vonperspektive 09.08.2021

Perspektive

Von der Aktion und aus der Theorie

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„To me, what socialism means is to guarantee a basic level of dignity”. Dieses Zitat stammt von Alexandria Ocasio Cortez, amerikanische Abgeordnete der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus. Seine Bedeutung geht über das rein Semantische hinaus. Es zeigt, dass selbst in dem kapitalistischen Vorzeigestaat schlechthin, den USA, eine Entwicklung stattfindet.
Führende Politiker*innen scheinen dem großen Tabu sich als Sozialistin oder Sozialist zu identifizieren erfolgreich entgegenzutreten. Sie eröffnen eine Debatte über die Legitimität eines Systems, von dem als Kern dieses Landes niemals jemand sich hätte denken können, dass zu einem Zeitpunkt seine Existenz in der Zukunft infrage gestellt wird. Die Auseinandersetzungen sind jedoch noch alles andere als fair, weder in den USA noch in Europa.

Vor allem von den politischen Repräsentant*innen der Kapitaleigentümer gibt es krassen Gegenwind auf jede erdenkliche Art und Weise mit Ausnahme von inhaltlichen Gegenargumenten. So wird gern mit polemischer Manier auf die Vergangenheit sozialistischer Politik hingewiesen. Die grausamen und inhumanen Ereignisse in kommunistischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts dienen als Flucht aus einem sich am Horizont abzeichnenden politischen Diskurs – ein Whataboutism (ironischerweise ein beliebtes Mittel von sowjetischer Propaganda), der greift, bevor die Sozialistin überhaupt ihre Argumente nennen kann. Und so verurteilenswert allein mit Blick auf das Verletzen demokratischer Prinzipien dieses politische Verhalten ist, ein Funken Wahrheit besteht.

Die Sowjetunion und mit ihr der Kommunismus haben den Krieg der Systeme verloren. Kuba und Venezuela sind wenige der verbleibenden kommunistischen Bastionen mit Anzeichen sozialistischer Politik. Aber die Berichterstattungen zeigen: Es scheint nicht mehr lange zu dauern bis die Ölvorkommen Venezuelas, deren Verkauf den Bürger*innen zugutekommen soll, in die Hände amerikanischer Konzerne fallen, und die Strände Kubas dem globalisierten Tourismus eine neue Freiheit ermöglichen. Der Glaube an den Sozialismus in Politik und Wirtschaft schwindet und die Vision einer Gesellschaft, in der Menschen und ihre Arbeitskraft nicht selbst zur Ware werden müssen, verkommt zum feuchten Traum. Es braucht einen radikalen Paradigmenwechsel in sozialistischen Theorien, um eine neue Vision zu erschaffen. Dazu gehört, die Fehler der Vergangenheit nicht auszublenden und als unerwünscht zufällige Geschehnisse abzustempeln.

Ein solcher Fehler war der Versuch, Sozialismus als ein Strukturgerüst zu sehen, dessen Fäden in einem einzigen Knotenpunkt zusammenlaufen, sodass jeder Bereich aus einer zentralen Position heraus organisiert und reguliert wird. Funktional differenzierte und strukturell diverse Gesellschaften, so wie wir sie heute haben, bedürfen jedoch auch unterschiedliche und spezifische Eingriffe zur Steuerung. Deshalb ist ein Sozialismus immer mehrere Sozialismen, die zwar alle in einer ethischen Vorstellung ihren Ursprung haben, aber sich prinzipiell und ihres Telos nach differenzieren. Sozialismus muss also immer plural sein. Reine Ökosozialist*innen werden z.B. konsumkritische Maßnahmen vorschlagen, um die bevorstehende Klimakatastrophe zu verhindern, während Sozialist*innen, deren Schwerpunkt im Wirtschaftssystem liegt, zu Recht darauf hinweisen, dass die Möglichkeit zum klimafreundlichen Verhalten eine Frage des Einkommens ist. Diese unterschiedlichen Positionen zu vereinbaren, indem bspw. die grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus kritisiert werden, ist die Aufgabe der sozialistischen Politik heute.

