Sehr geehrte Herren,
mit größtem Bedauern haben wir die Nachricht aufgenommen , dass Sie mit unseren Umstrukturierungsbemühungen der Bundesrepublik Deutschland noch nicht ganz zufrieden sind. Es ist richtig, dass die heutige BRD noch nicht gänzlich das Vorbild der Deutschen Demokratischen Republik umgesetzt hat. Immer noch herrschen teilweise Meinungsfreiheit und pluralistisches Chaos. Aber Sie, sehr geehrte Genossen, tun uns schon sehr unrecht, wenn Sie unsere vielfältigen Bemühungen und auch Erfolge beim Aufbau einer um einer sozialistischen Einheits-BRD nicht anerkennen würden. Bitte denken Sie daran: Die Wiedereröffnung der kubanischen Botschaft in Washington wurde auch nicht an einem Tag umgesetzt.
Punkt 1
Wir machen große Fortschritte in Bezug auf die Reisefreiheit. So konnten wir die Bauarbeiten am zentralen Verkehrsprojekt der Hauptstadt der BRD und auch der größten Stadt Deutschlands ins Unendliche verzögern. Wenn Flugzeuge in Schönefeld landen, gestern, heute oder morgen – dann geschieht das nur auf dem unter der Führung der SED erbauten Flughafen. Noch kein einziges Flugzeug hat hingegen auf dem pompösen BRD-Projekt BER abgehoben – und das wird auch in der mindestens in der Periode des kommenden 5-Jahres-Planes so bleiben. Versprochen.
Weitere Fortschritte machen wir auch bezüglich der generellen Akzeptanz der Reisefreiheit in der Bevölkerung. So berichten praktisch alle Medien derzeit von Flüchtlingen nicht mehr in der christlich beeinflussten Art von Mitleid und Nächstenliebe, sondern die Sprachregelungen „Flüchtlingsströme“, „Flüchtlingskrise“ und „Ausländerproblematik“ werden weitgehend einheitlich umgesetzt. In einem nächsten Schritt sollen alle Länder der Welt zu sicheren Drittstaaten erklärt werden, sogar solche, in denen die Bundeswehr derzeit Militäreinsätze durchführt. Dies alles klingt zunächst sehr technisch, hat aber den Sinn, hinterher aber die Absicherungsbemühungen gegen sichere Drittstaaten der Bevölkerung politisch erklären zu können. Denn wenn die Flüchtlingskrise anhält, obwohl man den Rest der Welt für sicher erklärt hat – was kann dann noch helfen, um die Flüchtlingsströme zu beenden? Richtig – die Sicherung der Staatsgrenze durch geeignete, auch bauliche Maßnahmen. Wir sind an der Stelle sogar schon weiter als wir 1961 in der DDR waren. Für den Satz „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ würde man als CSU-Politiker derzeit sehr viele Wählerstimmen verlieren. Auch stößt der Tod von Menschen an der EU-Außengrenze auf wesentlich größere Akzeptanz in der Bevölkerung als dies vor der so genannten Wende der Fall war. Was direkt zu Punkt 2 führt.
Punkt 2
Die Entwicklung der Medien ist insgesamt überaus erfreulich zu nennen. Durch die Abschaffung von Korrespondenten beruht die Berichterstattung vor allem auf der Wiedergabe von Pressemitteilungen einerseits und der Wiedergabe der Berichterstattung anderer Presseerzeugnisse andererseits. In jedem Fall macht die Vereinheitlichung der Berichterstattung große Fortschritte. Rasch können Gute und Böse bei jeder Art der Nachricht identifiziert werden. Die Rollen können auch beliebig ausgewechselt werden. So werden langjährige Partner plötzlich zu irren Herrschern, Islamisten sind einmal die größte Menschheitsgefahr und dann wieder unser wichtigster Partner in der Region, der mit Waffen beliefert werden muss – schon in unserem ureigensten Interesse.
So gibt es eine sehr umfangreiche Berichterstattung über Internetbeiträge irgendwelcher Schauspieler oder über Fernsehsendungen. Im Idealfall beschäftigte sich die Fernsehsendung, über die berichtet wird mit Internetbeiträgen irgendwelcher Schauspieler. Das Bevölkerungsinteresse für diese Art von Meldungen ist erfreulich. Wir müssen kritisch einschätzen, dass unsere Berichterstattung über Ernteerfolge und die Steigerung der Industrieproduktion auf nicht annähernd so großes Interesse stieß. Unsere Vermutung, dass diese Berichte für die Allgemeinheit ansprechend sein könnten, weil es dabei unmittelbar um die Lebenswirklichkeit der Menschen ging, muss heute selbstkritisch als falsch zurückgewiesen werden. Hätten wir damals schon gewusst, dass das Leben irgendwelcher Schauspielerinnen die Menschen derart in den Bann schlagen kann, hätten wir diese Art der Berichterstattung unter erheblichen Kostenersparnissen realisieren können.
