vonPeter Strack 27.04.2017

Latin@rama

Politik & Kultur, Cumbia & Macumba, Evo & Evita: Das Latin@rama-Kollektiv bringt Aktuelles, Abseitiges, Amüsantes und Alarmierendes aus Amerika.

Mehr über diesen Blog

Am 20. April traf die Unterkommission für Menschenrechte des Europäischen Parlaments, darunter der Berliner CDU-Abgeordnete Joachim Zeller, in La Paz eine Delegation der Union der arbeitenden Kinder Boliviens (UNATSBO). Thema war das bolivianische Kinder- und Jugendgesetz, das unter gewissen Bedingungen die Arbeit von Kindern ab dem Alter von zehn Jahren erlaubt. Diese Regelung wird insbesondere von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) kritisiert. Zwei Tage nach dem Treffen fragten wir Juan David Katari Ticona, den derzeitigen nationalen Koordinator der Bewegung, nach seinen Eindrücken.

Juan David: Ich bin 15 Jahre alt und gehe in das 10. Schuljahr. Samstags arbeite ich auf einem Markt. Über die Woche auf einem Parkplatz in der Stadt. So bin ich auch zur Organisation arbeitender Kinder gestoßen, zunächst in Cochabamba, dann auf nationaler Ebene.

Wie ist es Euch bei dem Treffen mit den Mitgliedern des Europaparlaments ergangen? 

Sie haben uns zunächst ihre Position dargelegt. In ihrem Land sollen Kinder lernen und spielen. Und erst wenn sie die Schule oder Universität beendet haben, sollen sie arbeiten. Arbeit sei schlecht. Danach waren wir von der UNATSBO dran. Wir waren aus Cochabamba, Oruro, Santa Cruz, Potosí und El Alto nach La Paz gekommen. Jeder hat seinen Namen und sein Alter genannt, und in welche Klasse er geht. Denn sie glauben, wir würden nicht in die Schule gehen. Wir haben über unsere Arbeit geredet und ein wenig über unsere Geschichte, damit sie unsere Situation verstehen können.

Sie haben uns gefragt, warum wir arbeiten. Anfangs immer aus Notwendigkeit, haben wir geantwortet. Aber wenn man eine gewisse wirtschaftliche Absicherung erreicht, entdeckt man, dass die Gruppe der arbeitenden Kinder zu deiner zweiten Familie geworden ist. Es sind deine Kollegen und Freunde. Arbeit ist auch Bestandteil unserer Kultur. „Lüge nicht, stehle nicht, sei nicht faul!“. Diese nationalen Werte prägen unsere Arbeit sehr. Denn um nicht faul zu sein und nicht stehlen zu müssen, um das zu bekommen, was du benötigst, musst du arbeiten. Dein ganzes Leben lang musst du dich anstrengen.

Und was haben die Parlamentarier geantwortet?

Die Abgeordneten aus Portugal sagten, dass man früher bei ihnen auch gedacht habe, dass Kinder aus kulturellen Gründen arbeiten. Aber über die Jahre wären sie von der Kinderarbeit, von der Armut weggekommen. So bezeichnen sie uns: Arme. Wir glauben aber nicht, dass wir die Armen sind und auch nicht die Ursache von Armut. Denn wir arbeiten, um unser Land und uns selbst besser zu machen. Klar, wenn die Armut beseitigt wäre, dann würden viele Kinder aufhören zu arbeiten. Aber wir ziehen es tausendmal vor zu arbeiten, als nur zur Schule zu gehen. Die Abgeordneten sagen, dass man zuerst studieren muss, um später arbeiten zu können. Für uns ist es aber auch umgekehrt: Viele Kinder arbeiten, um weiter zur Schule gehen zu können. Natürlich gehen sie zur Schule, um später einen Beruf zu erlernen und unter besseren Bedingungen arbeiten zu können.

Ich habe jüngere Geschwister. Meine 13-jährige Schwester arbeitet auch. Aber die 11-jährige bleibt zu Hause. Ich arbeite auch dafür, dass sie besser lernen können. Früher sind wir im südlichen Cochabamba zur Schule gegangen. Aber dank meiner Arbeit, sowie der Arbeit meines älteren Bruders und meiner Mutter konnten wir näher ins Stadtzentrum ziehen. In Bolivien ist es leider so, dass es im Zentrum die besten Schulen gibt. Die städtischen Randzonen haben ein mittelmässiges Bildungsangebot. Und auf dem Land gehen Kinder manchmal nur einen Tag die Woche zur Schule. Das wollen wir jetzt gemeinsam mit dem Bildungsministerium ändern.