Auch ein weiterer Faktor, das Digitale, ist ein Grund, Sozialismus neu denken zu müssen. Meiner Meinung nach brauchte es, auch schon im 20. Jahrhundert, zweierlei: sozialistisches Denken, was sich in der Selbstbezeichnung als Sozialistin oder Kommunist ausdrückt, und das sozialistische Handeln in der materiellen Welt. Das digitale Zeitalter hat jedoch eine weitere existenzielle Form hervorgebracht: Der Dualismus von Materie und Geist wird aufgehoben und durch eine Art Trinität ersetzt. Hinzu kommt das Digitale, eine künstliche Umgebung, welche weder materiell fassbar ist, noch bloß in unserem Kopf existiert. Ich werde nun in Kurzfassung erläutern, welche Rolle der Sozialismus hier spielen könnte.

Die fortschreitende digitale Transformation erbaut eine Umwelt, in welcher ich mich als Mensch und Individuum aufhalten kann. Sie enthält neue Regeln, neue Interaktionsformen und neue Möglichkeiten zu leben – oder eben auch zu arbeiten. Wir sehen, dass mit den Big Five – die nach Marktkapitalisierung fünf größten Unternehmen der Welt: Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet und Facebook – ausschließlich fast rein digital operierende Unternehmen die Liste der wertvollsten Unternehmen anführen, obwohl das digitale Zeitalter vor 20 bis 25 Jahren begann. Dies liegt hauptsächlich an ihrer Monopolstellung. Alphabet bspw. mit seiner Suchmaschine Google, dessen Anteil im Desktop-Suchmaschinen-Markt bei 72 Prozent liegt, besitzt eine unglaubliche Verfügungsgewalt über Wissen. Der Grund dafür ist zum einen das sich über Ländergrenzen und global ausbreitende Internet als Verknüpfung der singulären digitalen Orte und zum weiteren die fehlende Regulierung, was aus dem ersten Punkt folgen und an der Schnelligkeit der eintreffenden digitalen Transformation liegen könnte.

Wir sehen, dass die Menschen und – aus eurozentrischer Perspektive betrachtet – ihre Souveränität sich demokratisch über den Staat entfaltend wenig Einfluss auf die Prinzipien und Strukturen im vernetzten Digitalen besitzen. Anfangs war die Hoffnung groß, es könnte zu einem Raum werden, welcher eine eigene Entwicklung erfährt, eigene Strukturen erschafft und der Menschheit hilft sich aus Herrschaftsverhältnissen zu befreien. Heute sehen wir, dass gerade das Internet zu einer Infrastruktur wurde, welche vom globalisierten Kapitalismus dominiert wird. Das Digitale wird regiert vom Kapital. Eine Vision eines digitalen Sozialismus müsste genau hier ansetzen:

1.     Zum ersten müsste den Menschen, die hier Arbeit verrichten, gezeigt werden, dass sie sich der rohen Gewalt des Kapitals nicht unterwerfen müssen. Da jeder Mensch, der im Internet unterwegs ist und Strukturen von privaten Unternehmen wie die bereits erwähnte Google-Suchmaschine oder auch Youtube benutzt, arbeitet, ist diese Vision an alle gerichtet. Denn bis jetzt ist dieses Arbeitsverhältnis noch nicht gesetzlich geregelt und noch weit davon entfernt überhaupt als solches identifiziert zu werden. Es lässt sich auch nicht so leicht erkennen, da es dadurch ausgezeichnet ist, dass beim Benutzen dieser privaten Strukturen, was meiner Meinung nach einer Entlohnung gleichkommt, Daten produziert und im Nachhinein bspw. in Form von personalisierter Werbung wiederum gegen die Produzierenden verwendet werden, damit sie unnötig und umweltschädlich konsumieren.

