In den letzten zwanzig Jahren habe ich mehr als zwanzig Hosen getragen, mehr als fünfzig T-Shirts, mindestens zehn Paar Schuhe und etwa zehn Jacken oder Mäntel. Ich habe mir in den Jahren fünf Anzüge gekauft und zehn verschiedene Mützen, von der Zahl verschlissener Socken Unterhosen ganz zu schweigen. Bei den Anzügen ist so ein komisch lindgrüner dabei mit Nadelstreifen und Hochwasserhosen, auf den Jacken standen die verschiedensten Zeichen, die Mützen trugen Aufnäher von teilweise nicht existenten Sportvereinen und auf den T-Shirts war eine geradezu Armada zu nennende Vielzahl witziger, interessanter oder origineller Motive.
Dennoch habe ich in den letzten zwanzig Jahren für die Gesamtheit meiner Kleidungsstücke nicht halb so viel Kommentare erhalten wie für das eine. Kinder fühlen sich ermutigt, etwas dazu zu sagen, ältere Frauen, viel häufiger jüngere Männer. Am Abend lallen die Betrunkenen darüber, am Morgen die Frühaufsteher. Im Sommer werden Bemerkungen gemacht, im Winter Standpunkte erläutert, völlig ungefragt im Straßenbild Grundsatzerklärungen abgegeben. Kein einziges meiner Kleidungsstücke hat vergleichbar viel Aufmerksamkeit erregt, schon gar nicht vergleichbar viel Ablehnung. Ich habe dunkle Hemden, bei denen in den wärmeren Jahreszeiten schnell sichtbar wird, dass ihr Träger im Achsel- sowie im Rückenbereich über gut funktionierende Schweißdrüsen verfügt. Ich habe Hosen, deren Hosenknopf-Bauchnabel-Abstand nur im Millimeterbereich zu messen ist. Ich habe, wenn ich einen Gürtel trage, absurd häufig das Problem, das Schließen des Hosenbundes nach Toilettengängen zu vergessen. Alles kein Problem, selten mal, dass mich diskret jemand auf mein Missgeschick hinweist.
Aber das hier in Rede stehende Kleidungsstück ist so etwas wie der Artikel eines offen transsexuell lebenden Klimaforschers auf einem dieser rechtslastigen Blogs. Offensichtlich ist die Kommentarfunktion bei diesem Kleidungsstück extrem aktiviert und ermutigt viele Nutzer meiner Oberfläche herabwürdigende, nicht immer im besten Deutsch und selten von bestechender Logik durchzogene, dafür aber mit Beleidigungen gespickte Bemerkungen zu hinterlassen.
Das Kleidungsstück, von dem hier die Rede ist, ist natürlich mein Fahrradhelm. Ich besitze einen seit es die Dinger im Handel zu kaufen gibt. Das war ein Deal mit meinen Eltern. Sie bezahlten mir jeden noch so extravagant aussehenden Helm. Trafen sie mich aber ohne Helm auf einem Fahrrad sitzend an, würden sie mir umgehend sämtliche Unterstützung streichen. Wer so vom Lebensüberdruss geplagt ist, in einer Großstadt ohne Helm Fahrrad zu fahren, so ihr Argument, der benötige auch keine Mittel für die wenigen ihm verbleidenden Tage.
Kurz darauf fuhr ich ein Rennrad durch Manhattan. Damals war das noch eine wilde Stadt und nicht die touristenfreundliche Ausgabe des heute an der selben Stelle anzufindenden Ortes. Ich trug natürlich einen Helm. Hier war das modern und mein Gastvater hatte mir außerdem die Formel erklärt, dass der Wert des Gehirns eines Fahrradfahrers dem etwa zehntausendfachen seines Helmpreises entspräche. Nach dieser Rechnung spricht es stark für den Radfahrer, wenigstens irgendeinen Helm zu tragen und ein Hundert-Dollar-Helm spricht für ein Millionen-Dollar-Gehirn. Ein helmloser Radfahrer bringt hingegen nur die Zahl Null in die Multiplikationsaufgabe ein, was für von Übungsaufgaben geplagte Grundschüler höherer Jahrgänge immer eine vereinfachende Freude ist.
Das Helmtragen habe ich mir bis heute nicht abgewöhnt, obwohl die Zahl der zu schützenden Lebensjahre seitdem um mehr als zwanzig abgenommen hat, hänge ich heute sogar noch mehr an meinem Restleben. Weiterhin bekomme ich mindestens wöchentlich irgendwelche Kommentare zu meinem Helm, praktisch nie positive.
Was ist das Ziel der Kommentatoren? Ich habe es bis heute nicht ganz herausgefunden. Wollen sie mich modisch beraten? Häufig weisen sie mich darauf hin, dass ihrer Meinung nach ein Helm albern aussehen würde. Kürzlich wurde ich dazu von einem Mann beraten, der einen Bart trug, der im Mexiko der dreißiger Jahre modern war, einen Pullover, der im Norwegen der Nachkriegszeit modern war, der Musik hörte, die in den achtziger Jahren modern war und dessen sich über die Jeans quälender Bauch bisher noch keine Epoche erlebt hat, in der das als Trend der Zeit galt. Das macht aber nichts.