Meine Kollegen haben bei dem Treffen in La Paz gesagt, dass man die Armut ausrotten müsse, um die Zahl der arbeitenden Kinder deutlich senken zu können. Auch die Korruption müsse bekämpft werden, die es in den staatlichen Stellen wie auch den Betrieben gibt. Wenn ein Betrieb wegen Korruption geschlossen wird, dann werden unsere Eltern entlassen und finden nur noch schwer eine Anstellung. Diese wirtschaftlichen Probleme haben sich schon seit vielen Regierungen angesammelt. Da wurde Geld gemacht und ins Ausland geschafft. Fast nie blieb etwas für die Kinder hier, und noch weniger für die Frauen. Die waren fast nichts wert. Aber das hat sich jetzt geändert. Darüber bin ich froh.

Eine andere Frage der Abgeordneten war, wieviel wir verdienen und ob wir gleich bezahlt werden wie die Erwachsenen. Ich habe ihnen von meiner Arbeit auf dem Parkplatz erzählt. Pro Monat zahlen sie mir 800 Bolivianos (umberechnet gut hundert Euro). Der gesetzliche Mindestlohn ist derzeit 1805 Bolivianos. Da ich halbtags arbeite, müssten es also 900,025 Bolivianos sein. Aber ich bekomme auch ein Mittagessen. Die 10 Bolivianos dafür multipliziert mit den 20 Arbeitstagen ergeben 200 Bolivianos. Zusammen also 100 Bolivianos mehr als der Mindestlohn.

Wir glauben, dass das Kinder- und Jugendgesetz darauf einen wichtigen Einfluss hatte. Denn dort steht, dass ein Kind, das die gleiche Arbeit wie ein Erwachsener macht, auch gleich bezahlt werden muss. Klar, es gibt auch viele Fälle, wo die Kinder nicht den gesetzlichen Mindestlohn bekommen. Ich aber habe hier diese Arbeit auf dem Parkplatz dank “Arbeit in Würde” bekommen. Das Projekt hilft uns bei der Arbeitssuche. Sie kümmern sich viel um den formellen Sektor, wo es einen Arbeitgeber gibt. Und sie helfen dabei, dass die Kinder nicht ausgebeutet werden und ihre Rechte kennen. Ich habe eine gute Arbeit. Ich muss mich nicht viel anstrengen. Ich kann nebenher meine Hausaufgaben machen, und wenn es mir langweilig wird, kann ich spielen.

Wieviel verdienen deine Eltern?

Mein Vater hat mich vor zehn Jahren verlassen. Aber meine Mutter ist bei mir. Sie arbeitet drei Tage pro Woche als Hausangestellte. Sie verdient 900 Bolivianos. Aber ihre Arbeit ist viel anstrengender als meine. Sie muss sauber machen, kochen…

Wir drücken unsere Sorge aus in Bezug auf das generelle Problem der Kinderarbeit. Kein Kind sollte arbeiten müssen, und noch viel weniger unter gefährlichen Bedingungen. Arbeit kann im Gegenteil die Bildung der Kinder beeinträchtigen. Auch wenn wir die Komplexität des Problemes im Zusammenhang mit der Armut anerkennen, fordern wir die bolivianische Regierung auf, die Erfüllung der Rechte der Kinder unter allen Umständen zu garantieren. Denn es wurde klar, dass die Schutzbestimmungen des bolivianischen Gesetzes zur Kinderarbeit erst noch in vollem Umfang umgesetzt werden müssen. Wir ermutigen die bolivianische Regierung, die Unterstützung von UNICEF und ILO bei der Anwendung des geltenden Gesetzes und in Bezug auf künftige gesetzliche wie institutionelle Verbesserungen anzunehmen.“

Der auf Kinderarbeit bezogene Auszug der Schlusserklärung der Parlamentarier-Delegation zum Ende des Besuchs in Bolivien. (Übersetzung P.S., eine Hintergrundanalyse zur internationalen Kontroverse findet auf der Seite von Pronats).

Liest man die Abschlusserklärung der Europarlamentarier, scheint es nicht so, dass ihr sie so recht habt überzeugen können.

Zu überzeugen ist etwas schwierig. Das ist umgekehrt ja genauso, wenn sie kommen, um den Kindern zu sagen, dass arbeiten schlecht ist. Die überzeugen sie auch nicht, weil die Kinder ja wissen, unter welchen Bedingungen sie leben. Es scheint aber so, dass die Abgeordneten unsere Auffassungen nicht berücksichtigt haben. Und das, obwohl sie so viele schwierige und konfliktive Lebensgeschichten meiner Kollegen zu hören bekamen. Scheinbar haben sie ihr Herz nicht erreicht. Einem Mädchen kamen sogar die Tränen. Es wäre gut gewesen, wenn sie in ihrer Erklärung wenigstens eines dieser Zeugnisse aufgenommen hätten. Damit alle wissen, wie hart die Situation arbeitender Kinder ist und wieviel diese tun, um voranzukommen.

