vonHeiko Werning 01.06.2007

Reptilienfonds

Heiko Werning und Jakob Hein über das tägliche Fressen und Gefressenwerden in den Wüsten, Sümpfen und Dschungeln dieser Welt.

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Mein einjähriger Sohn Wilko hat sich bei seinen ungelenken Versuchen, das Laufen zu erlernen, ordentlich aufs Maul gelegt, d. h. hat er seinen Kopf im Sturz schön auf eine Rahmenstange seines Kinderwagens geschmettert, sodass er jetzt ein sauberes blaues Auge durch die Gegend trägt. Da er ohnehin recht kräftig ist für sein Alter, sieht er jetzt schon aus wie ein echter Weddinger Schläger. Super, denke ich, das ist die Gelegenheit, endlich mal wieder den Kollegen Bov Bjerg im Prenzlauer Berg zu besuchen. Ich kämpfe mich die Schönhauser Allee hinunter durch die Kolonnen anderer Kinderwagen, die von Kommunikationsdesignern, Medientherapeuten und Producercontrolern jeden Geschlechts durch die Gegend geschoben werden. Leider fehlt diesen Buggys ja ein Blinker, sodass ich leichte Schwierigkeiten habe, an Bovs Haus rechtzeitig in die Einfahrt abzubiegen, fast werde ich im Strom der hinter mir drängenden Kinderwagen weiter bergab getrieben, aber irgendwie schaffe ich es dann doch, mich durchzuschlagen. Später beschließen wir einen Gang auf den Spielplatz. Wir finden einen Kinderwagenparkplatz in der zweiten Reihe, setzen die Kröten in den Sand und uns an den Rand und senken damit den Hipness-Grad der gut bevölkerten Anlage sicherlich um die Hälfte, misstrauisch beäugt von den Elternpraktikanten ringsum. Die skeptischen Blicke weichen nacktem Entsetzen, als ich ein Hipp-Gläschen heraushole und Wilko damit füttere. Fertignahrung! Mitten im Prenzlauer Berg! Einige Väter halten ihren Kindern schnell die Augen zu, Mütter zücken rasch ihre biodynamischen selbstgekochten Tupperdosen, als könnten sie den bösen industriellen Geist damit zurück in die Flasche respektive ins Schraubverschlussglas drängen.

Jetzt habe ich die Aufmerksamkeit, die ich brauche. „Siehst Du, Wilko“, erhebe ich meine Stimme, und der Kleine guckt mich aus einem großen und einem blauen Auge staunend an, „das hier sind bald Deine Spielkameraden, die müssen nämlich demnächst alle zu uns in den Wedding auf die Grundschule.“ Nackte Panik steigt in die Gesichter der Prenzlauerberger. Wilko macht dazu einmal „Buh!“, und einige Prenzlbabys fangen an zu weinen.

