Es ist mir ein Rätsel, warum fast alle meiner russischen Freundinnen Olga heißen. Es gibt so schöne russische Namen wie Glaube (Vera), Liebe (Ljubow) und Hoffnung (Nadeschda). Aber während die ostdeutschen Mütter in den siebziger und achtziger Jahren ihre Töchter Sandy, Mandy oder Kathleen nannten, entschieden sich offensichtlich besonders viele russische Mütter zur gleichen Zeit für Olga, die slawische Variante von Helga. Vielleicht waren es auch nur besonders viele Mütter von Töchtern, die später in Berlin leben würden, oder nur besonders viele Mütter von Töchtern, die später mit einem bestimmten Berliner befreundet sein würden. Das Ganze ist nicht statistisch, sondern subjektive Empirie.
Die vier mir bekannten Olgas sind jedenfalls gebildet, vielsprachig, lustig und attraktiv. Die Olga, um die es hier gehen soll, ist in Usbekistan aufgewachsen, so etwas wie eine Pseudemokratie. Obwohl es offiziell freie Wahlen gibt und der Präsident nur einmal wiedergewählt werden darf, gibt es dort seit 1989 den selben Machthaber (erst als oberstes Mitglied der KPdSU und dann als Führer eines unabhängigen Usbekistans). Eine nationale Besonderheit des Wahlkampfs besteht darin, dass sich die Oppositionskandidaten für die Wiederwahl des offensichtlich auf Lebenszeit amtierenden Präsidenten aussprechen. Liebenswürdigerweise hat mir Olga von einem Aufenthalt in ihrer Heimat einmal eine Tjubetjeka mitgebracht. Olga und diese schönen Mützen sind vermutlich das einzig Positive, was man von diesem Land berichten kann. Wäre Usbekistan nicht strategisch so günstig gelegen, würde man hierzulande auch mehr von seinem erratischen Regime und den extrem problematischen politischen Verhältnissen lesen.
Mit genannter Olga jedenfalls bin ich Silvester 2019 verabredet. Wenn an diesem Tag der neue Flughafen Berlin Brandenburg eröffnet ist, muss ich eine Kiste Champagner zu der Verabredung mitbringen, sonst muss sie schleppen. Das liebe ich an den Russen: Man muss nicht groß überlegen, wenn man wettet, geht es um eine Kiste Champagner, fertig.
In der Planung dieser Feier ging es dann auch um das Essen. Hier würde einfach jeder etwas mitbringen. Olga irgendwelche Sakuski und wir würden uns um den Nachtisch kümmern. Da meine Frau sehr gut backen kann, schlug ich ihre Spezialität vor.
„Wir könnten einen Zupfkuchen mitbringen“, sagte ich.
„Ja“, rief Olga, „das wäre schön. Ich habe schon so viel von diesem Zupfkuchen gehört, ihn aber noch nie gesehen.“
„Das ist ein Quarkkuchen mit Schokostreuseln. Viele nennen ihn sogar Russischen Zupfkuchen“, sagte ich.
„Ich weiß, aber in Russland kennen wir so einen Kuchen überhaupt nicht. Es gibt bei uns nicht mal Quark.“
Das ließ mich aufhorchen. Tatsächlich fragen sich viele, warum dieser Kuchen den Beinamen russisch trägt und es finden sich viele unbefriedigende Antworten dazu. Und es gibt es sogar Quellen, die den betreffenden Kuchen als „deutschen Kuchen“ in russischen Bäckereien gesehen haben wollen.
Meine Frau hat das Rezept für ihren köstlichen Zupfkuchen von ihrer Suhler Oma und es würde mich wundern, wenn sich Thüringer Bäckerinnen Rezeptvorschläge aus Russland geholt hätten. Überhaupt isst die Familie den Kuchen schon lange und erst seit den 1990er Jahren sagte vor allem der Westbesuch an der Kaffeetafel plötzlich mit Kennermiene: „Ahh – russischer Zupfkuchen!“
Klar ist, dass das „Zupf“ im Kuchen von der Herstellungsart der Streusel rührt, die aus dem gleichen Teig wie der Kuchenboden gefertigt sind. Aber geographische Erklärungen zum Zupfkuchen fand ich auch nicht beim Stöbern in historischen Koch– und Backbüchern der letzten Jahrhunderte, die sonst aber sehr lustig und lesenswert sind. Und das Deutsche Kochbuchmuseum ist leider derzeit geschlossen und seine Bibliothek nicht online.
