vonLeisz Shernhart 19.11.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Der Wandel der zeitgenössischen Kulturlandschaft äußert sich nicht zuletzt dadurch, dass altehrwürdige Veranstaltungen wie beispielsweise die Filmfestspiele von Cannes nun Kooperationen mit seelenlosen Zellophankanälen wie dem asiatischen Massenmedium Tic Toc eingehen müssen, um im Mainstream relevant zu bleiben. Kollaborateure des Niedergangs abendländischer Kultur, könnte man meinen. Manifestation des Überlebenstriebs in einer seiner Reinformen. Könnte Cannes auch ohne Tic Toc?

Wie hat man sich die Berichterstattung eines eigens mit dem Privatjet eingeflogenen einundzwanzigjährigen koreanischen Influencers vorzustellen?  Wie sieht eine konkrete Begegnung zwischen einem pickeligen Superhelden-Blockbuster-Konsumenten und einem prototypischen Arthouse-Cineasten wohl aus? Zwei Spezies, deren Rezeptionsgewohnheiten unterschiedlicher kaum sein könnten. Kampf der Kulturen. Um den evolutionären Selektionskriterien nicht zum Opfer zu fallen, müssen beide, zumindest zum Schein, eine symbiotische Beziehung eingehen. Doch wer ist der Wirt und wer der Parasit? Wer ist in diesem Verhältnis der kulturelle Pottwal und wer das Putzerfischchen?

Oder, um es mit den Worten Gerhard Schröders auszudrücken, sofern man sich wirklich herablassen möchte, Sachverhalte mit den Worten eines gimpelnden gefallenen Möchtegern-Elder-Statesman auszudrücken, wer ist in diesem parasitären Verhältnis der Wirt und wer der Kellner? Was würde ein Tic-Toc-Influencer wohl in seine Handykamera schnattern, während er gegen üppige Gage seinen 12 Millionen minderjährigen Followern live und direkt von den 75. Filmfestspielen von Cannes berichtet, die keine geringeren Szenegrößen als beispielsweise Quentin Tarantino hervorgebracht haben? Vermutlich würde er (oder sie oder queer) so etwas sagen wie:

„Hi Leute, ratet mal, wo ich bin. Ich stehe hier auf dem roten Teppich in Cannes. Cannes ist in Europa. Europa ist irgendwo in Frankreich oder so. Es gibt hier Käse und so. Außerdem gibt es hier Filme. Kino. Sowas wie Netflix, nur für Omas. Besser gesagt, für weiße alte Opas. Davon gibt es hier viele. Das Durchschnittsalter, so, sagen wir, 500 Jahre oder so? Man kann hier ein paar Häppchen abgreifen und einen Preis gewinnen. So die goldene Kokosnuss oder so. Moment, da kommt einer über den Teppich…kennt ihr den? Schreibt mir in die Kommentare und folgt mir auf Twitch, da geh ich nachher nochmal live von der Aftershowparty. Da soll’s voll abgehen, hat mir einer von den alten Säcken gesagt, nachdem er mich begrabscht hat….“ Etenceterem, blabla…

Die grundsätzlichen Fragen lauten: Hat Cannes so etwas wirklich nötig? Kann Cannes nicht anders? Letztlich ist Tic Toc ohne Cannes nichts als eine gute Idee. Genauso wie der Veranstalter ohne den Künstler, den er nur allzu gerne um seine hart verdiente Gage prellt. Am Einlass schön die Hand aufhalten, sich mit des Künstlers Federn schmücken, den Künstler mit zwei Freibiermarken und einer labberigen Pizza Margherita abspeisen und am Ende eines durchaus gelungenen Abends schön abkassieren ohne Rechnung, am Finanzamt vorbei. So sind sie, die Veranstalter. Tic Toc zu Cannes verhält sich wie Veranstalter zu Künstler.  Ohne den Content, den Cannes generiert, hat der Tic-Toc-Influencer nichts, über das er (oder sie oder queer) schnattern könnte, um seine Follower mit pseudokulturellem Fastfood zu versorgen. Folgerichtig muss es also eigentlich heißen: Kann Tic Toc ohne Cannes?

 

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