Anfang Juni hüpfte in Stolberg bei Aachen in Nordrhein-Westfalen ein Känguru durch die Stadt. Es sorgte dadurch für einiges Aufsehen, zumindest bei den Stolbergern, die ihm angesichtig wurden. Panik brach allerdings nicht aus – die Beuteltiere, zumal die eher knuddelig-kleine Variante in Form des Bennett-Kängurus, gelten nicht gerade als blutrünstig. Der Halter des ungewöhnlichen Haustieres war fix ermittelt, allzu hoch dürfte die Stolberger Känguru-Population auch nicht sein. Der holte seinen Pflegling rasch wieder ab, entschuldigte sich für den Zwischenfall, und damit wäre die Sache eigentlich mit einer abschließenden Meldung auf der Vermischtes-Seite der Lokalzeitung erledigt gewesen.
Nun ist der Halter des Stolberger Bennett-Kängurus nicht irgendjemand mit einer absonderlichen Obsession für Australien oder Tragetaschen, sondern ein Biologe und ausgewiesener Fachmann für exotische Säugetiere. Seit über 30 Jahren hält Ralf Sistermann allerlei Tiere, die nicht ins Heimtierschema des deutschen Tierschutzes passen, er veröffentlicht seine Beobachtungen, schreibt Bücher und arbeitet mit Zoos zusammen. Als die Kunde des entsprungenen Kängurus über den Polizeiticker nach außen drang, meldeten sich einige Pressevertreter bei ihm, um die Hintergründe der Geschichte zu erfahren. Sistermann sagt, er habe nichts zu verbergen, und lud die Journalisten zu sich ein, auf dass sie die Tiergehege auf seinem Grundstück besichtigen und ihn dazu befragen könnten. Darunter befand sich auch Birgit Begass von der „Bild“-Zeitung. Das Treffen schildert Sistermann so: „Zu dem vereinbarten Termin erschienen eine Reporterin der BILD-Zeitung nebst Fotograf. Ich zeigte ihnen meine Anlage. Während des gesamten Besuchs betonte die Reporterin der BILD-Zeitung, wie toll sie die Anlagen finde und dass es lobenswert sei, dass ich auch verwaiste Wildtiere aufnehme und großziehe. Dies wolle sie in ihrem Artikel auch darstellen.“
Das tat sie dann auch am folgenden Tag für die „Bild“-Zeitung. Nämlich so: „Ein ganz kleiner Garten. Darin heruntergekommene, alte Holzbaracken. In verdreckten Mini-Gehegen irren Nasenbären, Präriehunde, Erdmännchen, Stinktiere, Waschbären und Raubtiere, wie Ginsterkatzen, herum. Es stinkt bestialisch nach Kot und Urin. Dieser seltsame „Privat-Zoo“ gehört Ralf Sistermann (42). Dem Biologie-Lehrer war am Dienstag ein Känguru aus dem Garten getürmt. JETZT ERMITTELT DAS VETERINÄRAMT GEGEN DEN TIER-LIEBHABER.“ (Großschreibung selbstverständlich so im Original) „BILD-Reporter waren vor Ort: Chinesische Zwerghirsche rennen panisch in einer kleinen Ecke rauf und runter. Känguru „Jumper“ haust auf wenigen Quadratmetern ganz allein, alles gesichert von einem Stromzaun.“ Das klingt nach katastrophalen Zuständen. Etwas irritierend ist dabei höchstens, dass auf den immerhin fünf dazu gezeigten Bildern von all dem nichts zu sehen ist. Da erkennt man vielmehr recht großzügige Gehege, die fachgerecht eingerichtet und gepflegt wirken. Die dort gezeigten Tiere sehen eigentlich eher ganz gut gelaunt aus, ein paar Nasenbären knabbern gemütlich an einer Banane, die Sistermann ihnen vorhält. Aber was weiß man schon über so seltsame Tiere, und wenn die „Bild“ schreibt, dass es dort stinkt, dann wird es schon so sein – mit dem Geruch der Kloake zumindest kennen die Zeitung und ihre Mitarbeiter sich ja eigentlich bestens aus.

