vonNiklas Franzen 19.12.2015

Latin@rama

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Seit fast fünf Jahren sitzt der FARC-Kämpfer René Nariño in Haft. Der ehemalige Politik-Student und selbsternannte „Kriegsgefangene Kolumbiens“ organisierte in den letzten Jahr zahlreiche Gefängnisstreiks in ganz Kolumbien. Mitte November führte er mit Mitgefangenen einen Hungerstreik durch, der 18 Tage anhielt. Für lange Zeit war es extrem schwierig politische Gefangene in Kolumbien zu kontaktieren. Mittlerweile haben neue Technologien die Mauern der kolumbianischen Gefängnisse durchbrochen. Ein Gespräch über den Nachrichtendienst Whatsapp.

 

Von Alfredo Molano Jimeno (Übersetzung: Eric Cortés)

Hallo René, kannst du dich kurz vorstellen?

Mein Name ist Johan Andrés Niño Calderón. Ich bin politischer Gefangener. Seit fünf Jahren bin ich im Gefängnis und setze meine volle Hoffnung auf das, was gerade in Havanna passiert. (Im Hintergrund hört man seine Zellengenossen sprechen und husten.)

Zum Zeitpunkt meiner Festnahme im Jahr 2011 war ich Student der Politik- und Verwaltungswissenschaften an der ESAP. Ich bin ursprünglich aus Vélez, Antioquia (Nordosten von Kolumbien, NF) und komme aus einer einfachen Familie, die in den 80er und 90er Jahren mit der Unión Patriótica (die damals größte Linkspartei, NF) sympathisierte. Dies hat uns zum Ziel von paramilitärischen Gruppen gemacht. Im Laufe der Jahre mussten wir viele Kollegen und sogar Familienangehörige begraben. Meine Mutter war Beamtin in La Paz. Ich erinnere mich an ein Attentat, das bei uns im Haus verübt wurde. Ich war damals in der vierten Klasse, und die Polizei eröffnete in der Nacht das Feuer, während wir gefeiert haben. Der Polizeichef des Dorfes sagte dass, er nicht ruhen würde, bis der Kopf meiner Mutter im Zentrum auf dem Platz hinge. Also mussten wir fliehen.

Wohin seid ihr dann gegangen?

rene farc
René (Bildmitte) mit zwei weiteren Gefängnisinsassen

Als wir vertrieben wurden, zerstreute sich die Familie. Die Angst zwang uns, von Stadt zu Stadt zu ziehen. Für meine zwei Brüder und mich war der ständige Schulwechsel sehr hart. Doch meine Eltern bestanden darauf, dass wir studieren, egal was es kostet. 1992 sind wir nach Bogotá umgezogen, kurz nachdem mein Onkel Wilfredo Niño ermordet wurde. Sie haben ihn entführt, für zehn Tage gefangen gehalten, gefoltert und anschließend zwischen Barbosa und Puente Nacional ermordet.

Ab diesem Zeitpunkt verschlimmerte sich unsere Situation und wir gingen nach Bogotá. Eine so große Stadt – sie war neu und beängstigend. Am Anfang lebten wir auf den Berghängen. Wir wollten ein neues Leben beginnen: meine Eltern, um Arbeit zu suchen und wir, um zu studieren. Es war eine Zeit mit großen Schwierigkeiten. Die Anstrengung, um den Schulabschluss zu bekommen, war unmenschlich. Als ich fertig wurde, musste ich arbeiten gehen.

Als was hast du gearbeitet?

Ich habe eigentlich alles gemacht. Ich war Straßenverkäufer und ging von Tür zu Tür. Ich handelte sogar an Ampeln. Mit 18 bekam ich einen Job in einer Fabrik. Dort bekam ich mit, wie die Arbeiter ausgebeutet werden und so beschloss ich, der FARC beizutreten. Ich arbeitete in Montagebetrieben und gleichzeitig studierte ich Politikwissenschaft. Es lief alles gut, bis ich im letzten Semester gefangen genommen wurde. Mein akademischer Titel wurde annulliert.

Was hast du in der FARC gemacht?