Denn die Angst geht um im Kiez. Bürgerinitiativen werden gegründet, am Kollwitzplatz werden Demos veranstaltet, Klagen werden eingereicht: Da die Stadt Berlin sich aus unerfindlichen Gründen weigert, neben jede Agglomeration von mehr als drei Latte-Macchiato-Straßencafés auch gleich eine Grundschule zu bauen, um diese später wieder wegzusprengen, wenn dann das nächste Viertel das neue schicke Ding ist, kann jetzt nicht mehr jedes Kind in die nächstgelegene Schule. In die gute nächstgelegene Schule im eigenen Kiez, mit musikalischer oder ausdruckstänzerischer oder gestaltpoetischer Ausrichtung, um noch mehr sinnlose Kreative heranzuzüchten, die sich dann 15 Jahre später um die Praktikumsplätze prügeln dürfen. In die gute nächstgelegene Schule im eigenen Kiez, mit netten Eltern und netten Kindern und nicht diesen fiesen Ost-Prolls von jenseits der Prenzlauer Allee oder, Gott bewahre, gar Ausländern wie im Wedding. Dafür sind sie schließlich nicht aus ihren Nestern bei Braunschweig oder Tübingen oder Tuttlingen hierher gezogen, um jetzt ihren kostbaren Kreativnachwuchs mit den Unterschichtsgören der Ghettos zu konfrontieren, nein, da stellen sie sich lieber vor die Kollwitz-Statue und halten mit medial geübtem Checker-Lächeln Schilder mit Aufschriften wie „Kurze Wege für Kurze“ in die Kameras der Lokalpresse. Und die hat anschließend Furchtbares zu berichten: „Thorben* ist fünf und soll dieses Jahr in die Schule. Und zwar in die gegenüber. Wenn er aus seinem Kinderzimmerfenster schaut, sieht er sie – seine Thomas-Mann-Grundschule.“ So beginnt ein Beitrag des RBB-Magazins Klartext, und dazu sieht man vermutlich, wie der kleine Thorben mit großen, traurigen Kinderaugen aus seinem Fenster auf die Thomas-Mann-Grundschule guckt, wir fürchten das Schlimmste, und der Kommentar bestätigt im nächsten Moment unsere düstersten Ahnungen: „Doch Thorben muss draußen bleiben.“ Wobei „draußen bleiben“ hier bedeutet, dass er in einem Umkreis von 1,8 km auf eine andere Schule muss. Eine Entfernung, bei der viele junge Eltern bei Braunschweig oder Tuttlingen oder Tübingen sich freudestrahlend in die Hände klatschen würden. Im Prenzlauer Berg aber ist das nicht nur weit weg, nein: „darüber hinaus schätzen seine Eltern die Thomas-Mann-Grundschule, weil sie musikalisch/künstlerisch ausgerichtet ist. Das entspricht den Stärken ihres Sohnes.“ Kein Einzelschicksal. Denn alle Kinder rund um den Kollwitzplatz haben ausgeprägte musikalisch/künstlerische Stärken, sensible Pflänzchen, die dringend der individuellen Förderung in nach Feng-Shui ausgerichteten Klassenzimmern bedürfen, um richtig gedeihen zu können. So berichtet die Berliner Morgenpost über die „fünfjährige Hanna Schenk, deren Mutter noch „bis vor wenigen Tagen immer klar war“, dass Hanna die Thomas-Mann-Grundschule besuchen wird, denn „vor allem aber hat sie das Konzept überzeugt. „Für Hanna wäre die musische Ausrichtung der Thomas-Mann-Schule genau richtig“, betont Frau Schenk. Die taz berichtet von 30 weiteren angehenden Deportationsopfern, die von der Thomas-Mann-Schule in die „Grundschule am Planetarium“ sollen, wo es doch aber nur Sport und Computer statt Musik gibt. Und zitiert einen Kollwitzplatzvater – „Er trägt einen schwarzen Anzug samt neongrüner Krawatte“ –, der sich über das zuständige Schulamt auslässt: „Die verstehen nicht, dass die jetzt Akademiker vor sich haben.“ Und mit denen darf man natürlich nicht einfach so alles machen wie mit dem Pöbel in anderen Gegenden. Damit aus der wertvollen Brut auch so was Tolles wird wie aus Papa, der nämlich „als Chefreporter bei einem Berliner Boulevardblatt“ arbeitet. Berlinweite Komplettverlosung, durchzuckt mich ein Impuls, das wäre die einzig richtige Reaktion darauf. Damit diese bedauernswerten Designerkinder die Chance haben, auch mal was von der richtigen Welt da draußen zu sehen. Und vielleicht dann doch mal was Vernünftiges lernen. In einer Schule mit Schwerpunkt auf individuelle handwerkliche Förderung zum Beispiel. Und gleichzeitig muss dringend eine Pflichtmigrantenquote von mindestens 40 % an Prenzlauerbergschulen eingeführt werden. Dann gibt´s demnächst auch Erkan oder Tarkan statt Bach oder Baez. Das kann eigentlich nur zum Guten gereichen.

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[*Ich habe die Namen der Kinder geändert, obwohl das natürlich an sich witzlos ist, weil es ja veröffentlicht und via Link leicht erschließbar ist. Aber die Kleinen können ja nichts dafür, dass sie da von ihren Eltern in die Zeitung gehalten werden, und so tauchen sie wenigstens später beim Googeln nicht an dieser Stelle hier auf.]

