vonPeter Strack 04.01.2016

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

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Ein Bauernmädchen aus einem kleinen Dorf im zentralen Bergland Boliviens. Als 13-Jährige wird sie auf eigenen Wunsch und gegen den Willen der Eltern in die Großstadt Cochabamba gebracht, wo sie als Hausangestellte zwei Jahre lang hoffnungslos ausgebeutet wird. Ohne nur einen Lohn bekommen zu haben, kehrt sie danach aufs Land zurück, wo sie in der Landwirtschaft und in einer Bergwerksfirma arbeitet. Scan casi 2Noch als Jugendliche geht sie wieder nach Cochabamba, wo sie sich diesmal jedoch in der entstehenden Organisation der Hausangestellten engagiert. Es ist ein mühsamer Prozess der Emanzipation zusammen mit ihren Leidensgefährtinnen, die ihr zur zweiten Familie werden.

Casimira Rodríguez Romero (siehe auch einen früheren Latin@rama-Beitrag) übernimmt immer mehr Verantwortung, beteiligt sich am Aufbau des bolivianischen Dachverbandes der Hausangestellten, zu deren Sprecherin sie schließlich gewählt wird. In ihre Amstzeit fällt, nach 13 Jahren gewerkschaftlichem Kampfes und Lobbyarbeit, die Verabschiedung des ersten Gesetzes zur Regelung der Arbeitsbedingungen in fremden Haushalten in Bolivien. Später übernimmt Rodríguez Funktionen im lateinamerikanischen Dachverband. casimira rodriguez foto arnaldo pampillon

Doch bekannt wurde sie vor allem, als Evo Morales sie 2006 zu seiner ersten Justizministerin ernannte. Nach einem Jahr heftigster Widerstände aus den Reihen der etablierten Justiz und Boykott selbst aus dem Ministerium, dem sie vorstand, wurde sie ersetzt.
Ihre Erfahrungen aus jeder dieser Lebensetappen würden jeweils ein eigenes Buch füllen.

Nun ist im Cochabambiner Khipus-Verlag unter dem Titel „Camila“, ihrem Spitznamen, auf über 500 Seiten die Autobiographie der Indígena, Feministin und Sozialistin, wie sie sich selbst bezeichnet, erschienen. Gerade einmal zehn Seiten für ihre Kindheit auf dem Dorf, aber genug, um ein anschauliches Bild von einer kleinbäuerlichen Quechua-Familie zu zeichnen, ohne zu romantisieren, aber auch ohne in Elendsfolklore zu verfallen.

Die Werte, die ihr im späteren Leben geholfen haben, werden ebenso dargestellt wie die eigenen Unsicherheiten und Wünsche, die schließlich dazu führten, dass sie Opfer von Kinderhändlern wurde. In ihrer Ministerzeit keine wesentlichen Schritte zur Lösung dieses Problems beigetragen haben zu können, räumt sie selbstkritisch ein, bedauere sie ganz besonders.

Scan CamilaDie Beschreibung ihres Lebens als rechtlose Hausangestellte ist nicht nur ein Psychogramm der Mechanismen, wie Menschen abhängig gemacht werden, sondern auch eine scharfe Analyse der Formen kultureller Diskriminierung in Bolivien. Und auch wenn die Darstellung des Organisationsprozesses der Hausangestellten und der Verabschiedung des von ihnen vorangetriebenen Gesetzes zu ihrem Schutz schon genug Anschauungsmaterial für das Funktionieren des politischen Systems Boliviens scheint, so ist das spannendste Kapitel gewiss das über ihre Zeit als Ministerin.

Genauso ehrlich, wie sie ihren eigenen Lernprozess im neuen Amt beschreibt, analysiert sie auch die Widerstände. Sei es von Jura-Professoren, die niemanden vor sich ertragen mögen, die auf dem zweiten Bildungsweg gerade mal den Abitursabschluss erreicht haben, und schon gar keine Frau. Ministerkollegen, die sie nicht informieren mögen oder ihre Behörde finanziell austrocknen. Vom Präsidenten, der ihr ihre künftigen Mitarbeiter einfach vorschreibt, und wo „Männerfreundschaft“ vor Leistung und Loyalität gegenüber der Ministerin geht. Sie kritisiert Seilschaften, Leute, die den Autoritäten nur Honig um den Mund schmieren, aber sie beschreibt auch, wie sie versucht und teilweise auch erreicht hat, die Prinzipien der Solidarität und Basisverbundenheit in ihrem Amt umzusetzen.

Als ihr wichtigstes Projekt beschreibt sie die Gleichstellung einer basisnahen, kostenlosen und unbürokratischen indigenen Justiz mit der für die Armen zu kostspieligen, aufwendigen und ineffizienten offiziellen Justiz. Rodríguez gab den Anstoß. Doch bis heute ist es Regierung Morales nicht gelungen, das Justizwesen substantiell zu reformieren.

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In guter feministischer Tradition schafft es Rodríguez bei all dem, die Verbindungen zwischen Politischem und Privatem zu zeichnen, die Familie, Kinder, Religion.
An ihrer Unterstützung für Evo Morales, dem sie ein Kapitel widmet, lässt sie keinen Zweifel. Interessant ist auch, wie es schon vor dessen Regierungsbeginn enge Kooperation und gegenseitige Unterstützung gab.

„Wir Hausangestellte beteiligen uns am Prozess des Wandels“, sagt Rodríguez. Aber sie betont auch, dass der Prozess des Wandels nicht nur einer Person oder einer Partei zuzurechnen sei, und dass die Basis es nicht verzeihen würde, wenn man die Probleme dieses Prozesses nicht kritisierte.

Ziel der reichlich bebilderten Biographie der derzeitigen Sozialministerin des Departamentos Cochabamba war ursprünglich, den Hausangestellten die Erinnerung an die Geschichte und Kämpfe der eigenen Organisation zu erhalten. Daraus geworden ist ein beeindruckendes Dokument eines persönlichen wie kollektiven Emanzipationsprozesses und ein Einblick in das soziale und politische Innenleben Boliviens.

Beitragsfoto: taz, Casimira mit Freundin im Bergwerkszentrum (privat), im Büro: Bartolinas/Arnaldo Pampillon, Demonstration: Arbeitsministerium Boliviens

Porträts auch in Die Zeit, Jungle-World

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https://blogs.taz.de/latinorama/camila-biographie-einer-emanzipation-und-innensicht-boliviens/

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kommentare

  • Leider nein. Das Buch ist gerade erst herausgekommen. Die ISBN ist 978-99974-49-64-1, die E-Mail des Verlags: ventas@editorialkipus.com . Aber ich fuerchte, ueber den Atlantik hinweg ist das nicht so einfach. Verkaufspreis in Bolivien 60 Bs., ca. 9. Euro.

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