Ich war für die politische Organisation der Bolivarischen Bewegung und der Partido Comunista Clandestino Colombiano (im Untergrund agierende kommunistische Partei, NF) zuständig.

Wie ist dein rechtlicher Status heute?

Ich bin seit fast fünf Jahren im Gefängnis. Ich wurde zur sechs Jahren Haft wegen schwerer Rebellion und elf Jahren wegen Verschwörung verurteilt.(Im Hintergrund sind Geräusche zu hören, René sagt leise: “Gerade läuft eine Operation der Wache. Ich kann jetzt nicht weiter er zählen. Wir reden später.“)

Warum gab es den Hungerstreik vor zwei Wochen?

Nach der Bildung und Mobilisierung der Movimiento Nacional Carcelario, einer landesweiten Bewegung der politischen Gefangenen, sind wir zu sämtlichen Kompromissen mit der Regierung gekommen. Diese hat sich aber nicht an die Abmachungen gehalten. Damals hat sich der Vorstand der Strafvollzugsbehörden verpflichtet, die Haftbedingungen zu verbessern, vor allem was die Gesundheitsversorgung betrifft. Aber am Ende wurde nichts umgesetzt, und für viele Compañeros wurde die Situation sogar noch schlimmer.

Vor acht Tagen hat die Regierung angekündigt, dass 30 gefangene Kämpfer der Guerrilla begnadigt werden. Wie wurde diese Neuigkeit im Gefängnis aufgenommen?

Das ist eine wichtige Ankündigung, die uns natürlich mit Hoffnung erfüllt. Wir sehen das Ganze aber nicht als eine Geste der Großzügigkeit, sondern glauben, dass die Entscheidung unter dem Druck unserer Proteste getroffen wurde.

Du berichtest von schlechten Haftbedingungen. Was genau meinst du damit?

Die Situation der inhaftierten Guerrilleros ist bedauerlich. Wir haben eine Liste von 81 Compañeros, die aufgrund ihres prekären Gesundheitszustands aus humanitären Gründen frei gelassen werden müssten. Ich nenne einige Beispiele: Im Rahmen des Streiks im La Picota (Gefängnis südlich von Bogotá, NF), erhielt Isaac López Arias die Bestätigung für eine Überweisung für seine medizinische Behandlung. Er wurde im Kampf verwundet, hat mehrere Brüche am Oberschenkelknochen, Osteomyelitis, offene Wunden und eine Knochenverkürzung. Er hatte einen Termin aber der INPEC (Nationale Behörde der Vollzugsanstalten, NF) wollte ihn nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zum Arzt fahren, und so verpasste er den Termin.

Ein anderer Compañero hatte auch einen medizinischen Termin, der erst durch juristische Prozesse erstritten wurde. Er hat einen Rückgang der Sehkraft von 90 Prozent und verpasste den Termin, weil er nicht zur vereinbarten Uhrzeit zum Arzt gefahren wurde. Ein halbjähriger Rechtsstreit wurde somit zunichte gemacht.presos-de-guerra

Wie erlebt ihr den Friedensprozess im Gefängnis?

Mit großen Erwartungen und Hoffnungen. Aber auch mit Zweifel und Unsicherheit über die Bereitschaft der kolumbianischen Regierung. Das Treffen zwischen Präsident Juan Manuel Santos und Timochenko (Anführer der FARC, NF) am 23. September war der Beweis, dass es einen Fortschritt im Dialog gibt. Wir wissen, dass es nicht einfach sein wird, und wir verstehen, dass Amnestien und Begnadigungen ein Hindernis für die Justiz sind.

Welche Auswirkungen hatte die Ankündigung der Regierung, 30 gefangene Guerillakämpfer zu begnadigen?

Wir warten ab und wollen sehen, was die Ankündigung vom Justizministerium wirklich bedeutet. Für uns ist es das alles ein Resultat der Protestaktionen. Natürlich freuen wir uns, dass 30 Compañeros begnadigt werden. Die können eine wichtige Rolle in den Friedensprozessen spielen. Wir hoffen, dass sich einige der 81 Gefangenen, die sich im kritischen medizinischen Zustand befinden, unter diesen 30 begnadigten Gefangenen befinden. Wir haben dazu keine Einzelheiten und wir wissen auch nicht, wer freigelassen wird.

