Die drei Ereignisse haben zunächst nichts miteinander gemeinsam, es sind nicht mal im wirklichen Sinne drei Ereignisse. Das Rauchverbot in öffentlichen Räumen, genauer gesagt: in öffentlich zugänglichen Räumen, was ein wichtiger Unterschied ist, ist endgültig in Kraft getreten. Bei Extrembergtouren gab es Tote. Und verschiedene Bundesländer wollen die private Haltung von Giftschlangen verbieten.
Mit allen drei Geschehnissen habe ich zunächst herzlich wenig zu tun: Auf Berge steige ich nur ungern und auch nur dann, wenn man auf angemessener Höhe gut parken kann. Die Zahl der Zigaretten, die ich in meinem Leben gepafft habe, kann ich mit nur wenig Untertreibung an zwei Händen abzählen, und Giftschlangen halte ich nicht, dafür bin ich viel zu ängstlich und zu wenig diszipliniert.
In allen drei Punkten geht es um Sicherheit, um Schutz von Menschenleben. Rauchen ist erwiesenermaßen ungesund. Nur die allerteerköpfigsten Raucher bestreiten das. Wer raucht, weiß in aller Regel um die Gefahren. Er geht mit seiner Rauchtätigkeit ein erhöhtes Risiko ein. Bergsteigen ist zwar nicht im engeren Sinne ungesund, im Gegenteil, es wird viel Geld in grenzdebile Kampagnen gesteckt, um die Bevölkerung in die Wälder, auf den Sportplatz oder eben auch auf Berge zu jagen, aber natürlich doch nur im vernünftigen Rahmen, solange es einem gut tut und man kein Risiko eingeht. Den Extrembergsteiger, so fern mir diese Sorte Mensch auch in jeder Beziehung ist, dürfte kaum in erster Linie der Wunsch nach körperlicher Fitness antreiben. Ihm geht es um Grenzerfahrungen, um den Sieg über die Natur und die Physis, wie man beispielsweise von den letzten Äußerungen der frisch tiefgefrorenen Nanga-Parbat-Fugenfüllmasse Karl Unterkirchner erfährt. Auch die Motivation von Giftschlangenhaltern erschließt sich der Masse kaum auf den ersten Blick. Während viele sich zu Unrecht ekeln und zu Recht fürchten, fühlen andere eine besondere Faszination, die von diesen Reptilien ausgeht. Dafür gibt es viele gute Gründe, aber neben der ästhetischen Schönheit dieser Tiere gehört sicher auch das Wissen um ihre tödliche Präzision, die desaströse Wirkung ihres Bisses dazu. Ähnlich dem Extrembergsteiger gehört für viele Pfleger das Gefühl, ein potenziell tödliches Risiko bändigen zu können, sicher mit zu den Motiven, sich dieser nicht ganz ungefährlichen und verhältnismäßig aufwändigen Leidenschaft zu verschreiben.
Nun muss man keine dieser Motivationen teilen. Sie erscheinen denen, die nicht von diesem einen besonderen Virus befallen sind, befremdlich und verrückt. Für mich beispielsweise ist kaum etwas Absurderes vorstellbar, als unter größtem körperlichen Ungemach bei beschissenem Wetter und zu wenig Sauerstoff an irgendwelchen Felsen herumzukraxeln, und es gibt nicht mal ein Bier zum Abendessen. Hätte ich die Wahl, selbst wenn man durch technische Finessen jedes Risiko ausschalten könnte, so etwas wie den Nanga Parbat hochzukriechen oder mir aus Leibeskräften mit einem Hammer die Finger einer Hand zu zertrümmern, ich müsste nicht lange nachdenken. Mein Vertrauen in die Unfallchirurgie ist groß, und zur Not kann ich auch mit fünf Fingern tippen.
