vonLeisz Shernhart 13.04.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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In der unruhigen Nacht des Abends, an dem Jushis Vermächtnis in Form seines Laptops zu mir findet, habe ich einen sonderbaren Traum:

 

Es ist Frühling, die Vögel zwitschern. In einiger Entfernung schaukeln zwei Kinder. Mütter schieben Kinderwägen, Pärchen flanieren beim Schaufensterbummel. Ich gehe die Stuttgarter Königsstraße entlang. Ein stadtbekannter Straßenmusiker, den ich nicht kenne, spielt großspurig auf. Ich kenne das Lied, doch ich kenne es nicht. An einem Faden zieht es mich nach vorne. Meine Beine bewegen sich nicht, doch ich bewege mich. Die Sonne scheint, nicht zu warm, nicht zu kalt. Das Kopfsteinpflaster flimmert. Mit einem Mal scheint es mir, als starre man mich an. Versuche ich, den Blickkontakt zu erwidern, wendet man sich ab. Sie lachen über mich? Ich schaue an mir herunter, meine Beine sind nach wie vor starr, untenrum bin ich blank, oben trage ich ein gelblauflaniertes Hemd. Der Faden, der mich zieht, scheint sich zu spannen. Schleudernd beschleunige ich voran, habe meine Bewegungen nicht mehr unter Kontrolle. Es schleudert mich nach vorne, aber auch nach oben. Ich schreie, denke kurz daran, dass es ein Traum sein muss. Der Versuch zu erwachen scheitert. Jemand sitzt auf meiner Brust! Für den Bruchteil einer Sekunde gelingt es mir, die Augen zu öffnen, ein Ertrinkender, noch einmal Atem fassend, bevor er ins Unendliche versinkt. Jemand sitzt auf meiner Brust!  Es ist dunkel auf der Straße. Ich bewege mich auf Schlittschuhen. Noch immer schaukeln die Kinder. Sie schaukeln und sie lachen über mich. Ich bin mir jetzt sicher. Der Leibhaftige lacht mich aus. Ins Fratzenhafte verzerren sich ihre Gesichter. Plötzlich bin ich alleine. Niemand lacht mehr? Auf Schlittschuhen zieht es mich über das Kopfsteinpflaster, doch der Schwung versiegt. Ich komme nicht mehr voran. Bleischwer sind meine Schenkel. Kaimauern eines Tiefwasserhafens. An jedem Fuß ein tonnenschwerer Anker. Es sind die Schlittschuhe. Tonnenschwer sind sie.  Zunehmend misslingt mir der Atem. Finstere Nacht. Panik. Durch meine Glieder schleicht sie, steigt langsam, aber sicher in mir auf. In den Zehenspitzen beginnt es, über die Fersen in die Schenkel. Die Hüfte vibriert. Meine Waden sind Bienenstöcke. Der Oberkörper scheinbar gelähmt.  Nun auch im Unterleib: Bewegungsdrang bei völliger Lähmung. Ich atme schwer, versuche zu schreien, doch meine Stimme versagt. Schreie ich? Die Panik steigt bis in die Magengegend. Die Angst konkretisiert sich: Ich werde verfolgt! Ich schaue mich um. Außer mir ist niemand da. Doch! Aus einiger Entfernung nähert sich in einer gleichförmigen Bewegung eine Gestalt. Eine kalte kalkulierte Bewegung. Anonym, skrupellos, präzise, professionell. Einen Wimpernschlag später sehe ich die Umrisse bereits viel deutlicher. Eine gesichtslose Gestalt. Sie trägt einen Schneetarnanzug. Mit aller Kraft kämpfe ich gegen die Lähmung meiner Gliedmaßen. Ein nie dagewesener Kraftakt. Ich komme voran, jedoch ungleich langsamer als die Gestalt. Immer näher kommt sie. Ich sterbe vor Angst, kämpfe gegen die Lähmung. Die kalkulierte Bewegung strebt unermüdlich auf mich zu. Gnade kennt sie keine. Genau in dem Moment, als die Bewegung mich erreicht, stürze ich in einen Schacht. Unten ist es vollkommen dunkel. Ich spüre die Anwesenheit des gesichtslosen Soldaten, wage es kaum zu atmen. Ich existiere nicht mehr. Der Soldat hat meine Existenz versehrt. Mein Atem steht still. Hinter meiner Schädeldecke hämmert die Panik. Gleich platzt meine Schläfe. Im allerletzten Moment hole ich tief Atem.  Ich muss es tun, sonst zerplatze ich wimmernd. Der Soldat hat es gehört? Er hat es gehört. Er nähert sich, ich weiß es. Ich kann es spüren. Seinen fauligen Atem kann ich bereits riechen. Ich pulsiere. Er steht direkt vor mir. Wut steigt in mir auf. Zorn in seiner reinsten Form. Ungestreckte übermenschliche Energie. Rohe archaische Urwut, Überlebenswut, das verwundete Tier mit dem Rücken zur Wand. Meine Fäuste ballen sich zu Sprengköpfen. Der Soldat bemerkt es. Er muss es bemerken. Ich spüre es. Dort ist er!  V E R N I C H T E  IHN! Brüllend stürme ich los, treibe ihn vor mir her, im nächsten Augenblick wieder auf Schlittschuhen, unter uns das flimmernde Kopfsteinpflaster. Der Faden spannt sich, schleudert mich bis auf eine Armlänge an ihn heran, ich verpasse ihn knapp, beide stürzen. Nun sehe ich sein Gesicht. Ganz jung ist er, in seinen weit aufgerissenen Augen panische Angst, Angst ums nackte Überleben. V E R N I C H T E  IHN! Mit aller Kraft reiße ich mitten in der Königsstraße ein Metallrohr aus dem Boden. Schreiend schlage ich damit auf sein Gesicht ein. Ich zertrümmere ihm den Schädel, doch ich treffe ihn nicht. Nun ist er wieder recht weit entfernt und bewegt sich rasch von mir weg. Ich werde ihn nie wiedersehen. Es ist Tag. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern. Um mich herum ist alles wiederbelebt, die Kinder schaukeln. Der Straßenmusiker spielt „Peter und der Wolf“. Der gesichtslose Soldat ist weg. Ich frage mich, ob er je da war. Beschämt schaue ich mich um und lasse möglichst unauffällig das Metallrohr fallen. Niemand hat es bemerkt. Niemand lacht über mich. Schweißgebadet wache ich auf. Mein erster Gedanke gilt Jushi.

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