frauen entscheiden), Tainah Pereira, über die Ergebnisse dieser historischen Wahl und ihre Bedeutung für die Zukunft des Landes.
In Brasilien machen Schwarze Frauen 28 Prozent der Bevölkerung aus, was sie zur größten demografischen Gruppe macht. Nach der letzten Wahl im Jahr 2018 hatten sie jedoch weniger als zwei Prozent der Sitze im Nationalkongress inne. Hat sich ihre Repräsentativität nach dieser Wahl verbessert?
Es werden nun 2,5 Prozent anstatt 2,3 Prozent der Sitze von Schwarzen Frauen besetzt, es gab also keine größeren Veränderungen, was die Repräsentanz angeht. Zudem wurden bei diesen Wahlen zwar viele Schwarze Kandidatinnen gewählt, aber nicht alle setzen sich für die antirassistische Agenda ein. Oft stehen sie mit rechten Parteien in Verbindung, stehen Bolsonaro nah. Das liegt auch daran, dass die Wahlgesetzgebung geändert wurde, eigentlich um die Kandidatur Schwarzer zu fördern. Die Parteien nutzen diese Vorschriften aber aus, um mehr Mittel zur Finanzierung ihrer Kampagne zu erhalten.
Bei dieser Wahl unterstützte Mulheres Negras Decidem 27 Schwarze Frauen mit einer progressiven politischen Agenda bei ihren Kandidaturen, eine in jedem brasilianischen Bundesstaat und im Bundesdistrikt. Wurden diese Kandidatinnen gewählt?
Wir konnten gute Ergebnisse erzielen. Viele Kandidatinnen erhielten eine große Anzahl an Stimmen. Aber von den 27 wurden leider nur zwei gewählt, Laura Sito von der PT und Camila Valadão von der Partei PSOL. Als junge Schwarze Frau gelang es Laura beispielsweise bei den Wahlen zum Landesparlament von Rio Grande do Sul, einem Bundesstaat, der historisch viele Probleme mit Rassismus hat, mehr als 30.000 Stimmen zu erhalten.
Seid ihr zufrieden mit diesem Ergebnis?
Mit der Zahl der gewählten Kandidatinnen liegen wir weit unter unseren Erwartungen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass neben uns Hunderte von Gruppen für Schwarze Kandidatinnen mobilisiert haben. Aber die von den Bewegungen unterstützten Kandidatinnen, die gewählt wurden, starten mit einem enormen Rückhalt aus der Zivilgesellschaft in die nächste Legislaturperiode. Diesen brauchen sie auch, um einiges von dem rückgängig zu machen, was die Regierung von Bolsonaro in der Gesetzgebung festgeschrieben hat. In diesem Sinne sind wir zufrieden. Noch nie hat es eine so starke Mobilisierung gegeben wie bei diesen Wahlen.
Wie erklärst du dir diese große Mobilisierung?
Die brasilianische Bevölkerung hat erkannt, dass tiefgreifende soziale Veränderungen nur durch Politik möglich sind. Die Art und Weise, wie Bolsonaro mit der Pandemie umging, zeigte die großen gesellschaftlichen Ungleichheiten auf, die in Brasilien bestehen und die Notwendigkeit, politische Vertreter*innen zu haben, die ein breiteres gesellschaftliches Profil haben und damit den Forderungen einer Mehrheit der Bevölkerung gerecht werden.
Warum ist es notwendig, Schwarze Frauen bei ihrer Kandidatur zu unterstützen?
Die Frauen, die wir unterstützen, haben ein politisches Profil, das weit über das gängige Profil hinausgeht. Sie kommen aus den sozialen Basisbewegungen, aus der Quilombola-Bewegung. Für diese Frauen ist es nicht einfach, sich zur Wahl zu stellen, zunächst innerhalb der Parteien und dann im politischen Wahlkampf selbst. Denn ihre politischen Ideen haben zum Ziel, die Demokratie zu vertiefen, und stellen die etablierten Machtverhältnisse infrage. Deshalb greift man sie an. Gleichzeitig bringt es die Gesellschaft als Ganze weiter, sie zu wählen, denn ihre politischen Anliegen beziehen sich auf öffentliche Interessen der brasilianischen Gesellschaft insgesamt.
Kannst du dafür ein Beispiel nennen?
Ein Beispiel dafür ist die neu gewählte Abgeordnete Laura Sito, die sich für Themen einsetzt, die von den Wählerinnen in Brasilien als prioritär angesehen werden, wie zum Beispiel das Thema Bildung. Laura setzt sich jedoch für eine inklusive, antirassistische und emanzipatorische Bildung ein.
Wie ist in eurer Gruppe die Stimmung nach dem Krimi der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen?
Ich persönlich bin weniger beunruhigt als vor dem zweiten Wahlgang. Das Militär ist weniger eine Gefahr für die Demokratie und Verfassung, als wir dachten. Verschiedene Instanzen haben das Wahlergebnis bereits anerkannt und die gegenwärtig stattfindenden Proteste wurden nicht nur vom Obersten Wahlgerichtshof TSE, sondern auch vom Obersten Gerichtshof STF, dem Kongress und den Medien verurteilt. Wir haben diese institutionelle Hürde überwunden, aber ich mache mir Sorgen um die Anerkennung in der Bevölkerung. Wir haben eine große Anzahl von Menschen auf der Straße, die einen Putsch fordern und antidemokratische Handlungen verteidigen. Das zu verändern bedarf eines längerfristigen Prozesses, für den es eine starke demokratische Führung, ausgehend von den Landesparlamenten und dem Kongress benötigt, sowie eine starke Bewegung aus der Basis, die die Politisierung der neuen Generationen übernimmt. Er hängt auch von der Wiederbelebung einer öffentlichen Debatte über drängende Alltagsfragen ab.