Gleichzeitig kann ich mich aber gut an meine Begegnungen mit Giftschlangen in freier Natur erinnern, jede einzelne ist mir noch genau im Gedächtnis. Die erste Klapperschlange, an die ich mich auf dem Boden liegend immer näher heranrobbte, um sie in ihrer Angriffsstellung zu fotografieren, mit dem zum Zustoßen erhobenen Oberkörper und dem aufgeregt klappernden Schwänzchen. Natürlich, ich war die ganze Zeit der Überzeugung, den Abstand, den ich nicht unterschreiten durfte, richtig einzuschätzen und das Verhalten des Gegenübers genau zu deuten. Aber das hat Herr Unterkirchner von seinem Berg wohl auch gedacht. Er hat sich geirrt, und ich behielt Recht: Ich erfreue mich an schönen Bildern, während Unterkirchner von dereinst folgenden Zivilisationen aufgetaut und ins Museum gestellt werden wird. Meine Klapperschlange hat noch ein bisschen vor sich hin geklappert, und kaum, dass ich mich einen halben Meter zurückgeschoben hatte, nutzte sie die Chance zur Flucht und verschwand zwischen den Felsen ihrer hübschen kleinen Gebirgswüste auf der mexikanischen Halbinsel Baja California. Vermutlich hat sie über mich dasselbe gedacht wie ich über jeden Zugspitzenläufer: meine Güte, was für ein Bekloppter!
Aber: Ganz offenbar ist etwas im Menschen, das ihn an der Gefahr reizt oder Risiken in Kauf nehmen lässt. Dass ihn zur Unvernunft treibt. Ist es gefährlicher, mit Giftschlangen zu kuscheln, im leichten Leibchen durch einen Schneesturm die Zugspitze hochzujoggen – oder sich dauerhaft ungesund zu ernähren, sich nicht genug zu bewegen, sich dem Straßenverkehr auszusetzen oder der Umweltbelastung in Großstädten? Und vor allem: Sollte das nicht einfach jeder für sich entscheiden?
Natürlich liegen die Grenzen der freien Selbstentfaltung dort, wo andere gegen ihren Willen gefährdet werden. Das kann im Prinzip bei allen drei Beispielen der Fall sein. Unbeteiligte könnten von einer Giftschlange gebissen werden, Retter geraten bei den Operationen im Hochgebirge selbst in Gefahr, und Nichtraucher leiden unter dem Rauch der Raucher. Solche Außenwirkungen zu minimieren und gegen rücksichtsloses Verhalten vorzugehen, ist eine Aufgabe des Staates, selbstverständlich.
Nur – wäre es dann nicht oberste Pflicht, sehr sorgsam abzuwägen zwischen dem Schutz Unbeteiligter und den Freiheitsrechten des Einzelnen? Denn einen völligen Schutz Dritter gibt es nicht, bei praktisch keiner menschlichen Tätigkeit. Wer Auto fährt, kann nicht nur sich selbst, sondern gänzlich unschuldige Fußgänger in tödliche Unfälle verwickeln. Wer im Winter sein Haus heizt oder nachts das Licht anmacht, ist mitverantwortlich dafür, dass andere Menschen in Kohleflözen ihre Gesundheit ruinieren oder gleich ganz verschüttet werden. Was aber macht das Bedürfnis nach Autofahrten objektiv wichtiger als jenes nach der Gesellschaft von Kobras? Ist der entscheidende Unterschied nicht einzig der, dass es eben mehr Leute gibt, die sich lieber in einen Jaguar setzen als neben eine Grüne Mamba?
Staatliche Eingriffe müssen Kompromisse zwischen dem Recht auf individueller Freiheit und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit Dritter erzielen. Das wird gern verschwiegen, aber genau das ist es. Jede Geschwindigkeitsbegrenzung im Straßenverkehr ist genau ein solcher Kompromiss. Bei Tempo 30 sinkt die Gefahr von Unfällen mit Unbeteiligten; sie verschwindet aber keineswegs, „Restrisiken“ und damit unterm Strich tote Kinder werden wissend in Kauf genommen, nicht hypothetisch, sondern sicher.