Um jetzt hier mal eine Geheimnis zu verraten: Ich versuche mit meinem Helm keinen modischen Eindruck zu schinden. Damit ein Helm sinnvoll funktioniert, muss er den Kopfumfang vergrößern und damit dadurch der Mensch hübscher, wohlgestalter und irgendwie schicker aussieht, müsste er über einen extrem kleinen Kopf verfügen. Aber für diese kleinen Köpfe werden nicht einmal mehr Helme in Erwachsenengrößen gefertigt, weil im Inneren solcher kleinen Köpfe auch kleine Gehirne wohnen, deren funktionierende Restsynapsen sich in aller Regel gegen Helme entscheiden. Es ist nicht das Ziel von Leuten, die Fahrrad mit Helm tragen, dadurch als stylisch angesehen zu werden. Deswegen setze ich den Helm auch nach dem Radfahren ab. Stylisch sieht man aus, wenn man in einem schönen Seidenkleid auf einer Ottomane ruht oder im maßgeschneiderten Smoking mit Monika Bellucci Kaffee trinkt. Radfahrer sehen mit und ohne Helm nicht stylisch aus. Rotgesichtig durch Abgasschwaden strampelnde, verschwitzte Äffchen auf rostigen, quietschenden Blechhaufen, denen der Himmel mitten ins Gesicht pisst, sehen aber auch ohne Helm nicht stylisch aus.
Ich trage den Helm, und jetzt kommt für meisten offensichtlich eine riesige Überraschung, um meinen Kopf zu schützen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Knochen wächst der Schädelknochen besonders schlecht zusammen. Und im Gegensatz zu Verletzungen der meisten anderen Organen, führen Verletzungen des unter dem Helm liegenden Organs in der Regel zu starken Einschränkungen der Lebensqualität. Natürlich gibt es zahlreiche Verlaufsmöglichkeiten, in denen der Nicht-Helm-Träger diese Einschränkungen der Lebensqualität selbst gar nicht unmittelbar wahrnimmt, das macht die Sache für seine Angehörigen oder Pflegenden oder Hinterbliebenen, je nachdem, aber kein bisschen besser.
Alle Untersuchungen des Themas haben ergeben, dass schwere Schädel-Hirn-Traumata durch das Tragen von Helmen reduziert werden können. Das ist einerseits der Grund, warum ich einen Helm trage und andererseits der Grund, warum ich die permantenen Wiederholungen der kritischen, witzigen, höhnischen, herablassenden und so weiter Kommentare dazu nicht verstehen kann. Wenn ich das Risiko, unstylish zu wirken mit dem Risiko vergleiche, stylish früh zu sterben, nehme ich jederzeit unstylish in Kauf. Das beste Argument gegen das Helmtragen hörte ich einmal von einem Zivildienstleistenden, der sich über mich lustig machte. Sein Hobby war Cross-Country-Mountainbiking.
„Höhö“, sagte er, „ich fahre wirklich jedes Wochenende Fahrrad. Durch den Wald, durch die Berge, im Gelände. Ich habe mir so ziemlich schon alles gebrochen, was man sich brechen kann, aber niemals den Kopf. Ist doch voll sinnlos so ein Helm.“ In seinem Fall habe ich das sogar eingesehen, schob ihm aber dafür einen Organspendenausweis zu. Ich hatte keine Lust, ihm zu erklären, dass man sich durchaus dreimal beim Radfahren seinen Arm brechen kann und ein paar Wochen später wieder auf dem Sattel sitzt, dass es aber bei Schädel-Hirn-Traumen in der Regel anders läuft.
Was ist der Sinn meiner Rezensenten, was wollen sie von mir? Warum wünschen sie sich, dass ich helmlos durch die Stadt fahre, oder den Helm doch zumindest auf kurzen Strecken absetze? Wünschen sie mir den indirekten Tod? Ich will es zugunsten der vielen Kommentatoren nicht glauben. Ich glaube mittlerweile, dass mein Helm sie unangenehm an die Zerbrechlichkeit ihrer Schädel erinnert und dass es ihnen daher lieber wäre, ich würde ihnen den Blick in diesen Spiegel ihrer Zerbrechlichkeit ersparen. Von mir aus sollen sie glauben, dass ihnen beim Radfahren nichts passieren kann, schließlich müssen die Unfallchirurgen auch von irgendetwas leben. Aber das ist ein weiteres brüchiges Glaubenssystem, für das ich keinen Preis zu entrichten bereit bin.
@burba, naja, der kommentierte artikel unterstellt dummheit bei nicht-helmträgern, da nimmt man automatisch die gegenposition ein. Insbesondere dann, wenn man sich über eine helmPFLICHT vorher aus gegebenem anlass (Gerichtsurteil zum unfall ohne helm) eh schon seine gedanken gemacht hat.
davon ab lässt der leicht eingeschnappte und rechtfertigende ton des artikels darauf schließen, das der autor selbst ein wenig zweifelt, ob er nicht tatsächlich das helmtragen mit coolnessverlust bezahlt.
es passt nicht mehr wirklich in die zeit (und ist auch nicht wirklich ok), aber männer mit gesteigertem sicherheitsbedürfnis werden schon immer leicht amüsiert von der seite angesehen. da steht man dann drüber oder man passt sich an, aber mit gekränktem rechtfertigen macht man es noch schlimmer.