vonLeisz Shernhart 01.03.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Mein Ukrainischer Bruder Jushi ist tot. Vladimir Putin hat ihn getötet. Seine Mordmaschinerie hat ihn zermahlen. Wie soll ich diese Scheiße jemals meiner Tochter erklären? Sie liebt Onkel Jushi, saß bei ihm auf den Knien, während er für sie sang. Jushi konnte gut singen. Auch Jushi hat eine Tochter. Hatte eine Tochter. Er hinterlässt ein dreijähriges Kind und eine Witwe auf der Flucht. Jushi ist als Held gestorben, sagt sie, als ich mit ihr gestern telefoniere. Nach einer chaotischen Flucht quer durch die Ukraine, per Bus, per Anhalter, zu Fuß, musste sich Nataliya an der Grenze zur Slowakei von ihrem Mann verabschieden. Für immer, wie sich herausstellen sollte. Es muss eine schreckliche Szene gewesen sein. Jushi ging mit einem Lächeln. Seine Tochter sollte sich nicht sorgen. Jushi war ein Spaßvogel. Nun ist Milena Halbwaise. Putin trägt dafür die Verantwortung. Ich weiß nicht, was ich Nataliya am Telefon sagen soll. Ich schäme mich. Mir fehlen die Worte. Als das Telefon klingelte, war ich gerade dabei, in meinem Landhaus den Kachelofen anzuheizen. Wir haben es warm. Meine Tochter ist gerade da. Kurz zuvor haben wir eine Kleinigkeit gegessen. Wir atmen, Jushi ist tot. Ich hasse mich dafür. Nataliya wirkt sehr gefasst. Auch sie ist eine Heldin. Sie erzählt mir, dass Jushi nach dem fürchterlichen Abschied von seiner Familie an der Slowakischen Grenze, zu der sie sich gemeinsam durchgeschlagen hatten, zusammen mit Kolja Ras, Bruder der anarchostalinistischen Schriftsteller*innen-Bewegung, in einen Bus gestiegen ist, der die beiden zurück ins Kampfgebiet befördern sollte. Selbst wenn Jushi dies nicht aus freien Stücken getan hätte, hätte man ihn die Grenze zur sicheren Slowakei nicht passieren lassen. Jushi ist 43 Jahre alt. Jushi war 43 Jahre alt. Seit der Generalmobilmachung ist es Männern im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren verboten, das Land zu verlassen. Die meisten bleiben ohnehin freiwillig. So auch Jushi und Kolja. Beide haben die Feder gegen das Schwert getauscht. Laut Nataliya war Jushi im Besitz einer Handfeuerwaffe, eine alte Makarov, eine Waffe, mit der sein Großvater in der roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft hat. Wie mag sich das kalte blank polierte schwarze Metall wohl angefühlt haben in seinen zarten Denkerhänden? Jushi ist Lyriker. Jushi war Lyriker. Das Leben ist kein Lyrikfragment. Das Leben ist ein Sachtext. Ob er den Abzug wohl betätigt hat? Alles, was ich weiß, weiß ich von Natalya. Sie weiß es von Kolja, der sie in einem knappen Telefonat über Jushis Tod informiert hat. Ein schreckliches Gespräch. Jushi und er hatten sich einer Partisaneneinheit angeschlossen, die sich in der Nähe von Kiew dem russischen Aggressor entgegengestellt hat. Ein Haufen Sandsäcke, Tarnnetze, ein Dutzend Pistolen und Molotowcocktails, Helme aus Deutschland, ein paar Junge, ein paar Alte, niemand mit Kampferfahrung, mehr nicht. Ein ungleicher Kampf. Jushis Stellung wurde aus der Luft beschossen. Mehr ist uns leider nicht bekannt. Kolja wurde verwundet, doch anscheinend kämpft er weiter. Ich hoffe, wir werden uns eines Tages wiedersehen, Bruder! Ich schäme mich. Ich schäme mich dafür, dass mir nichts anderes einfällt als leere Phrasen und abgedroschene Durchhalteparolen, als ich mit Nataliya telefoniere. Ich biete ihr Geld an, um sie zu unterstützen und schäme mich noch mehr. Ich sage ihr, sie solle versuchen, sich nach Deutschland durchzuschlagen, damit ich sie bei mir aufnehmen kann. Nachdem ich auflege, breche ich zusammen. Seit ich von Jushis Tod erfahren habe, esse ich nicht und schlafe nicht mehr. Mein Herz schlägt noch, doch mein Leben ist vorbei. Unser aller Leben ist Geschichte. Die fetten Jahre sind vorbei. Unser aller Leben, wie wir es seit ca. 30 Jahren kennen, ist mit Jushi gestorben. I hope, you fuckin‘ burn in hell for this shit, Mr. Putin! Son of a bitch! Go, fuck yourself, motherfucker!

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