Pech für „Bild“-Frau Birgit Begass war jetzt nur, dass das WDR-Fernsehen ihre Skandal-Meldung so interessant fand, dass es für seine Sendung „Lokalzeit aus Aachen“ ein eigenes Reporterteam losschickte. Erstaunlicherweise ließ Sistermann selbst nach dem „Bild“-Bericht noch Reporter bei sich ein – der Mann hat offenbar tatsächlich ein großes Herz selbst für abseitigste Geschöpfe. Die WDR-Leute nun machten sich allerdings ihr eigenes Bild und berichteten (der Beitrag ist online leider nicht mehr abrufbar), dass die Gehege größer seien, als in den „Mindestanforderungen an die Haltung von Säugetieren“, der betreffenden Richtlinie u. a. für Zoos, gefordert. Auch von bestialischem Gestank konnten sie anscheinend nichts bemerken, wenn Sistermann auch zu Protokoll gibt, dass die dort gepflegten Tiere nun einmal durchaus einen recht markanten Eigengeruch haben – wer schon mal mit diversen Wildtieren zu tun hatte, für den dürfte das keine besondere Überraschung sein. Aber natürlich sind auch WDR-Reporter keine Tier-Spezialisten, und so befragten sie anschließend noch den Vertreter der zuständigen Behörde, die laut Bild-Zeitung ja nun gegen Sistermann ermittle. Der allerdings sagt nun vor laufender Kamera, dass er überhaupt keine Bedenken habe. Es sei zwar aufgrund der ersten Meldungen eine Anzeige von Tierschützern eingegangen, die er nun eben routinemäßig überprüfen müsse. Aber, so der WDR-Beitrag, „einen Änderungsbedarf sieht das Kreisveterinäramt nicht. Die Vorwürfe, wonach die Tiere unter skandalösen Bedingungen gehalten würden, kann die Behörde nicht nachvollziehen.“ Ihr Mitarbeiter Uwe Zink sagt vielmehr im Interview: „Es ist so, dass wir da schon häufiger waren, der Mann ist uns seit über 30 Jahren bekannt, und bisher ist alles ordnungsgemäß, es gibt keine Beanstandungen. Ich sehe im Augenblick keinen Grund, da tätig zu werden.“ Nur zum Vergleich die Überschrift des Bild-Artikels: „Veterinär-Amt ermittelt gegen Tier-Liebhaber“. Und die Bildunterschrift zu einem Foto von Sistermann samt Nasenbär: „Ralf Sistermann (42) mit einem seiner drei Nasenbären. Er sagt, dass er die Tiere „befreit“ habe. Das Veterinäramt sieht das anders.“
Die Bild-Zeitung bietet im Internet übrigens einen praktischen Service an, den sie direkt unter dem Känguru-Artikel anpreist: dem „Thema folgen“: „Ihr persönliches BILD.de: Folgen Sie diesem Thema und verpassen Sie keinen neuen Artikel.“ Das Thema, dem man unter dem Känguru-Artikel folgen kann, lautet: „Tierquälerei“.
Lustige Kängurus hin, seltsame Nasenbären her: Es bedarf nicht allzu viel Fantasie, sich auszumalen, was es für die Existenz eines Biologie-Lehrers und Fachjournalisten bedeuten könnte, plötzlich öffentlich als Tierquäler gebrandmarkt zu werden. Und wie Nachbarn in einer westdeutschen Kleinstadt es so finden, wenn sie in der Zeitung lesen, neben heruntergekommenen, bestialisch stinkenden Verhauen mit wilden Tieren zu leben, kann man sich auch leicht denken. Glücklicherweise scheint Sistermann über eine robuste Psyche zu verfügen, und sein Fach-Renommee ist offenbar so groß, dass für ihn offenbar keine konkreten Folgen drohen, wozu allerdings sicherlich nicht unerheblich der WDR-Film beigetragen haben dürfte. Was die Angelegenheit für andere Menschen in vergleichbaren Situationen bedeutet hätte, die nicht gerade zufällig das Glück haben, dass der Lokalsender gleich ein Kamerateam losschickt, um die „Bild“-Anwürfe zu überprüfen, kann man sich ebenfalls leicht ausmalen.
„Bild“-Frau Birgit Begass wird es egal sein. Was soll man zu einer solchen Frau sagen, ohne gleich im justiziablen Bereich zu landen? Ich weiß es nicht. Aber Sie, liebe Leser, verpassen Sie keinen neuen Text von mir und folgen Sie meinem Thema: „Moralisch verwahrloster Journalismus“.
@Herta: Seitdem habe ich nie wieder eine taz gekauft und werde das auch künftig nie wieder tun. Dieses Blatt ist mittlerweile auf einer Stufe mit den Springerblättern – es wäre eine Beleidigung für jeden toten Fisch, würde er darin eingewickelt werden!
Was die Bild allerdings noch schlimmer macht, kann man in obigem Artikel lesen: sie lügt sich rücksichtslos eine „Wahrheit“ zusammen, die in ihr Weltbild passt.