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https://blogs.taz.de/reptilienfonds/2007/06/01/die-geschundenen-kinder-vom-prenzlauer-berg/

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kommentare

  • Musikalisch-Künstlerische Ausrichtung? Höre ich das erste Mal.Sobald man an einer dieser vielgepriesenen Schulen ist, will man sofort wieder weg. (Leider eigene Erfahrung) Und die gute alte „echte“ Schule am Planetarium mit noch „echtem“ Unterricht wird jetzt ja dann nun auch dem individuellen Quatschlernen zum Opfer fallen, wenn erst die ganzen Antiauthoritätserziehungseltern dort aufkreuzen. Dann muss man bald nach Brandenburg, wenn man noch ordentlichen Unterricht haben will.Das sind dann…Moment ich rechne mal…doch mehr als 1,8km?

  • Selbstgefälliger Quatschkopf! – Der „Weddinger“ (der Autor dieser bissigen Äußerungen, Heiko Werning) stammt aus Münster. – Also bitte nicht über andere (aus Tübingen oder Tuttlingen oder sonstwo), lästern.
    Er läßt sich über Designer und Reporter aus – und ist letztendlich selber einer…. siehe Vita.
    Also: Zuerst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Im Wedding oder sonstwo.

  • der text geht doch nie im leben gegen jenes Drittel das noch den echte Prenzlauer Berg darstellt, aber ich finde kein Schwabe sollte hier eine Extracurrywurst gebrtaten bekommen und wenn die Politik denen schon in den arsch kraucht dann sollte ihnen die Berliner Öffentlichkeit endlich mal die meinung sagen.
    Suebi, ite domum.

  • […] Huuih, die Polemiken auf den Prenzlauer Berg und seine neueren Bewohner nehmen deutlich zu. Neulich beim Kantinenlesen Heiko Werning, der – wie ich gerade sehe – für die taz “Reptilienfonds” schreibt, mit einem bitterbösen, aber ungemein lustigen und stimmigen Weddinger Blick auf den Prenzlauer Berg. Für das ZEITMagazin hat nun Henning Süßebach eine Polemik geschrieben, die wohl eigentlich eine Reportage sein soll. Aber dazu setzt er sich nicht genug mit den (auch eigenen) Widersprüchlichkeiten auseinander. Aber natürlich viel Wahres dabei. Also: Kann man lesen. […]

  • Zum Text: Naja, ganz lustig geschrieben, taz eben, die können gut schreiben, aber schlecht recherchiert in Sachen Schulmangel in Prenzlauer Berg, auch wenn es weiß Gott Wichtigeres gibt. Eben taz, da haben sich auch einige in der Redaktion voll und ganz dem Google-Journalismus verschrieben, schön garniert mit linken Spitzfindigkeiten und Klischees. Denn:

    1. Seit langem wird gern der Kinderboom im Prenzlauer Berg thematisiert, war auch im Bezirks- und Schulamt bekannt. Es gab etliche Warner und die Ämter haben nichts getan, im Gegenteil, in den letzten 10 Jahren wurde einige Schulen geschlossen. Das rettende Auslosungsverfahren war ein Schnellschuss, der nach hinten losging.

    2. Durch das Schulplatz-Auslosungsverfahren, das wegen Platzmangel an den betroffenen Schulen vom Bezirksamt eingeführt wurde, sind kuriose Zustände entstanden. So kann es sein, dass Klein-Lisa aus der Dunckerstraße in die Thomas-Mann (Greifenhagener) geht, Klein Karl aus der Greifenhagener Straße aber in die Grundschule am Planetarium gehen muss. (Kein Einzelfall)

    3. Lange Schulwege sind noch gefährlichere Schulwege. Vor 2 Jahren wurde ein Schüler an der Kreuzung Danziger/Schliemann von einem LKW überfahren (trotz Grün für Füßgänger) und starb an den Verletzungen. Die Verkehrsdichte im hochverdichteten Stadtraum ist entsprechend hoch, nicht umsonst steht die Schulwegsicherung in Sachen Verkehrsplanung entsprechend weit oben.

    4. Die Pauschalisierung, dass alle Prenzlauer Berger Eltern Yuppies sind, ist ein typisches linkes Vorurteil. Ein Produkt der ewigen Wiederholung der (unhaltbaren) Gentrifizierungsthese. Warum sollen schlecht verdienende Eltern (und in Prenzlauer Berg gibt es immerhin 1/3 WBS-Berechtigte!) nicht auch Angst um ihre Kinder haben? Es gibt solche Yuppies wie im Beitrag beschrieben, sie sind aber eine kleine Minderheit. Alle über einen Kamm zu scheren ist unseriös.

