vonLeisz Shernhart 19.02.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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In der Fußgängerzone einer wohlhabenden mit speckig abgetretenen Kopfsteinen gepflasterten Provinzaltstadt, mittig zwischen Stadtbibliothek und dem unteren Tor der vormaligen Stadtmauer, unweit der Apotheke neben dem kleinen alteingesessenen Tabakgeschäft, steht der zornige Zungengaukler und wirft zeternd sein Jagdnetz aus. Einige Passanten gehen unbeeindruckt vorüber, andere wenden sich mit Abscheu ab, manche verfangen sich im Netz seiner Lügen, bleiben stehen und betrachten ihn, noch bevor sie ihm aufmerksam zu lauschen beginnen. Dabei ist es weniger der Inhalt seiner scheinbar zusammenhanglosen Wortfetzen, als vielmehr die Art ihrer Darbietung, welche das Publikum bannt. Allein der bloße Anblick dieser kreatürlichen Gestalt fesselt den Beobachter zwangsläufig und erfüllt ihn mit zweifelhafter Faszination für die fantastische Erscheinung der krakeelenden Karikatur ihrer selbst. Ein achtbeiniges Schuppenkriechtier ist es, was da schreit. Bei jedem neuen exaltierten Redeschwall zittert der auffällig gedrungene Kopf auf einem hohen buckeligen Rücken. Der Schädel scheint dabei charakteristisch kompakt und ist mit einer bunt gefiederten lärmenden Narrenkappe bedeckt. Wahnhaft verdrehen sich bei jedem neuen Auswurf die unabhängig voneinander bewegbaren hochspezialisierten Stielaugen, die mit chirurgischer Präzision unablässig heranschreitende potentielle Fliegenopfer fixieren. In einer rachsüchtigen Rage wilden Gestikulierens verselbstständigen sich die kleinen unförmigen Greifhände, um dem Gesagten gehörigen Nachdruck zu verleihen, so als dirigiere der Zungenschwurbler ein Lügenorchester, das er vollständig unter seiner Kontrolle hat. Die hehre schöngelockte Göttin Kalypso bindet das Publikum an sich wie einst den listenreichen Odysseus auf Ogygia. Die aufgeblähte Körperform des Fabelwesens balzt unbedingt um Effekt, wobei sie, je nach Hintergrund der vorüberschreitenden Masse, gefällig die Farbe zu wechseln versteht. Während die Menschentraube, die das Dekor der Szene bemüht, sukzessive anschwillt, stößt das bizarre Figürchen, das einer einem spanischen Gemälde entstiegenen Chimäre aus Chamäleon und Jagdspinne gleicht, in feurigen Wellen krampfhafter Heftigkeit abwechselnd Verwünschungen sowie verzweifelte Stoßgebete gen Himmel. Wild geifernd wirft die fauchende Furie mit superlativem Halbwissen um sich, wobei ihre gespaltene überdimensionierte Zunge wütend mit der Peitsche knallt. Immer mehr Fliegen verfangen sich währenddessen im Netz der speichelnden Spinne. Ihr Sirenengesang betört durch einfache Antworten auf hochkomplexe Fragen jeden der Seemänner, die es nicht verstanden, sich rechtzeitig am Mast festzuzurren und sich die Ohren mit Wachs zu verschließen, um vor dem Zauber der Zunge gefeit zu sein. Umgarnt von der anziehend abstoßenden Redekunst des Zungenzauberers setzen immer mehr verlorene Seelen Kurs auf den Felsen der kreischenden Chimäre, um schließlich daran zu zerschellen. Die tosende Gischt giert nach den leblosen Körpern, um sie bleiern hinabzuzwingen in die Untiefen eines palastartigen doppelzüngigen Lügengebäudes. Mit jeder gefangenen Fliege wächst die Überzeugungskraft des Gauklers und am Ende des ersten Tages ist er bereits dickgefüttert und träge. Doch kaum erstarkt der neue Tag, so ist sein Hunger um so stärker. Und so setzt er gierig sein unermüdliches Treiben fort, so lange, bis die Zahl seiner Anhänger die kritische Masse erreicht hat, um eine irreversible Kettenreaktion in Gang zu setzen, an deren Ende wieder finstere Nacht herrsche im Reich des Abends. Hütet euch vor dem Zungengaukler! Wenn ihr ihn seht, so bleibt keinesfalls stehen, sondern bewerft ihn mit Steinen, auf dass er das Weite suche und auf ewig verschwinde aus unserer Stadt!

 

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