Diese harten Lebensbedingungen sind doch der Grund, warum die Abgeordneten meinen, dass Kinder nicht arbeiten sollten.

Auch wenn das Leben hart ist, wissen wir, wie wir vorankommen. Wie die Schwierigkeiten überwunden werden. Und warum? Weil wir arbeiten. Die Arbeit verbessert zunächst die wirtschaftliche Situation und dann wird auch das Leben besser. Alles, was ein arbeitendes Kind bekommt, weiss es zu schätzen, auch das Geld. Man fängt an, auch an die Familie zu denken. Unsere Kultur unterscheidet sich wohl von der portugiesischen. Und letztlich entscheidet die Kultur. Deshalb können sie nicht einfach hierherkommen, um die Arbeit von Kindern abzuschaffen. Wenn die Abgeordneten aufs Land gegangen wären, hätten sie viele arbeitende Kinder gesehen. Ein Kind, das dort nicht arbeitet, gilt als faul. Und man glaubt, dass im Leben aus ihm nichts wird. Wenn es nur lernt, lernt, lernt, aber nie erfährt, was arbeiten bedeutet, oder Verantwortung… Das sind kleine Dinge, die du bei der Arbeit lernst und die dein Leben sehr prägen.

Es ist trotzdem gut gewesen, dass die Abgeordneten mit uns direkt geredet haben. Es war das erste Mal. Wenn wir so weiter machen, könnten wir Einigung erzielen und große Dinge erreichen. Wir könnten gemeinsam die Arbeitsbedingungen von Kindern verbessern und die Ausbeutung bekämpfen. Aber ohne ungerecht sein zu wollen, sieht es doch eher so aus, als wären die Abgeordneten für eine politische Kampagne hierher gekommen. Es schmerzt mich schon, dass sie weiter an ihrer Sichtweise festhalten, dass die Arbeit von Kindern abgeschafft werden muss. Ich denke, Bolivien kommt auch deshalb nicht voran, weil Menschen die wirtschaftliche Macht haben, nicht respektieren, dass Bolivien ein souveräner Staat ist. Und so droht uns, dass Bolivien gezwungen werden könnte, das Kinder- und Jugendgesetz nicht anzuwenden.

In ihrer Erklärung fordern die Abgeordneten doch gerade, dass die Schutzbestimmungen des Gesetzes vollumfänglich angewendet werden.

Ohne internationale Zusammenarbeit sind wir nicht viel damit vorangekommen. Denn die ILO vertritt auch eine Position der Ausrottung der Kinderarbeit. Sie wollen nicht mit uns zusammenarbeiten. Wir versuchen es, aber von ihnen kommt nichts zurück. Wie es aussieht, bestimmt derjenige, der das Geld gibt.

Es hieß, dass Eure Begleiter aus den NRO bei dem Treffen mit den Parlamentariern den Saal verlassen mussten.

Als ich mich einmal umdrehte, waren sie plötzlich nicht mehr da. Die Begleiter unterstützen uns sehr mit Fortbildungen. Sie haben uns geholfen, uns besser ausdrücken zu können. Die Abgeordneten sagten, dass die Begleiter keine Aufnahmen machen und auch nicht anwesend sein dürften. Sie denken wohl immer noch, dass wir von ihnen manipuliert werden. Dass sie uns sagen, was wir sagen sollen. Und dass wir nicht aus eigenen Stücken kämpfen. Aber wir kämpfen nicht wegen ihnen, sondern weil es nötig ist.

Wenn Du von jemanden wie Liseth Salazar von AVE (Audivisuales Educativos) unterstützt wirst, die ja auch früher ein arbeitendes Kind war, gibt es da nicht immer irgendeine Art von Beeinflussung?

Schau mal, Liseth hilft mir. Ich frage sie nach ihrem Rat. Denn sie ist erwachsen, und ich will wissen, was sie denkt. Denn was früher war, das ist heute vielleicht nicht mehr. Und ich erkläre ihr meine Sicht als Jugendlicher. So kommen wir ins Gespräch, auch mit den Organisationen aus den anderen Landesteilen. Und am Ende erreichen wir Einverständnis. Die Begleiter kämpfen nämlich genauso wie wir Kinder und Jugendlichen für unsere Rechte. Damit die Arbeitsbedingungen besser werden und für vieles mehr.

Ihr habt den Besuch in La Paz genutzt, um auch mit dem Erziehungs- und dem Justizministerium zu sprechen. Gibt es da bessere Nachrichten, oder war das ähnlich enttäuschend?