Der Ruf der doppelten Freiheit trifft hier wieder: Erstens sind die bekannten Strukturen z.B. Facebook mit WhatsApp, die gemeinsam die personelle Kommunikation regeln, in privater Hand, gleichzeitig ist man ja offensichtlich frei darin, diese und das Internet zu benutzen oder nicht, was oft als Argument gegen Regulierung hervorgebracht wird. Die Monopolstellungen der Big Five und schlicht die Notwendigkeit, welche in der Zeit liegt, in der wir leben, bspw. Google nutzen zu müssen, um an Informationen zu gelangen, macht deutlich wie leer diese Freiheit eigentlich ist. Ein Sozialismus muss darauf deuten, dass, so wie es ist, es nicht bleiben muss, sondern die Weltbevölkerung im Internet selbst die Verfügungsgewalt über die digitalen Strukturen erlangen und diese Form der Ausbeutung beenden kann.

Auch Menschen, die einer monetär entlohnten Arbeit nachgehen, was ja immer noch der größte Anteil ist, und die privaten Strukturen nutzen müssen, um Umsatz generieren zu können, hätten einen Vorteil davon, wenn aus einem Plattformkapitalismus a la Amazon eine öffentliche Institution wird, welche im Sinne der und für die dort bis dahin unterdrückten und ausgebeuteten privaten Kleinhändler existieren würde. Die Forderung nach einer Vergesellschaftung der herrschenden Unternehmen und Entkommodifizierung der Möglichkeit des Vertriebs von Produkten und des Wissens, wodurch sie wieder zur Allmende werden, muss von den Sozialist*innen ertönen.

2.     Aus existenzieller Sicht hätte eine Vision eines digitalen Sozialismus ebenfalls Angebote zu bieten: Da wäre die Möglichkeit mithilfe von künstlicher Intelligenz, die nicht aus Profitzwecken, sondern aufgrund von Nachhaltigkeit eingesetzt wird, die Landwirtschaft zu optimieren oder individuelle und kollektive Kohlenstoffdioxidfußabdrücke zu erstellen. Künstliche Intelligenz könnte zur Regelung und Organisierung von volkswirtschaftlichen Dynamiken unter dem Parameter des möglichst großen Ausgleichs der einzelnen Akteure und des Wohlstands der Massen eingesetzt werden. In Verbindung mit 1. ließe sich unter einer sozialistischen Vision auch einer Entfremdung vom und einer Übermacht des Digitalen entgegenwirken, indem das Digitale mit dem Internet als Allgemeingut verstanden würde, das der Kontrolle aller und so auch der Kontrolle des Individuums unterstellt ist. Jeder Mensch soll die Möglichkeit erhalten das Digitale nach seinem Verständnis mitgestalten zu können. Es soll zu dem Raum für eine globale Öffentlichkeit werden, so wie es von Anfang an vorherbestimmt war. Das führt uns nun zum dritten und wichtigsten Punkt.

3.     Der digitale Sozialismus als Wegbereiter einer digital organisierten und verbesserten Demokratie: Wir sahen bereits in den letzten Wahlen (wo auch immer), dass ein großer Teil des Wahlkampfs online auf Webseiten von sozialen Medien wie Twitter oder Facebook standfand. Die privatwirtschaftlich geführten Kommunikationsunternehmen sammeln die produzierten Daten ihrer „User“, um dann an Parteien die Möglichkeit des Schaltens personalisierter Werbung zu verkaufen, sodass gezielt bei denjenigen diese geschaltet wird, die vorher bereits Interesse an der entsprechenden Politik zeigten. Eine unglaubliche Wettbewerbsverzerrung, bei der die Parteien mit dem meisten Geld, das sie vorher durch zweckgebundene Spenden akquirieren konnten, am meisten personalisierte Werbung schalten können.