Punkt 3
Die Akzeptanz der Bevölkerung und der Medien für geheimdienstliche Arbeit konnte auf unvorhersehbare Raten gesteigert werden. Die Offenlegung der lückenlosen Überwachung aller Kommunikation der Bevölkerung bis nach oben zu seiner obersten Repräsentantin durch ausländische Geheimdienste stößt auf so etwas wie mildes Desinteresse. Die überwiegende Mehrheit ist überzeugt, ohnehin keine geheimdienstlich relevanten Informationen zu produzieren und hat daher keine Einwände gegen Überwachung. Hier können wir uns nur postum vor dem Genossen Mielke verneigen, der immer wieder als Maßnahme gegen die Ablehnung der weitgehenden Überwachung der Bevölkerung eine noch weitgehenendere Überwachung gefordert hatte. Damals erschien dieser Vorschlag geradezu paradox – heute muss er visionär genannt werden.
Sehr erfreulich ist auch die Entwicklung der westdeutschen Justiz in Bezug auf Auswüchse der Pressefreiheit. So konnten kürzlich erstmals so genannte Blogger-Journalisten wegen dem Verrat von Staatsgeheimnissen verfolgt werden. Leider mussten die Ermittlungen wieder eingestellt werden, aber der zukünftigen Verfolgung von Journalisten wegen kleinerer Delikte sollten damit die Türen geöffnet worden sein. Auch ist es wichtig, das richtige Klima zu schaffen. Der Angriff auf den Computerserver des Bundestages ist ein technisches Problem, die Veröffentlichung von Dokumenten durch Journalisten wird von der Bundesanwaltschaft verfolgt.
Punkt 4
Der Sinn eines Vielparteiensystems wird immer offener hinterfragt und die Entwicklung zu einer Staatspartei, unter deren Führung sich die anderen Blockparteien zu einer Nationalen Front zusammenschließen schreitet unaufhörlich voran. Insgesamt ist die Zustimmung zu den sogenannten freien Wahlen extrem gering und nur durch Zusammenschluss der beiden größten Parteien gelingt es überhaupt noch, eine Mehrheit der Bevölkerung durch die Regierung vertreten zu lassen. In diesem Block ist die Führung durch eine Partei und vor allem deren Parteivorsitzender völlig unumstritten. Die unter ihr arbeitenden Minister sind in ihren Parteizugehörigkeiten nur noch dadurch erkennbar, dass diese immer wieder genannt werden, sonst wüsste man gar nicht, aus welcher Partei die Ministerin stammt, die Gewerkschaften für kleine Berufsgruppen abschaffen will und aus welcher Partei die Ministerin, die mindestens zwei zusätzliche Freimonate für Väter von Neugeborenen als Gesetz entworfen hat. Nun hat schon der Bezirkssekretär der SPD Nordwesten angeregt, dass diese Gruppierung keinen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen soll. Darüber hinaus sollen die Abgeordneten des Bundestages verstärkt als Block auftreten und nicht mehr individuelle Meinungen vertreten dürfen. Gerade in dieser Hinsicht ist die Entwicklung schon sehr erfreulich fortgeschritten.
Punkt 5
Auch bei der Gestaltung der Unterhaltung für die Bevölkerung sind wir sehr weit fortgeschritten. Verschiedene Abwandlungen von „Aktueller Kamera“, „Ein Kessel Buntes“ und „Polizeiruf 110“ dominieren das Fernsehprogramm. Auch die lang angestrebte 60/40-Quote für einheimische Musik ist überwiegend erreicht, häufig sogar übertroffen. Tanzmusik deutscher Musikkapellen dominiert die Musik in Radio und Fernsehen. Lobend erwähnt sei besonders die Genossin Jelena Petrowna Fischer aus Krasnojarsk, die wie keine andere die Hitparaden und die Herzen der Bevölkerung erobern konnte.
So meinen wir, doch einige Erfolge vorweisen zu können und hoffen, auch weiterhin Ihr Vertrauen bei unserer mühevollen Arbeit genießen zu dürfen. Einheitspartei, Reisefreiheit, Pressefreiheit, flächendeckende Spionage – wenn wir jetzt noch den Zustrom an Südfrüchten mindern können, nähern wir uns sicher bald der letzten Phase unserer Bemühungen und können Sie, Genossen, bald wieder direkter in unsere Planungen einbeziehen.
Mit sozialistischem Gruß,
Hah! Hatte ich doch geahnt: Honnecker & Friends waren nie wirklich weg. Die haben sich nur versteckt …
Schöner, ironisch-kritischer Text!