Wir waren im Vizeministerium, und haben gesehen, dass große Offenheit besteht.

Sie haben aber nicht viel Geld zur Verfügung, um das Gesetz zu implementieren.

Aber sie unterstützen uns. Als Signal für die Abgeordneten, die gesagt haben, dass wir nicht alle arbeitenden Kinder repräsentieren. Wir haben ihnen geantwortet, dass die UNATSBO ein nationaler Zusammenschluss ist. Auch wenn wir derzeit nicht in alle Departamentos kommen, um die dortigen Gruppen neu zu organisieren und ihnen ihre Rechte zu erklären. Dafür braucht man Zeit. Und die finanzielle Unterstützung dafür haben wir auch nicht. Es gibt Institutionen, die uns früher unterstützt haben und jetzt nur noch ganz wenig. Aber auch so versuchen wir, möglichst viele zu erreichen. Vielleicht sind wir nur einige wenige, die organisiert sind. Aber wir setzen uns für alle ein.

Das Erziehungsministerium hat uns jetzt zum Beispiel den nationalen Plan zur Verbesserung der Bildung arbeitender Kinder vorgestellt. Ich bin im zehnten Schuljahr. Da entspricht genau meinem Alter. Aber es gibt viele arbeitende Kinder, die das Schuljahr abgebrochen haben und deshalb sitzen geblieben sind. Genau für sie diskutieren wir mit dem Ministerium den Bildungsplan. Ich bin sehr froh, dass die Vorschläge, die wir auf zwei vorhergehenden Treffen mit dem Ministerium gemacht haben, inzwischen weiter ausgearbeitet sind.

Und was steht da drin?

Es wird mehr Modalitäten für den Schulbesuch geben. Sowohl im Grund- wie auch im Sekundarschulbereich. Wir werden die Abendschulen didaktisch und in Bezug auf die Infrastruktur verbessern. Es soll in Laboratorien gelernt werden. Bislang gibt es das nur in den Schulen, die am Morgen oder am Nachmittag funktionieren. Aber abends bleiben die Laboratorien verschlossen. Und die Schulen, die noch keine Laboratorien haben, sollen welche bekommen, damit der Physik- und Chemieunterricht besser wird. Denn das ist wichtig für einige Universitätsstudiengänge. Auch das, was früher das CEMA war, soll wieder eingeführt werden. Damit man verlorene Schuljahre in kürzerer Zeit aufholen kann. Aber nicht nur, um offiziell die Klasse abzuschließen, sondern wir wollen, dass die Jugendlichen wirklich den Stoff beherrschen. Und der Universitätsbesuch soll gefördert werden. Es wird mindestens fünf Stipendien für Jugendliche der UNATSBO oder andere arbeitende Kinder geben.

Eine andere Initiative ist die Installierung von Duschen in den Schulen. Ich arbeite zum Beispiel morgens und gehe gleich danach in die Schule. Da ich mich nicht besonders anstrengen brauche, schwitze ich auch nicht. Aber andere schon. Und wenn sie keine Zeit haben, um sich zwischendrin zu Hause zu waschen, dann sagen die Mitschüler, dass sie nach Schweiß stinken. Sie werden diskriminiert. Mit den Duschen wollen wir erreichen, dass diejenigen, die arbeiten, gleich behandelt werden wie diejenigen, von den die Abgeordneten sagen, dass es normale Kinder seien. Dank des Kinder- und Jugendgesetzes fühlen wir uns jedoch als gleiche. Denn da steht, dass niemand diskriminiert werden darf. Und das möchten wir zusammen mit dem Erziehungsministerium erreichen.

Der 1. Mai steht vor der Tür. Habt ihr eine Botschaft für die Gewerkschaften?

Sie sollen offen sein, nicht nur einer Sicht folgen, nicht nur ihr Land oder ihren Kontinent sehen. Sie sollen daran denken, wie viele Kinder auf der ganzen Welt an Hunger sterben. Und daran, wie viele Kinder arbeiten, um essen zu können. Und wie viele dafür arbeiten, dass andere Kinder zu essen haben. Denn auch wir arbeiten, damit andere nicht die selbe Situation erleben wie wir. Und damit die Lebensbedingungen besser werden.

Fotos:1. Juan David bei der Arbeit;  2. Juan David liest die Erklärung der Europa-Abgeordneten; 3. Begrenzte Mittel: Das Justizministerium. Im ersten Stock wird die Politik für Kinder, Jugendliche, Alte und Frauen eines ganzen Landes gemacht; 4. Nach dem Interview zurück bei der Arbeit

 

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/latinorama/kinder-in-bolivien-von-wichtiger-arbeit-und-notwendigen-kaempfen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert