vonLeisz Shernhart 05.07.2022

Poetik des Postfaktischen

Zu viel Form für zu wenig Inhalt: Zur Rolle des Kulturschaffenden in der postfaktischen Gesellschaft. Betrachtungen ohne abschließende Bewertung.

Mehr über diesen Blog

Unbeachtet lorgnettiert der kleine Künstler im Sandkasten die Welt. Von allen Kindermenschlein hat SIE die schönsten und buntesten Förmchen, wenngleich sie augenscheinlich nicht viel damit anzufangen weiß. Der Künstler hingegen hat nichts. Ein wenig scheel ist er auf die Welt, eine feine Dame à la mode, die qua Geburtsrecht mit allen erdenklichen Möglichkeiten bedacht worden war. Von allen Kindermenschen im Sandkasten wirkt der Künstler am spinösesten. Seine Kleidung ist abgerissen, Treter trägt er keine. Während die übrigen Jungherrenaugen die Welt, welche von allen Anwesenden, selbst von den Erwachsenen, über alle Maßen bewundert wird, durch großgestisches Sprechtheater an der Rampe zu beeindrucken versuchen, schweigt der Künstler und bleibt abseits. Verstohlen betrachtet er SIE, ihre Schönheit, sowie die unbeholfenen Versuche der restlichen Kindermenschlein, vergeblich um IHRE Gunst zu buhlen. Plötzlich blickt die Welt IHN an. Er errötet. Sie lächelt. Eines ihrer Löckchen tanzt ihr ins Gesicht. Eine Windbö schüttelt den Baldachin, der den Sandkasten überspannt. Die Zeit steht still für den kleinen Künstlermenschen. Sie reicht ihm eines ihrer Förmchen, der Künstler nimmt es und beginnt damit zu schaffen. Ein kleines Versailles aus Sand entsteht, wie von selbst, unter seinen feinen Händen. Als er schließlich das Sandschloss der Welt überwidmen will, wird der Künstler gewahr, dass er längst alleine ist im großen Sandkasten. Die Straßenlaternen flackern bereits und der Asphalt wabert in milchigem Dämmerlicht. Alle Kindermenschen sind bereits zu Hause, wo sie gehörig verzogen werden. Indessen denkt der Künstler alleine an die Welt und weint. Sein Versailles aus Sand, ein Feentraum, wird der Nacht nicht standhalten und die Welt hat ihn bereits vergessen.

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/postfaktisch/versailles-aus-sand/

aktuell auf taz.de

kommentare