vonLeisz Shernhart 23.03.2021

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Folgende Geschichte habe ich gehört letztes Mal (real talk):

 

Ich sitze da beim Scheißen, erschrecke mich zu Tode. Neben mir schreit einer, als gebe man es ihm in den Steisz. Ich kacke fertig, stelle das Arschloch zur Rede. Es erklärt sich:

Eben habe ES sich auf dem Wege zu einer Technotheater-Performance der freien Szene befunden, wo ES, wie angedacht, beabsichtige, einige seiner jüngeren Werke vor Publikum zu präsentieren. Urplötzlich hebe ES jedoch den dringlichen Anflug einer dieser nervös bedingten Zustände verspürt, die ES bisweilen so sehr heimzusuchen pflegten. Umgehend habe ES sich daraufhin in das nächste sich auf seinem Weg befindliche Etablissement begeben, wo ES schließlich schnellstmöglich eben diese Toilette aufgesucht habe. An diesem ihm privaten Ort habe ES sich unbegleitet gewähnt, ungestört, um eine im Schauspielstudium erlernte Atemübung zum Zwecke der Lockerung der Artikulationsorgane durchzuführen. Klingt, als gebe man ES ihm in den Steisz. Schließlich ginge ES beim Schauspiel nicht zuletzt um Präzision und stimmliche wie körperliche Präsenz. Die Performance überdies sei ungeheuer wichtig für seine Vita. Man verhandele thematisch den Lockdown und wolle dabei formal neue Wege beschreiten. Relevanz sei da. Dessen ungeachtet könne man ihm wohl keine Gage bezahlen, ES biete jedoch eine gewisse Chance, um Content zu generieren. Das Schauspiel Stuttgart schaue zu! 

Ich breche dem Bastard die Nase. Rechte Gerade, ansatzlos geschlagen. Es liegt Fleisch auf der Kante. Er reißt die Augen auf, scheint nicht zu begreifen. Unter uns die rote Sauce. Ich lasse ab, empfinde Mitleid. Gerne würde ich formal mit ihm neue Wege beschreiten, doch er will wohl lieber gehen. Ich respektiere das. Dafür habe ich Respekt. Zurück am Tresen bestelle ich noch eins. Es schmeckt mir ausgezeichnet. Ein Blick zur Uhr. Es ist eins. D E R  T A G  W I R D  E I N E  E W I G K E I T…

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