    5. Tuttlingen und Tübingen sind nicht mit der Stadt- und Bevölkerungsstruktur in Berlin-Prenzlauer Berg zu vergleichen, der Vergleich hinkt an allen Ecken.

    6. Jeder, der Kinder hat, wird sicher nicht begeistert sein, wenn sich sein Kind jeden Morgen 2 km mit einer schweren Mappe (und die sind schwer) durch das Verkehrsgewühl im Kiez durchkämpfen muss. Also werden viele Eltern ihre Kinder mit dem Auto in die Schule bringen, was zu einem noch höheren Verkehrsaufkommen als bisher führt und die Schulwege noch unsicherer macht.

    PS: Email ist Email und hat mit einer E-Mail nichts gemein.

  • […] Die geschundenen Kinder vom Prenzlauer Berg Heiko Werning über Einschulung im Prenzlberg “Aber es musste der Soldiner Kiez sein. Meine Eltern sind jeden Morgen eine Stunde gefahren, nur um mich dort hinzubringen. Am Nachmittag holten sie mich immer ab, ich war froh, endlich wieder Erwachsene zu sehen. Denn Erwachsene bedeuteten immer gute Nachrichten für mich an der Juhnke, egal, ob es nun meine Eltern oder die Uniformierten vom SEK waren, die meistens Mittwoch vorbeikamen.” […]

  • naja viel polemik und klischee und eher wenig realität. die kitakids auf dem hinterhof kloppen sich im pberg die zerschredderten skateboards genauso gnadenlos an den schädel, wie im so36 oder in b-schweig. die alten waschmaschinen stappeln sich neben 16 Zoll monitoren auf dem nebenstrassenbürgersteig, da kackt der designerpapa genauso vor die eigene haustür, wie woanders auch. ich glaub ja auch ernsthaft, hier sind so ville kids auf der strasse, weil die ellis alle auf hartz4 sind und zeit haben und sie sich nehmen, anstatt 100 bewerbungen ins blaue zu schreiben.mir soll es recht sein. eine grundschule mehr oder weniger, demoskopisch schwnakungen gibts auch noch in 150 jahren, da kann sich ja mal endlich wer ein anständiges zwischennutzungskonzept für die grundschulen ausdenken, statt sie wegzubomben.und für die ganztagsbetreuung hat berlin-brandenburg auch genug arbeitslose pädagogen. wär doch mal nen zukunftskonzept. übrigends is die kinderwagendichte nur zwische 16 und 17 uhr hoch. ansonsten tritt uns hier nur der gemeine touri in die quere, aber dem verdanken wir die wachstumsprognosen. ich zieh eh bald ufs dorf. gruzz

  • […] Jakob Hein über “das geschundene Kind vom Wedding” Vor einigen Monaten schon habe ich hier einen Text eingestellt, der sich mit den schlimmen Zuständen im Prenzlauer Berg (nicht jedes Kind darf auf eine gestalttänzerische Förderschule!) beschäftigt hat, unter dem zutreffenden Titel Die geschundenen Kinder vom Prenzlauer Berg (und der, nebenbei bemerkt, auch in meinem druckfrischen Buch In Bed with Buddha enthalten ist). Diesen trug ich unlängst bei der Reformbühne Heim & Welt erneut vor, was den im Prenzlauer Berg ansässigen Kollegen Jakob Hein zu einer, wie ich neidvoll zugestehen muss: sehr lustigen Replik motiviert hat: […]

  • Na, besten Dank.
    Natürlich sind die Geschwisterkinder problematisch (und manch anderes auch), aber der Text ist ja schließlich eine Polemik, kein differenzierter Essay. (Wobei: Manfred Maurenbrecher merkte dazu an, dass viele Kinder vielleicht eher ganz froh wären, wenn sie nicht auf die Schule ihrer Geschwister müssten – auch eine Sichtweise.)

  • Werter Herr Werning,

    wieder einmal eine köstliche Kolumne aus Ihrer Feder.

    Allerdings bleibt als ernsthaftes Problem anzumerken, dass die Problematik Geschwisterkinder bleibt, d.h. nach den Plänen des Schulamts Pankow werden Geschwisterkinder verschiedenen Grundschulen zugeteilt. Das ist wirklich ein Problem, besonders wenn beide Eltern beruftstätig sind.

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