vonLeisz Shernhart 10.02.2023

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

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Judith Zander erhält für ihr Werk den Peter-Huchel-Preis und erntet dafür einen Shitstorm aus dem vorgeblich bildungsbürgerlichen Milieu. Hauptsächlich mag dies vermutlich daran liegen, dass der Preis mit 15.000 Euro dotiert ist, eine an und für sich lächerliche Summe, für Lyrikerinnen jedoch ein kleines Vermögen. Sofort empört sich der Pöbel, wie man jemandem für so einen unnützen Schrott so einen Haufen Geld auszahlen könne. Eine Frechheit sei das! Indessen verdienen minderbemittelte Sportler Abermillionen damit, einer ledernen Kugel auf einer Rasenfläche nachzujagen, was in der postfaktischen Gesellschaft nicht allzu viele zu stören scheint. Was mögen es für Menschen sein, die Judith Zander mit einem Hagel von missgünstigen Hasskommentaren herabwürdigen? Vermutlich sind es Menschen, die sich in einer längst zurückliegenden Schulzeit stets erbitterten, wenn ein ihrer Meinung nach fauler und völlig überbezahlter Lehreridiot sie mit der Lektüre eines Gedichts belästigte. Wozu bräuchten sie das später? Später studierten sie ohnehin BWL oder Maschinenbau, arbeiteten bei Automobilkonzernen und schafften wahre Werte. Wozu brauche man da diesen Lyrik-Scheiß? Heute sitzen dieselben Leute mit prall gefüllten Börsen in schick eingerichteten italienischen Restaurants und bezahlen einen Haufen Zaster für mittelmäßiges Essen. Sie lassen sich Weinflaschen in Kühlern kommen und reklamieren, dass das Billiggesöff, für das sie eine Menge Geld liegen lassen, angeblich zwei Grad zu warm an den Tisch gekommen sei. Die Poetik des Aristoteles kennt niemand von ihnen, genauso wenig Platon oder Homer. Wozu auch? Kultiviert zu sein, bedeutet für sie Rotwein zu trinken, statt Bier. Und dann kommt das Thema beim Tischgespräch doch tatsächlich auf Judith Zander zu sprechen, von der man auf der Fahrt zur Arbeit im Südwestfunk gehört habe. 15.000 Euro für Gedichte! Das solle ja wohl ein Witz sein! Man habe das dann aus Spaß beim Toilettengang einmal gegoogelt und, was für eine unerhörte Begebenheit, da reime sich ja nicht einmal was! Was sollen denn das für Gedichte sein?

Unlängst war ich zum Broterwerb gezwungen, meine Dienste als Theaterpädagoge mindestbietend zu verschachern. Im Zuge dessen hatte ich das zweifelhafte Vergnügen, ein allgemeinbildendes Gymnasium im ländlichen Raum zu besuchen. Als ich eines der Klassenzimmer betrat, fand ich dort schmunzelnd an der Tafel folgenden Aufschrieb vor:

Sicherlich nicht völlig falsch, allerdings leider stark vereinfacht. Angesichts dessen braucht man sich über das zeitgenössische Lyrik-Geschimpfe nicht zu wundern. Was sind denn aber nun die Merkmale der literarischen Großgattung Lyrik? Zunächst einmal muss man grundsätzlich verstehen, dass Lyrik, sowie Literatur im Allgemeinen, poetische Inszenierung von Wirklichkeit ist. Die Lyrikerin verarbeitet in ihren Texten Erfahrungen des Menschseins, der Conditio Humana, von der banalen Alltagserfahrung bis hin zu überzeitlichem und interkulturell gültigem Weltwissen. Alles kann, nichts muss. Der Alltagsgegenstand Sprache wird unter Zuhilfenahme künstlerischer Verfahren, wie zum Beispiel Inversion der herkömmlichen Syntax, lautliche Äquivalenz, Sinnfiguren, rhetorische Mittel, etc., verfremdet. Durch die Verfremdung soll eine Erschwerung und dadurch Verlängerung der Wahrnehmung bewirkt werden, was gewissermaßen den Rezeptionsvorgang intensiviert und unter Umständen, je nach Abstraktionsgrad, einen Assoziationsprozess initiiert, wobei der Text als Projektionsfläche dienen kann. Ein so geschaffenes Sprachartefakt ist zumeist situationsabstrakt, selbstreferentiell und häufig auch mehrdeutig. Die Lesart ist mehr oder weniger offen. Weitere Merkmale der Gattung Lyrik sind deren semantische Verdichtung sowie die gängige Versform. Ein Text muss jedoch sicherlich nicht alle diese Kriterien erfüllen, um als lyrisch zu gelten, vor allem muss er sich nicht reimen. Letztlich gibt es in der Kunst nichts, was es nicht gibt. Formale Vorgaben schaffen sich ab, alte Formen werden mit neuen Inhalten angereichert, regelmäßig kommt es zum Bruch mit vermeintlich gültiger Regelpoetik. Literatur bewegt sich, wie Kunst und Mode generell, in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Tradition und Innovation, wobei es, meiner Meinung nach, zumeist gerade die Grenzbereiche sind, die besonders spannend hervorstechen. Mit trennscharfen Definitionen zu arbeiten, strebt im Bereich der Literaturwissenschaft nahezu gegen unmöglich. Was hätte man auch davon? Vorgenannte Definitionskriterien zur Gattungsbestimmung, genau wie die Einteilung in Epochen, sind wohl eher als eine Art Leuchttürme zu begreifen, welche bestimmte Grenzen abstecken, um Komplexität zu reduzieren und eine wissenschaftliche Verständigung über die Klassifizierung von Texten im Allgemeinen zu erleichtern. Legt man dies alles zu Grunde, muss man zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass Judith Zanders Texte SEHR WOHL LYRIK sind! Meiner persönlichen Meinung nach sind die Texte zum Teil sogar äußerst virtuos komponiert und ich habe durchaus meine Freude daran. Ich gönne ihr die 15.000 Euro und das mit dem Peter-Huchel-Preis verbundene Prestige von ganzem Herzen. Meiner Meinung nach hätte sie, genau wie jede(r) andere Lyriker(in), deutlich mehr Anerkennung und finanziellen Erfolg verdient.

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