vonLeisz Shernhart 11.12.2021

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Der Künstler und die Welt, der Kellner und der Meterstab

 

Neulich fragt die Welt den Künstler, warum er nur immer so ein erbarmungswürdiges Bild abgebe, worauf dieser Folgendes zur Antwort gibt:

Bei dieser Frage fühle ich mich an eine Anekdote aus meiner Studienzeit erinnert. Während einer Vortragsreise in Paris sitze ich in einem Straßencafé im Viertel St. Michel, unweit des berühmten Théâtre de la Huchette, wo ich gerade Zeuge der 918. Vorführung der Cantatrice Chauve gewesen bin. Ich bestelle mir ein Getränk in einer Flasche. Während ich warte, sehe ich den zänkischen Kellner, der den anderen Gästen ihre Kaltgetränke mit einem Meterstab entkronkorkt. So tut er es nach geraumer Zeit auch schließlich unmutig mit meiner Flasche. Zögernd wage ich es, ihn zu fragen, warum er sich hierfür denn eines Meterstabes bediene. Sichtlich verärgert gibt er mir zu verstehen, dass sein Patron bei der letzten Dienstbesprechung gegreint hätte, dass Flaschenöffner zu teuer seien. Man könne sich sehr gut auch anderweitig behelfen, wenn man es denn könne. Falls nicht, so erwarte er, dass man sich das Nötige gegebenenfalls gefälligst selbst aneigne. Wie genau, das lasse ihn kalt, Hauptsache, der Kunde sei zufrieden. Überdies bemerkt der zänkische Kellner zickig, ich solle nicht so dumm fragen. Schließlich seien ich und meinesgleichen es doch, welche die Farce bei einem Kaltgetränk zur Abspannung nach einem überhetzten Tag zu genießen suchten. Sonst wären Sie doch nicht da. Das Publikum liebe nun einmal Meterstäbe und mit einem Flaschenöffner eine Flasche zu öffnen, sei letztlich keine Kunst (!), denn das könne ja wohl jeder…usw. Nachdem ich ihm ein Trinkgeld gebe, lässt er von mir ab, wünscht mir mit Blicken einen möglichst qualvollen Tod und verschwindet zum nächsten Kunden.

Der Künstler bedient sein Publikum. Daher gibt er in der Welt ein so erbarmungswürdiges Bild ab.

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