Der Wunsch nach Profitgewinn eines einzelnen Unternehmens kann somit einen Einfluss auf eine demokratische Wahl haben. Der von Jürgen Habermas geforderte herrschaftsfreie Diskurs fällt komplett weg und die Kolonialisierung der Politik ist vollendet. Zusätzlich muss bedacht werden, dass Twitter und Co private Öffentlichkeiten anbieten und einzelnen Individuen verbieten können, an dieser teilzunehmen. Das prominenteste Beispiel ist die Sperrung des Twitteraccounts von Donald Trump. Eine möglicherweise für manche befriedigende Aktion. Doch wo hört dies auf, bei der Sperrung und Unterdrückung derer, die gegen die Monopolstellung dieser Unternehmen öffentlich argumentieren wollen, aber keine andere Möglichkeit sehen, als dies auf diesen Plattformen selbst zu tun? Die Vision des digitalen Sozialismus muss die bereits erwähnte Vergesellschaftung dieser Unternehmen fordern, da sie aufgrund ihrer Größe und Macht eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Das Internet muss als öffentliche Infrastruktur betrachtet werden, das eine Schlüsselrolle für das Funktionieren einer zeitgerechten, lebendigen und prozesshaften Demokratie inne hat. Das demokratische Prinzip ließe sich sogar durch digitale Anwendungen über das Politische hinaus vollziehen, bspw. in der Wirtschaft. Über ein Intranet wäre es einfach unternehmensinterne Wahlen, welche durch eine gesetzlich verordnete Unternehmensverfassung geregelt wären, abzuhalten, Umfragen zu starten und Diskursräume zu erschaffen.

Es gibt unterschiedliche Ansatzpunkte, Vorgehensweisen und Ziele eines digitalen Sozialismus, was zeigt, dass wir die Idee des digitalen Sozialismus selbst plural und von unterschiedlichen Perspektiven betrachten müssen. Ich möchte hier allerdings auf eine Gefahr hinweisen: Sozialismus als Lösung aller Probleme. Es sollte darum gehen unter einem ethischen Horizont Probleme wie Klimawandel, globale Ungleichheit, Armut und vieles weitere durch den Kapitalismus Verursachte pragmatisch anzugehen. Ansonsten könnte Sozialismus zu einem leeren Heilsbringer werden, der eine göttliche Ersatzrolle spielt. Schon Nietzsche kritisierte dies und nach dem bereits in der Einleitung erwähnten Staatssozialismus, welchen wir ja überwinden wollten, ist eine gewisse Vorsicht durchaus legitim. Das wesentliche Instrument der heutigen Linken darf nicht die Utopie einer kommunistischen Zukunft sein, in der Kategorien wie gerecht und ungerecht wegfallen, weil es nicht nötig sein wird Gerechtigkeit wiederherzustellen, da es nie zu Ungerechtigkeit kam.

Eine zeitgemäße sozialistische Vision unter Einbezug der digitalen, muss auf realistischen Boden fundiert sein und eine neue Leidenschaft für Demokratie und politischen Mut erwecken. Sie muss die ewige Ideologie der Alternativlosigkeit durchbrechen, indem sie progressive Veränderungen vorschlägt und Aufklärung fordert. Bildung muss das zentrale Anliegen der heutigen Linken sein, damit nicht nur solutionistisch die bereits im öffentlichen Diskurs behandelten Probleme wie Klimawandel durch einen ritterhaften Grünen Kapitalismus besiegt werden, sondern gegensätzlich eines typisch liberalen Denkens die Kausalzusammenhänge offengelegt werden, sodass die Verknüpfung von Expansion, kapitalistischer Landnahme, Ausbeutung der Natur, Mehrwertzwang, Produktüberschuss, Konsumideologie und Klimawandel hergestellt werden.

Letzterer ist die größte existenzielle Gefahr für die Menschen der Moderne und nur durch Bildung und Aufklärung wird Nachhaltigkeit zum bedeutendsten Antriebsfaktor einer neuen sozialistischen Vision. Der digitale Sozialismus als Teilsozialismus ist hier aufgrund seiner Aufgabe der Durchsetzung der Souveränität des globalen Volkes im Digitalen eine Notwendigkeit, damit eine Nachhaltigkeitsrevolution unter Einbezug der demokratischen Öffentlichkeit von statten gehen kann. Die kommunistische Utopie des 20. Jahrhunderts versprach das bestmögliche Leben, die sozialistische Vision des 21. Jahrhunderts verspricht das Überleben.

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