vonLeisz Shernhart 05.04.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Inzwischen sind Natalyia und Milena weitgehend wohlbehalten in Deutschland angekommen. Zumindest körperlich scheinen sie unversehrt. Beide wirken stoisch, soldatisch, wortkarg. Verständlicherweise ist Nataliya nicht zu Gesprächen aufgelegt. Vor allem Milena hat sich stark verändert, seit ich sie das letzte Mal gesehen habe. Lebensfroh, ständig plappernd und andauernd in Bewegung, so habe ich sie in Erinnerung. Nun ist sie verstummt, wirkt apathisch und verschüchtert. Es ist als begegneten wir uns zum ersten Mal. Auch meiner Tochter gegenüber verhält sie sich sehr zurückhaltend. Die beiden sind beinahe gleich alt und haben sich trotz Sprachbarriere immer gut verstanden, nun beäugt sie meine Tochter argwöhnisch, vor allem dann, wenn sie mich Papa nennt. Sie kennt dieses Wort. Milenas Papa ist tot. Sie und ihre Mutter werden vorerst bei mir unterkommen. Es ist das Mindeste, was ich für die beiden tun kann. Nach ihrer Ankunft sind sie erschöpft, ausgezehrt, hungrig. Ich rede nur das Nötigste mit ihnen, mein Ukrainisch ist leider eher schwach. Natalyia spricht kaum Deutsch, doch auf Englisch geht es. Nachdem Mutter und Tochter mit großem Appetit einen riesigen Haufen Bandnudeln mit Rinderbraten verzehrt haben, zeige ich ihnen ihr Zimmer und lasse sie zur Ruhe kommen. Als wir uns an der Zimmertüre trennen, übergibt mir Nataliya eher beiläufig Jushis Laptop. Er hatte ihn ihr bei der Verabschiedung an der slowenischen Grenze überlassen, für alle Fälle…Etwas überrumpelt nehme ich ihn an mich. Das Gerät beinhaltet den Zugang zu Jushis Dropbox , den Eintritt zu allen seinen Texten, Fragmenten und Skizzen. Nataliya gibt mir zu verstehen, dass Jushi wohl wollte, dass ich ihn bekäme. Es fühlt sich richtig an, dennoch tut es weh. Nachdem die Türe sich hinter den beiden schließt, meine ich, ein Schluchzen zu vernehmen.

 

Eine ganze Weile liegt Jushis Laptop nun schon unberührt vor mir auf dem Wohnzimmertisch. Ich starre ihn an, meine Gedanken kreisen um Iljushan. Der Inhalt dieses Laptops ist sein Vermächtnis. Nataliya hatte mir bereits während ihrer Flucht am Telefon gesagt, dass sie den Laptop habe, aber leider nicht das Passwort kenne. An so etwas Banales hatte niemand bei dem schrecklichen Abschied an der Grenze gedacht. Verständlicherweise hatten sie andere Sorgen. Ein Sonnenstrahl scheint durch das Fenster und die Staubkörner flimmern im Licht, als ich das Gerät auf den Schoß nehme. Zögernd klappe ich den Bildschirm nach oben. Das Hintergrundbild erscheint, es ist der Majdan Nesaleschnosti in Kiew, Platz der Unabhängigkeit. Es ist wie der Blick durch eine Zeitkapsel in die Vergangenheit, eine bessere Welt. Heute ist dieser Platz übersäht mit Einschusslöchern, es gibt Barrikaden, Checkpoints mit schwer bewaffneten ehemaligen Zivilisten, Architekten, Lehrer, Apotheker, die nun nach russischen Saboteuren Ausschau halten und jederzeit auf das Schlimmste gefasst sind. Sie rauchen, fluchen, bereiten sich vor. Abends, wenn die Sirenen heulen, verkriecht sich ein großer Teil der stolzen Kiewer Bevölkerung in die Metrostationen, um vor Luftangriffen sicher zu sein und sich wenigstens einen letzten Schein von Selbstwirksamkeit vorzugaukeln. Ich klappe den Laptop wieder zu und lege mich schlafen. Der Beginn einer unruhigen Nacht…

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