vonLeisz Shernhart 24.02.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Vladimir Putin, Großmeister des Postfaktischen, hat Fakten geschaffen. Einmarsch in die Ukraine. Bestürzung, persönliche Betroffenheit. Im Frühjahr vergangenen Jahres, meine vorerst letzte Ukrainereise. Teilnahme am Kolloquium des Postfaktischen, veranstaltet vom anarchostalinistischen Schriftsteller*innen-Verband. Mehr als eine schöne Erinnerung.Trotz jüngerer Differenzen noch immer tiefe Verbundenheit mit der Anastalia, eine Verbundenheit, die simple Solidarität unter Schriftstellerkollegen bei Weitem übertrifft. Während des Kolloquiums lerne ich Iljushan Berenskiev kennen. Local Hero. Ein bescheidener Meister. Besonders seine Prosa beeindruckt mich sehr.

Zunächst bleiben wir lose in Kontakt, werden wenig später enge Freunde. Wir inspirieren und begeistern uns für dieselben Dinge: lesen, schreiben, segeln. In den letzten Wochen intensiviert sich unsere Korrespondenz. Proportional zur Zuspitzung der Bedrohungslage an den Grenzen der Ostukraine gewinnt unsere Kommunikation an Kraft. Thema dabei ist häufig das Postfaktische als strategische Waffe der hybriden Kriegsführung. Putin ist ein Meister darin. Heute früh, nachdem mich die erste Meldung über den Einmarsch russischer Truppen erreicht, videophoniere ich sofort mit Jushi, wie Iljushan von seinen Freunden liebevoll genannt wird. Ich bin besorgt. Jushi lebt mit seiner Familie in Dąbrowice, ca. 15 Autominuten von Mariopol entfernt. Im Hintergrund Kanonendonner, Raketeneinschläge.

Das Gespräch mit Jushi dauert exakt 4 Minuten und 47 Sekunden, dann bricht die Videoverbindung ab. Rückruf vergebens. Ich muss weinen. Ca. 45 Minuten nach unserem Gespräch erreicht mich eine letzte Nachricht von Jushi über Telegramm, meine Reaktion darauf bleibt bis zum jetzigen Zeitpunkt unbeantwortet. Mit zitternden Händen öffne ich die Nachricht. Es ist ein Lyrikfragment. Ich übersetze es ins Deutsche und beschließe, es als Gastbeitrag in diesem Blog zu veröffentlichen. Leider vermag die deutsche Sprache nicht einmal annähernd die Schönheit, die Poesie und den Schmerz von Jushis Gedicht adäquat zu würdigen. Ich werde es dennoch versuchen. Ich liebe dich, Jushi! Ich hoffe sehr, es geht dir gut!

Ostgeburt

(Von Iljushan „Jushi“ Berenskiev, aus dem Ukrainischen übersetzt von Leisz Shernhart.)

Lange wurden die Messer gewetzt.
Grenzen und Regeln schon vorher verletzt.
Erwogen, gelogen,  geschwätzt und gehetzt,
Dann die Panzer versetzt nach Luhansk und Donetzk.

Jetzt stoßen sie ein in das Becken des Don.
Bruder und Bratan erkennen sich schon
Am Zorn in den Augen und am Blut das geronn‘
Von den Wunden gerissen vom braun’ Battalion.

Schall bricht ein über Kiews Alleen,
Bringt Busse, Bahnen und Herzen zum stehen.
Flehende Hände. Kreischende Krähen
Verkünden des Krieges schreckliche Wehen.

Stoj.

Die Wege wurden mit Häuten von Bären und Federn von Adlern schon sonntags gesäumt.
In den Gräben zur Seite liegen die Häupter der Revolution kohlschwarz gebräunt.
Himmel wird Erde.
Erde bricht auf.
Kräne im Weizen.
Lauf, Junge, Lauf.


Nachtrag: Inzwischen ist es grausige Gewissheit, der Autor dieses Lyrikfragments, Iljushan Berenskiev (alias Jushi) ist tot. Er wurde bei einem Angriff der russischen Armee getötet. Siehe auch hier.

Der Blogwart, 03.03.22


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