Ich kannte das russisch nur von der Packung der Dr. Oetker-Backmischung und von einem Werbespot, in dem das Russische des Kuchens beschworen wurde (und in dem die Haushälterin übrigens auch Olga heißt):
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=aEVQOgxAKvg[/youtube]
Also fragte ich mich: hat Dr. Oetker das „russisch“ vielleicht einfach erfunden? Also tat ich mal wieder etwas zum ersten Mal in meinem Leben: Ich wandte mich an den „Dr. Oetker Back-Club“. Und erhielt dort eine verblüffend vollständige Antwort:
<service@oetker.de> hat am 3. Februar 2014 um 14:36 geschrieben:
Sehr geehrter Herr Hein,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die wir gerne beantworten.
Die Backmischung Russischer Zupfkuchen wurde von Dr. Oetker ab Januar 1993 angeboten. Zu anderen Anbietern oder Angeboten können wir leider keine Auskünfte geben.
Der Kuchen hat seinen Ursprung keineswegs in Russland. Das Rezept erhielten wir im Rahmen eines Rezeptwettbewerbs des Dr. Oetker Back-Clubs. Der „Russische Zupfkuchen“ wurde bei diesem Wettbewerb in sehr vielen Arten und Weisen als Rezept eingereicht. Daraus wurde dann im Nachgang unsere Backmischungs-Variante. Der Name rührt von den dunklen Teigzupfen, die oben auf die Käsemasse aufgesetzt werden. Diese erinnern ungebacken an die Turmspitzen von russischen Kirchen. Wir hoffen, dass wir Ihnen mit diesen Informationen weiterhelfen können.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. August Oetker Nahrungsmittel KG
So. Das war’s. Das Geheimnis zahlreicher Internet-Foren und eines der wenigen Probleme, die bisher noch nicht mal Wikipedia beantworten konnte, ist gelöst. Mit der Veröffentlichung dieser Informationen hier waren sie übrigens auch einverstanden.
Also: Das „russisch“ im Zupfkuchen wurde 1992 in Bielefeld erfunden und ab 1993 per erfolgreicher Werbung ins deutsche Bewusstsein gebeamt. Woher der Kuchen tatsächlich kommt, bleibt unklar, ich tippe aber weiterhin auf das Epizentrum der Backkunst: irgendwo in einem 500 km – Umkreis um das Biosphärenreservat Šumava.
Spätestens Silvester 2019 werde ich Olga vom „Bielefelder Zupfkuchen“ erzählen, spätestens wenn wir zusammen Wodka trinken, denn so enden Feste mit Russen immer, das ist ein Klischee, aber auch wahr.
Diese Frage ist gelöst. Nur eine Frage bleibt: Warum heißen fast alle Russinnen Olga?
Wird hier ja doch erneut spannend. Toll. Ich dachte, das mit dem Zupfkuchen lässt sich nicht abschließend herausfinden und die Forschung/Recherche ist hier vorerst die weiteste im Web und an ein Ende gekommen.
Rassismus-Vorwurf nicht ausgeräumt. Okai, interessant. Jan, gibt es für Sie die Kategorie Nationalität? Wie unterscheidet sie sich für Sie gegenüber Rassismus?
Als jemand, der sich mit russischer Geschichte auseinandergesetzt hat und der weiß, wie multikulturell Russland/vorher die Sowjetunion/vorher das Russische Kaiserreich immer gewesen ist, sehe ich in Jakob Heins Beschreibungen keine rassistischen Zuschreibungen.
Mögen Sie auch kein Bier? Ich jedenfalls nicht. Schmeckt nicht, umständlich, schlecht für Sex, gibt Besseres. Würde ich mich im Urlaub in Italien als rassistisch angegangen empfinden, wenn mir ein Mensch dort mit einem Schmunzeln die Assoziationen Bier, Brezel und Weißwurst vorbringt? Sicher nicht. Das sind international bekannte Marken aus der „deutschen Küche“. Ebenso wie Wodka eine geschützte, aufwendig umworbene Marke aus dem geographisch abgegrenzten Gebiet namens Russische Föderation ist. Teil der „russischen Küche“.
Ich sah übrigens erst vor Kurzem eine Doku über das Problem Alkohol in diesem Teil der Erde. Die Hälfte der männlichen Bevölkerung erreicht die 60 nicht aufgrund von Alkohol. Alkohol mit Wodka als bekanntester Marke prägt das Land durchaus.