vonLeisz Shernhart 14.03.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Meine lieber Jushi,

Ich bin nicht Victor Hugo und Du warst nicht Balzac. Doch dies ist mein Nachruf auf Dich. Ich weiß, Du würdest nun schmunzeln. Den Intertext wüsstest Du wohl zu deuten. Niemand weiß besser als ich, wie sehr Du Balzac geliebt hast. „La bourse“ war Deine Lieblingsnovelle, meine ist es auch. Die Gespräche mit Dir werden mir fehlen, fachwissenschaftlicher Diskurs auf Augenhöhe, Du hast uns immer inspiriert. Frische feuchte blutgeschwängerte Ukrainische Erde bedeckt nun Deine letzte eisige Ruhestätte. Es ist die geliebte Heimaterde, die Du und Kolja bis zum letzten Atemzug tapfer verteidigt habt. Ein schlichtes Holzkreuz, darauf Deine abgetragene alte Schiebermütze. Die Inschrift lautet Jushi. Die Schlichtheit würde Dir schmeicheln. Kolja hat uns ein Bild geschickt. Auch Natalyia findet es schön, so schön wie man das Grab des geliebtesten aller Menschen nur eben finden kann. Der Mann, der während einer kurzen Feuerpause der russischen Artillerie in dieses Grab hinabgesenkt worden ist, war einer derjenigen Künstler, denen der Schmerz der Welt das letzte Geleit gibt. In Zeiten wie den unsrigen darf jegliche Fiktion getrost in Pulverrauch verpuffen. Alle Illusionen sind verloren, hastig verscharrt in Ukrainischer Brudererde. In Tagen wie diesen richten sich die Blicke nicht auf Häupter, die dichten und denken, sondern auf die Häupter derer, die regieren und schießen. Doch gleich als gebe es in der Entwicklung der Kultur ein ungeschriebenes Gesetz, das den Herrschern durch das Schwert die Herrschaft durch den Geist folgen lässt, werden Deine Texte die Diktatur des Irrationalen überdauern. Die Trauer des Ukrainischen Volkes gilt heute dem Tod eines bescheidenen Mannes von Talent; die Trauer der Welt einem Künstler von Genie. Meine Damen und Herren, der Name Jushi geht in die leuchtende Spur ein, welche die Epoche des Postfaktischen der Zukunft hinterlassen wird.  Du warst einer der Ersten unter den Größten. Das Werk, das Du uns hinterlässt, ein Flaschengeist in der Cloud. Es ist ein hohes, ein verlässliches Werk, eine unerschütterliche Anhäufung von Granitblöcken, nicht weniger als ein Monument! Ein Werk, von dessen Größe künftig Dein Ruhm erstrahlen sollte, doch leider kennt niemand das Passwort. Dein Werk ist mit Dir vergangen. Dein Tod hat uns zur Verzweiflung betroffen gemacht. Dein Leben war kurz, aber erfüllt, reicher an Herz, denn an Tagen. Man sagt sich, es sei unmöglich, dass die, die zu Lebzeiten gerecht gewesen sind, nicht nach ihrem Tode Sterne werden. Du bist nun ein Stern. Möge er für immer leuchten. Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein. Möge dein Fleisch in Frieden ruhen, Jushi, möge Dein Geist für immer scheinen!

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https://blogs.taz.de/postfaktisch/iljushan-jushi-berenskiev-ein-nachruf/

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