Aber hat die Regierung nach der Ankündigung keine weiteren Einzelheiten bekanntgegeben?

Der Justizminister sagte, dass sie auf den Erlass der Amnestie warten. Die Ankündigung beinhaltete auch die Verpflichtung Gesundheitsbrigaden zu organisieren, die sehr bald zu uns kommen sollten. Aber wir haben gewisse Bedenken: Wir haben gebeten, dass diese Brigaden von einer Organisation begleitet und überprüft werden, so dass von beiden Seiten Vertrauen aufgebaut werden kann. Für uns könnte dies zum Beispiel die sogenannte Breite Front für den Frieden, das Institut für die Friedensüberwachung der Universidad Nacional, die Bischofskonferenz oder eine medizinische Brigade aus Spezialisten der Universidad Nacional leisten.

Wir haben jedoch kein Vertrauen in das vom Staat beauftragte Institut für gesundheitliche Versorgungsleistungen CAPRECOM und wir zweifeln auch an dem, was die Organisation Medicina Legal leisten könnte. Wir hoffen, dass es bald Klarheit über die Ankündigung der Begnadigung geben wird und dass diese dazu dient, die Haftbedingungen der politischen Gefangenen und der Gefängnisbevölkerung im Allgemeinen zu verbessern.

 

Nachtrag: Am frühen Sonntag den 29. November sind Mitglieder des Wachpersonals (INPEC) in die Zelle von Johan Andres Niño Calderón (René Nariño) gewaltsam eingedrungen. Zuerst wurde willkürlich mit Pfefferspray gesprüht. René wurde gegen die Wand gestellt, gefesselt und zusammengetreten. Anschließend wurde er ausgezogen und die Zelle durchsucht. Die Operation dauerte 20 Minuten und wurde nach Aussagen des Wachspersonal nach Anordnung der Justizbehörde durchgeführt.

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Das Interview wurde zuerst auf Spanisch in der linksliberalen Zeitung El Espectador veröffentlicht

Aktuelle Informationen auf Renés Twitter-Profil

Fotos: Corporación Solidaridad Jurídica & La Opinión

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https://blogs.taz.de/latinorama/nachrichten-aus-dem-krieg-gespraech-mit-einem-politischen-gefangenen-in-kolumbien/

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kommentare

  • Es gibt in Kolumbien keine politischen Gefangenen. René Nariño wurde wegen
    terroristischer Aktivitaeten vollkommen zu recht verurteilt. Es ist bedauerlich, dass solche Leute im Rahmen der sog. Friedensverhandlungen wahrscheinlich freikommen.
    Uebrigens, Vélez liegt nicht in Antioquia, sondern in der Provinz Santander.

  • Der Artikel beleuchtet die persönliche Situation
    eines FARC Mitglieds im Gefängnis.
    Er reflektiert aber nicht die sinistre Rolle
    der Guerrilla in Kolumbien. Die Kolumbianer
    wollen diese Leute nicht. Wären sie eine
    politische Partei, bekämen sie keine 5 %. Man
    verbindet sie mit Drogenmaffia, Zerstörung der
    Infrastruktur, gigantischer Umweltzerstörung
    durch Sprengung von Pipelines, Kindersoldaten,
    Vergewaltigungen und Vertreibungen – auch Massakern.
    Das sind keine Robin Hoods oder auch nur
    Nachfolger Che Guevaras, sondern bewaffnete
    Gangster, die in Kolumbien verhasst sind! Mag sein,
    dass der hier genannte Guerrillero ein politischer
    Idealist ist, dem es im Gefängnis sehr schlecht
    geht – das ändert aber nichts an dem verbrecherischen
    Charakter der Organisation, der er angehört hat.
    Politischer Gefangener?!? Wohl eher nicht. Übrigens: Ich habe
    lange Jahre in Kolumbien gelebt und kenne das Land
    aus erster Hand – im Gegensatz zu vielen
    Sozialromantikern hier in Deutschland, die von de
    Verbrechen der FARC keine Ahnung haben.

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