Mein einjähriger Sohn Wilko hat sich bei seinen ungelenken Versuchen, das Laufen zu erlernen, ordentlich aufs Maul gelegt, d. h. hat er seinen Kopf im Sturz schön auf eine Rahmenstange seines Kinderwagens geschmettert, sodass er jetzt ein sauberes blaues Auge durch die Gegend trägt. Da er ohnehin recht kräftig ist für sein Alter, sieht er jetzt schon aus wie ein echter Weddinger Schläger. Super, denke ich, das ist die Gelegenheit, endlich mal wieder den Kollegen Bov Bjerg im Prenzlauer Berg zu besuchen. Ich kämpfe mich die Schönhauser Allee hinunter durch die Kolonnen anderer Kinderwagen, die von Kommunikationsdesignern, Medientherapeuten und Producercontrolern jeden Geschlechts durch die Gegend geschoben werden. Leider fehlt diesen Buggys ja ein Blinker, sodass ich leichte Schwierigkeiten habe, an Bovs Haus rechtzeitig in die Einfahrt abzubiegen, fast werde ich im Strom der hinter mir drängenden Kinderwagen weiter bergab getrieben, aber irgendwie schaffe ich es dann doch, mich durchzuschlagen. Später beschließen wir einen Gang auf den Spielplatz. Wir finden einen Kinderwagenparkplatz in der zweiten Reihe, setzen die Kröten in den Sand und uns an den Rand und senken damit den Hipness-Grad der gut bevölkerten Anlage sicherlich um die Hälfte, misstrauisch beäugt von den Elternpraktikanten ringsum. Die skeptischen Blicke weichen nacktem Entsetzen, als ich ein Hipp-Gläschen heraushole und Wilko damit füttere. Fertignahrung! Mitten im Prenzlauer Berg! Einige Väter halten ihren Kindern schnell die Augen zu, Mütter zücken rasch ihre biodynamischen selbstgekochten Tupperdosen, als könnten sie den bösen industriellen Geist damit zurück in die Flasche respektive ins Schraubverschlussglas drängen.
Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit, die ich brauche. „Siehst Du, Wilko“, erhebe ich meine Stimme, und der Kleine guckt mich aus einem großen und einem blauen Auge staunend an, „das hier sind bald Deine Spielkameraden, die müssen nämlich demnächst alle zu uns in den Wedding auf die Grundschule.“ Nackte Panik steigt in die Gesichter der Prenzlauerberger. Wilko macht dazu einmal „Buh!“, und einige Prenzlbabys fangen an zu weinen.
Denn die Angst geht um im Kiez. Bürgerinitiativen werden gegründet, am Kollwitzplatz werden Demos veranstaltet, Klagen werden eingereicht: Da die Stadt Berlin sich aus unerfindlichen Gründen weigert, neben jede Agglomeration von mehr als drei Latte-Macchiato-Straßencafés auch gleich eine Grundschule zu bauen, um diese später wieder wegzusprengen, wenn dann das nächste Viertel das neue schicke Ding ist, kann jetzt nicht mehr jedes Kind in die nächstgelegene Schule. In die gute nächstgelegene Schule im eigenen Kiez, mit musikalischer oder ausdruckstänzerischer oder gestaltpoetischer Ausrichtung, um noch mehr sinnlose Kreative heranzuzüchten, die sich dann 15 Jahre später um die Praktikumsplätze prügeln dürfen. In die gute nächstgelegene Schule im eigenen Kiez, mit netten Eltern und netten Kindern und nicht diesen fiesen Ost-Prolls von jenseits der Prenzlauer Allee oder, Gott bewahre, gar Ausländern wie im Wedding. Dafür sind sie schließlich nicht aus ihren Nestern bei Braunschweig oder Tübingen oder Tuttlingen hierher gezogen, um jetzt ihren kostbaren Kreativnachwuchs mit den Unterschichtsgören der Ghettos zu konfrontieren, nein, da stellen sie sich lieber vor die Kollwitz-Statue und halten mit medial geübtem Checker-Lächeln Schilder mit Aufschriften wie „Kurze Wege für Kurze“ in die Kameras der Lokalpresse. Und die hat anschließend Furchtbares zu berichten: „Thorben* ist fünf und soll dieses Jahr in die Schule. Und zwar in die gegenüber. Wenn er aus seinem Kinderzimmerfenster schaut, sieht er sie – seine Thomas-Mann-Grundschule.