Gefährlich wird es, wenn nicht eine möglichst objektive Gefahrenabschätzung zur Reglementierung führt, sondern Stimmung der Massen und blankes Ressentiment. Es gab in Deutschland noch keinen einzigen Todesfall mit Unbeteiligten durch Giftschlangen, trotz vermutlich über einer Million Reptilien in den letzten 60 Jahren, die durchaus das Zeug dazu gehabt hätten. Das Risiko für Dritte ist also offenkundig extrem gering. Eine objektive Gefahr, die ein Verbot rechtfertigen würde, liegt damit nicht vor. Nun ist das beliebte Argument „Jeder Tote ist ein Toter zu viel“ natürlich generell nicht falsch – nur hört man es eben nur im Zusammenhang mit solchen Minderheitenbeschäftigungen, nicht aber beim Straßenverkehr, in der Industrie, beim Biertrinken oder beim Fleischessen. Wenn Raucher rauchen, ist das ihre Sache. Man komme mir jetzt nicht mit den volkswirtschaftlichen Schäden – ein lächerliches Argument: denn wenn all die Raucher nicht rechtzeitig sterben, wer um Himmels Willen soll später die Pflegekosten für all die zusätzlichen Demenzkranken bezahlen? Natürlich gehören Nichtraucher dort geschützt, wo sie unvermeidbar unwillentlich Rauch ausgesetzt werden. Dass es, wie man alten Tatort-Folgen regelmäßig entnehmen kann, noch vor etwa 20 Jahren völlig üblich war, in Krankenhäusern und Behörden zu rauchen, ist ja heute kaum noch nachvollziehbar. Aber: Was mischt der Staat sich in private Angelegenheiten ein? Welcher Nichtraucher wird denn gezwungen, in ein Restaurant zu gehen, in dem auch geraucht werden darf? Wenn es eben kein Restaurant gibt, dass nichtraucherkompatibel ist, dann kann der Nichtraucher halt nicht essen gehen. Oder gibt es darauf jetzt ein Grundrecht? Nö. Soll er halt selbst ein Nichtraucherrestaurant aufmachen. Und ja, die Angestellten: Aber warum werden Kellner und Tresenkräfte geschützt, nicht aber Bergbaukumpel und Soldaten? Die wissen auch mit Unterzeichnung ihres Arbeitsvertrages, dass sie ein höheres Risiko körperlicher Beeinträchtigung auf sich nehmen als, sagen wir, ein Referatsleiter im Gesundheitsministerium.
Bei all diesen Diskussionen geht es offenkundig nur um zwei Dinge: Populismus und Wirtschaftskompatibilität. Tätigkeiten, die der Gesamtwirtschaft und damit vor allem den davon profitierenden Großkonzernen nützlich sind, werden hingenommen, ganz gleich wie gesundheitsschädlich sie sind und wieviele unbeteiligte Dritte davon betroffen werden. Niemand käme auf die Idee, das private Autofahren zu verbieten, weil das erstens unpopulär wäre und zweitens gegen wirtschaftliche Interessen verstieße.
Wer einsam irgendwelche Berge hochkraxelt, zu Hause eine kleine Vipernzucht unterhält oder gegen jede Vernunft eine Zichte nach der anderen wegqualmt, ist im gesellschaftlichen Maßstab so etwas wie ein Deserteur. Er macht nicht mit bei dem, wobei alle mitmachen. Es ist ihm egal, es muss ihm egal sein, was andere von ihm halten.
Das ist vielleicht ein Grund, warum ich Giftschlangenhalter so gut leiden kann. Abgesehen davon, dass ich mich schon auf die nächste Begegnung mit einer Lanzenotter draußen im Dschungel oder in der Steppe freue. Mal sehen, vielleicht gelingt mir ein Kopfporträt aus noch größerer Nähe.