vonLeisz Shernhart 05.08.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Nachdem ich im Interview mit der Anastalia- Redaktion auf Iljushan angesprochen werde, nehme ich meine Arbeit an seinen Texten wieder auf, beschämt, sie so lange vernachlässigt zu haben. Wie so oft sind es wieder einmal die unvollendeten Fragmente aus Jushis Ausschussordner, die am meisten Faszination auf mich ausüben. Eines dieser Fragmente, das den prosaischen Dateinamen „Schrobeleyt 1.1_Skizze“ trägt, entzückt mich besonders. Ich finde den Text, selbst für postfaktische Verhältnisse, verhältnismäßig enigmatisch. Besonders der letzte Satz bleibt äußerst rätselhaft. Ich lade Sie dazu ein, sich selbst ein Urteil zu bilden. Was will Jushi uns wohl sagen mit diesem Text? Sofern es sich um eine Parabel handelt, ist der Übertrag von Bild- auf Sachebene äußerst sperrig. Kafka hätte wohl seine Freude daran…Man darf jedoch nicht vergessen, dass es sich lediglich um ein Fragment handelt, das in dieser Form wohl nie veröffentlicht worden wäre. Ich halte es dennoch für zwingend notwendig, die Welt mit diesem Artefakt in Beziehung zu setzen, denn sind wir nicht alle ein bißchen Schrobeleyt?

 

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• Iljushan Berenskiev – Frau Schrobeleyt 

(aus dem Ukrainischen übersetzt und herausgegeben von Leisz Shernhart)

 

Frau Schrobeleyt

Im heliozentrischen Weltbild sind Frau Schrobeleyts Befindlichkeiten die Sonne. Was andere aussortieren, ist gerade gut genug für Frau S. Etwas wegzuwerfen, ist eine kardinale Verfehlung. Mit maximaler Härte steuert Frau S. wackeligen Tritts auf das bitterste aller denkbaren Enden zu. Wehe dem, der es wagen sollte, sich auch nur minimalst mehr wert zu sein als das. Ein solcher Jemand sei ein narzisstischer Megalomane, ein traumtänzerischer Verschwender, der sich für etwas Besseres halte. Frau Schrobeleyt muss ein solcher Narr zwangsläufig zu seiner Feindin haben, denn schließlich habe er vergessen, wo er herkomme und wo sein Platz sei in der Nahrungskette. Nur nicht nach den Sternen greifen, bloß nicht unter Palmen sterben! Bitte bitte nicht! Ein König Midas des Chaos ist Frau Schrobeleyt. Was sie berührt, entbehrt im Bruchteil einer Sekunde jedwedes Ordnungsprinzip. Der Kristallisationskeim eines fortdauernden Durcheinanders wird Fleisch in Schrobeleyts Person. Im Übrigen hat sie immer recht. Wagte man es, ihr zu widersprechen, so hätte man sie folgerichtig zu seinem Gegner. Bevormunden wolle man sie dann, als widerwärtiger Machtmensch erhebe man sich spöttisch über sie. Repliken beginnen zumeist mit „ja, aber…“. Seit einiger Zeit findet die Welt sich nicht mehr zurecht in Frau S. Traumtänzernd taumlerisch stolpert sie einem drastischen Krater entgegen. In diesem Abgrund sitzt ein Orchester und jeder Ton, den es spielt, ist eine Erinnerung aus Frau Schrobeleyts Zeit, beständig dieselbe zitternde Melodie. Frau Schrobeleiyts Behausung ist ein Panoptikum der Kuriositäten, ein Sammelsurium abgetragener, von anderen längst aussortierter Gegenstände. Hier der hinlänglich abgedauerte Kalender, dort die Packung Pralinen aus einem anderen Jahrzehnt. Nichts, was sich dort findet, hat nicht schon einmal eine andere Person besessen. Entsprechend ist Frau Schrobeleyts äußeres Erscheinungsbild. Abgetragene Kleidung, zerzauste Frisur, nervöse Zuckungen um die Augen, zitternde Hände, unsicherer gebeugter Gang. Dies gilt jedoch nur für die Welt. Innerhalb ihres Universums ist Frau Schrobeleyt unantastbar. Frau Schrobeleyt ist die Kunst.

 

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