Heißt das, der Bolsonarismo geht weiter?
Die extreme Rechte ist unter der Regierung Bolsonaro gewachsen und hat sich organisiert. Aber das geht weit über Bolsonaro, seine Familie und seine politischen Anhänger hinaus. Diese autoritären Ideen sind ein globales Problem, das in Brasilien auf fruchtbaren Boden gefallen ist.
Die Gouverneure, die in São Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro gewählt wurden, stehen Bolsonaro sehr nahe. Wird dies die Arbeit der sozialen Bewegungen und Gruppen wie Mulheres Negras Decidem behindern?
In diesen Bundesstaaten sind die Bewegungen bereits stark, gut strukturiert und haben viele Ressourcen. Viel schwieriger ist es weiterhin hauptsächlich im Nordosten, Norden und vor allem im Mittleren Westen des Landes, wo die Strukturen weniger gefestigt sind.
Wie sollen die 51 Prozent der Brasilianer*innen, die zur Wahl gegangen sind und für Lula gestimmt haben, mit den 49 Prozent der Wähler*innen Bolsonaros umgehen?
Das ist eine große Herausforderung. Der designierte Präsident Lula konzentriert sich auf Einheit und Versöhnung, aber er wird Hilfe von den sozialen Bewegungen brauchen, um diese Spaltung zu überwinden. Diejenigen, die Bolsonaro unterstützen, verstehen ebenfalls die Bedeutung von Politik. Aber diese Wähler*innen glauben, dass es einen Kampf zwischen Gut und Böse gibt. Jetzt geht es darum, dieses Verständnis zu verändern, diese Menschen wieder in die Debatte über unsere gemeinsame Realität einzubinden. Diese ist nicht nur für die 49 Prozent problematisch, sondern für uns alle. Die Realität des durchschnittlichen Brasilianers und der durchschnittlichen Brasilianerin ist sehr prekär. Je schneller es uns gelingt, wieder über praktische Fragen des täglichen Lebens zu diskutieren, um unser aller Situation zu verbessern, desto leichter wird es uns fallen, mit diesen Unterschieden umzugehen.
Lula wird die Unterstützung der sozialen Bewegungen brauchen. Viele haben seine Kampagne unterstützt, dabei aber betont, dass sie Teil der Opposition werden, sobald Lula sein Amt antritt. Wie kann seine Regierung so überhaupt erfolgreich werden?
Im ersten Jahr werden die Bewegungen der Regierung sehr nahestehen. Es wird ein Jahr, in dem das Ausmaß des entstandenen Schadens gemessen und Strategien für den Wiederaufbau geplant werden. Alles wird davon abhängen, wie sich die neue Regierung personell zusammensetzt. Es wurde bereits Kritik an jener Gruppe geäußert, die den Regierungswechsel vollzieht. Sie besteht vor allem aus weißen Männern. Bis zur Bekanntgabe der Minister*innen verbleiben noch einige Wochen. Es ist wichtig, dass Lula Frauen, Schwarze und indigene Minister*innen benennt. Dies würde auch die Möglichkeiten für eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Zivilgesellschaft verbessern.
Was sind eure Erwartungen an die Regierung Lula?
Ich habe große Erwartungen bezüglich der Anzahl der Frauen, die zukünftig Teil der Regierung sein werden. Darüber hinaus ist es vor allem in den Gremien, die sich mit Rassismus befassen, wichtig, dass Lula Personen mit einem Profil einsetzt, das der Agenda der Schwarzen Bewegungen entspricht. Lula muss auf die personellen Empfehlungen hören, die aktuell ausgesprochen werden, wie zum Beispiel die für die Abgeordnete Erica Malunguinho, eine Schwarze Transfrau, für das Sekretariat zur Förderung der Rassengleichheit oder für die Palmares-Stiftung.
Welche Rolle haben Frauen während der Wahl eingenommen?
Sie spielten vor allem für die Arbeit an der Basis eine wichtige Rolle. Die Zahl der Stimmenthaltungen ging im zweiten Wahlgang zurück, was maßgeblich an den Frauen lag, die andere Personen in der Familie zur Stimmabgabe bewegt haben. Dank ihnen änderte Lula auch den Schwerpunkt seiner Kampagne und sprach mehr über die Zukunft, über Chancen für junge Menschen. Die 18- bis 35-Jährigen waren sich lange unsicher, ob sie für Lula oder Bolsonaro stimmen sollten, aber stimmten im zweiten Wahlgang mehrheitlich für Lula.
Fast ein Viertel der wahlberechtigten Bevölkerung enthielt sich oder wählte ungültig. Ist das ein Zeichen dafür, dass die Demokratie in Brasilien in einer Krise steckt?
Die niedrige Wahlbeteiligung trotz Wahlpflicht ist Ausdruck der Krise der Repräsentativität und des Vertrauens in die Institutionen, die seit mindestens zehn Jahren besteht. Ein großer Teil der Bevölkerung glaubt nicht an die Möglichkeit eines Wandels, und ein anderer Teil befindet sich in einer so prekären Lage, dass er nicht in der Lage ist, sich am politischen Prozess zu beteiligen.
Welche internationalen Auswirkungen hat die Wahl in Brasilien?
Mit der Rückkehr der Regierung Lula werden wir uns wieder Themen von weltpolitischer Bedeutung widmen, vor allem klima- und umweltpolitisch in Bezug auf das Amazonasgebiet, aber auch in den Bereichen Gesundheit, beim Thema Menschenrechte und Konfliktmediation. Das sind alles Themen, bei denen Brasilien früher schon führend war. Dass wir auf der Weltbühne zurück sind, davon profitiert nicht nur Brasilien.
//Interview & Übersetzung: Julia Ganter