“ So beginnt ein Beitrag des RBB-Magazins Klartext, und dazu sieht man vermutlich, wie der kleine Thorben mit großen, traurigen Kinderaugen aus seinem Fenster auf die Thomas-Mann-Grundschule guckt, wir fürchten das Schlimmste, und der Kommentar bestätigt im nächsten Moment unsere düstersten Ahnungen: „Doch Thorben muss draußen bleiben.“ Wobei „draußen bleiben“ hier bedeutet, dass er in einem Umkreis von 1,8 km auf eine andere Schule muss. Eine Entfernung, bei der viele junge Eltern bei Braunschweig oder Tuttlingen oder Tübingen sich freudestrahlend in die Hände klatschen würden. Im Prenzlauer Berg aber ist das nicht nur weit weg, nein: „darüber hinaus schätzen seine Eltern die Thomas-Mann-Grundschule, weil sie musikalisch/künstlerisch ausgerichtet ist. Das entspricht den Stärken ihres Sohnes.“ Kein Einzelschicksal. Denn alle Kinder rund um den Kollwitzplatz haben ausgeprägte musikalisch/künstlerische Stärken, sensible Pflänzchen, die dringend der individuellen Förderung in nach Feng-Shui ausgerichteten Klassenzimmern bedürfen, um richtig gedeihen zu können. So berichtet die Berliner Morgenpost über die „fünfjährige Hanna Schenk, deren Mutter noch „bis vor wenigen Tagen immer klar war“, dass Hanna die Thomas-Mann-Grundschule besuchen wird, denn „vor allem aber hat sie das Konzept überzeugt. „Für Hanna wäre die musische Ausrichtung der Thomas-Mann-Schule genau richtig“, betont Frau Schenk. Die taz berichtet von 30 weiteren angehenden Deportationsopfern, die von der Thomas-Mann-Schule in die „Grundschule am Planetarium“ sollen, wo es doch aber nur Sport und Computer statt Musik gibt. Und zitiert einen Kollwitzplatzvater – „Er trägt einen schwarzen Anzug samt neongrüner Krawatte“ –, der sich über das zuständige Schulamt auslässt: „Die verstehen nicht, dass die jetzt Akademiker vor sich haben.“ Und mit denen darf man natürlich nicht einfach so alles machen wie mit dem Pöbel in anderen Gegenden. Damit aus der wertvollen Brut auch so was Tolles wird wie aus Papa, der nämlich „als Chefreporter bei einem Berliner Boulevardblatt“ arbeitet. Berlinweite Komplettverlosung, durchzuckt mich ein Impuls, das wäre die einzig richtige Reaktion darauf. Damit diese bedauernswerten Designerkinder die Chance haben, auch mal was von der richtigen Welt da draußen zu sehen. Und vielleicht dann doch mal was Vernünftiges lernen. In einer Schule mit Schwerpunkt auf individuelle handwerkliche Förderung zum Beispiel. Und gleichzeitig muss dringend eine Pflichtmigrantenquote von mindestens 40 % an Prenzlauerbergschulen eingeführt werden. Dann gibt´s demnächst auch Erkan oder Tarkan statt Bach oder Baez. Das kann eigentlich nur zum Guten gereichen.
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[*Ich habe die Namen der Kinder geändert, obwohl das natürlich an sich witzlos ist, weil es ja veröffentlicht und via Link leicht erschließbar ist. Aber die Kleinen können ja nichts dafür, dass sie da von ihren Eltern in die Zeitung gehalten werden, und so tauchen sie wenigstens später beim Googeln nicht an dieser Stelle hier auf.]
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