vonHans-Ulrich Dillmann 06.05.2009

Latin@rama

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Ungewohnte Bilder beim morgendlichen Dawnen in der Bet El-Synagoge in Polanco los Morales. Rabbiner Marcelo Rittner, sein Rabbinerkollege Leonel Levi und weitere zehn Männer haben an diesem Morgen in Mexiko Stadt nicht nur ihre Tefelin an- und den Talit umgelegt. Zur Vorsicht gegen die in Mexiko grassierend Grippewelle „Influencia A H1N1Ihr” hat die Mehrzahl der Beter ihren Mund mit einer weißen Mundmaske geschützt.

Das öffentliche Leben im rund 110 Millionen Einwohner zählenden mittelamerikanischen Staat ist wegen der im Volksmund noch immer Schweinegrippe genannten Krankheit weitgehend paralysiert. Die Spitzenspiele der ersten mexikanischen Liga wurden vor leeren Zuschauerrängen ausgetragen. Ansonsten sind öffentliche Veranstaltungen abgesagt, Schulen alle und Behörden teilweise geschlossen. Nach offiziellen Angaben gibt es in Mexiko derzeit fast 200 Influencia-Erkrankte, 22 Personen sind danach bisher an dem Virus gestorben.

Der knapp eine Fahrstunde von Stadtzentrum in Mexiko-Stadt entfernte Vorort beherbergt mit 4.000 Mitgliedern eine der größten jüdischen Gemeinden Mexikos. Gerade mal ein Dutzend Männer verlieren sich in der „kleinen Synagoge”, die normalerweise 120 Personen fasst. Jeder steht weit entfernt von den anderen Betern. Eine Vorsichtsmaßnahme, um mögliche Ansteckungen mit dem Grippevirus zu verhindern. „Wochentags kommen zwischen zwei und drei Dutzend Beter”, sagt Rabbiner Marcelo Rittner, der Rabbiner der konservativen Gemeinde, „derzeit halten wir nur dann Gottesdienst und garantieren einen Minjan, wenn Personen Kaddisch sagen müssen.” Zum Glück sei Lag BaOmer-Zeit, so müssten wenigstens keine Hochzeiten abgesagt werden.

Rabbiner Marcelo Rittner

Die Tora wird zwar noch zum Lesen aus dem Schrein geholt, aber „wir reichen sie nicht herum. Wir machen alles, was in unserer Macht steht, um die Ausbreitung der Influencia einzudämmen und potentielle Ansteckungsmöglichkeiten zu reduzieren.” Händeschütteln und Begrüßungsküsse sind im Moment Tabu. Das morgendliche gemeinsame Frühstück nach dem Gottesdienst wurde ebenfalls gestrichen.

 „Alle in der Gemeinde haben mir großem Verständnis auf die Gesundheitsmaßnahmen reagiert”, sagt der 62-jährige Argentiniers Rittner, der seit 25 Jahren in der Gemeinde ist. Sogar der Kiddusch nach dem Kabbalat Schabbat wurde gestrichen. Unter normalen Umständen nehmen daran bis zu 600 Personen teil. Alle Veranstaltungen der Bet El-Gemeinde, berichtet Rittner, sind abgesagt, das Jugendzentrum, Sportanlagen und Fitnessräume bis auf Weiteres geschlossen.

Ebenso wie die zahlreichen katholischen und eine große Zahl evangelikaler Kirchengemeinden beteiligen sich die jüdischen Gemeinden an den von der Regierung von Felipe Calderón verordneten Epidemievorsichtsmaßnahmen. „Die Juden Mexikos unterstützen die Anordnungen der Regierung”, betont die Sprecherin des jüdischen Zentralverbandes, Renee Dayán. In einem Rundbrief habe das Comite Central den Mitgliedsgemeinden mit seinen landesweit insgesamt 26 Synagogen Handlungsvorschläge für die Verhinderung einer Infektion mit dem Influencia-Virus unterbreitet und aufgefordert, entsprechend der staatliche Anordnung die Gemeindeeinrichtungen zu schließen und alle angeordneten Maßnahmen umzusetzen. Etwa 93 Prozent der Juden Mexikos gehören zu einer der Gemeinden, die im Zentralkomitee organisiert sind. Die Gemeinden haben an ihre Mitglieder kostenlos Mundmasken verteilt.

Seit fast zwei Wochen wird in den 19 Bildungseinrichtungen, die zum Teil zu den Besten des Landes gehören, nicht mehr unterrichtet. Allein 16 davon gibt es in Mexiko-Stadt „Unsere Schulen sind zwar privat, unterliegen aber der staatlichen Aufsicht.” Lediglich gerüchteweise werde davon gesprochen, dass zwei Gemeindemitglieder an der gefährlichen Grippe erkrankt seien, darunter ein Kind. „Aber wir haben keine offizielle Bestätigung”, sagt die 45 Jahre alte Dayán, die gleichzeitig Direktorin der Zeitschrift Tribuna Israelita ist.

„Eigentlich kommen zum Schabbatgottesdienst immer 23 Beter, aber wir haben alles abgesagt”, sagt Mel Bronstein aus Puerta Vallarta. Derzeit ist Nebensaison in der Hafenstadt am Pazifik. Und deshalb sind nur wenige Juden in der Stadt. Nach Pessach hätten viele der im Winter dort wohnenden US-Juden die Küstenstadt verlassen, um in ihre Heimatorte zurückzukehren. Zwischen November und April leben in Puerta Vallarta fast 150 Jüdinnen und Juden und genießen die angenehmen Temperaturen.

In fast allen sefardischen und askenasischen orthodoxen ebenso wie den liberalen und konservativen Gemeinden Mexikos sind zurzeit nur die Hausmeister zu erreichen. „Wir haben bis auf Weiteres geschlossen”, heißt es fast unisono. Eine Ausnahme bildet die Comunidad Israelita de Guadalajara im Westen des Landes. „Wir halten Gottesdienst”, sagt Abraham Amitay. Der 34 Jahre alte Rabbiner betreut die „modern orthodoxe” Gemeinde. Über die Mitgliederzahl will er aus Sicherheitsgründen nicht sprechen.

Der Gemeindevorstand habe den Betern eindringlich empfohlen, sich nicht mit Körperkontakt zu begrüßen und auch beim Gebet einen Mundschutz zu tragen. „Aber es steht jedem frei und nicht alle tragen ihn”, sagt Amitay. Allerdings wird das Morgen- und Abendgebet nicht wie üblich in der kleinen, 90 Personen fassenden Synagoge abgehalten, sondern im „großen Gotteshaus” mit seinen 600 Betplätzen. „Alle stehen im Raum verteilt und die Fenster sind weit geöffnet.”

Während in den Gemeinde „lediglich” die Synagogen aufgrund der Gesundheitsverordnungen leer stehen und die Sportgeräte Staub ansammeln, müssen die koscheren Restaurant jeden Tag Umsatzeinbußen verbuchen. Die Regierung hatte nach der Entdeckung des Virus angeordnet, dass in den Restaurants keine Speisen mehr serviert werden dürfen. Lediglich Hauslieferungen sind erlaubt und Selbstabholer dürfen bedient werden. „Das Abendgeschäft ist völlig zum Erliegen gekommen”, beklagt sich der Inhaber des koscheren „The Kitchen“, David Levi. Küchenpersonal und die Kellner, die jetzt lediglich Styropor verpackte Menüs aushängen, tragen Handschuhe und Mundschutz. „Nach jedem Handgriff ist Händewaschen angesagt”, sagt Levi. Ein paar Tausend US-Dollar Verlust habe er. Auch im Fine Dining Restaurant Gaucho Grill Kosher House herrscht gähnende Leere. Bankett- und Gemeinschaftsessen seien abgesagt worden, lässt Inhaber Victor Romano durch seine Geschäftsführerin ausrichten. „Wir hoffen, dass die Maßnahmen bald wieder aufgehoben werden können”, sagt auch ein Mitarbeiter eines der Kurson Kosher Supermärkte in der mexikanischen Hauptstadt. Allerdings hätten Vorratseinkäufe koscher lebender Personen zu Beginn der Grippe-Krise einen erhöhten Umsatz beschert.

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