In der Nacht zum 18. Oktober 1977 gelingt der GSG 9 im somalischen Mogadischu die Befreiung der von palästinensischen Terroristen entführten Lufthansa-Maschine Landshut. Mit der Geiselnahme sollten in Deutschland inhaftierte RAF-Häftlinge freigepresst werden. Um 0.38 Uhr meldete der Deutschlandfunk die erlösende Nachricht. Daraufhin kamen im Stuttgarter Hochsicherheitsgefängnis Stammheim die in Isolationshaft gehaltenen Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe zu Tode, Irmgard Möller war von Messerstichen in die Herzgegend schwer verletzt, überlebte letztlich aber. Sie sprach später von einem Mordanschlag, die offiziellen Untersuchungsergebnisse dagegen kamen zum Schluss, dass die Häftlinge kollektiv verabredeten Selbstmord begingen.
Mit der „Todesnacht von Stammheim“ fand der Deutsche Herbst 1977 seinen Höhe- wie Schlusspunkt, die Nachbeben aber beschäftigten das Land noch lange. Genau genommen: bis heute. Da ist er nämlich wieder, „der rote Schatten“, passend zum vierzigjährigen Jubiläum der blutigen Ereignisse zur besten Sendezeit in der ARD als TATORT, natürlich vom in Stuttgart ansässigen SWR. Terror als Lokalkolorit. Mit Dominik Graf verpflichtete der Sender einen Ausnahme-Regisseur, der auch am Buch mitgeschrieben hat und dessen blanke Beteiligung an dem Projekt die ohnehin garantierte Aufmerksamkeit auch gleich noch mit Bedeutung auflädt, denn Graf-Filme sind halt nicht irgendwelche TATORTe. Und, so viel kann schon jetzt gesagt werden, das ist er auch wirklich nicht.

Stuttgarter Herbst 2017
Vierzig Jahre sind eine lange Zeit. Inzwischen ist das Land zwei Generationen weiter, und diejenigen, die die Ereignisse damals miterlebten, nähern sich dem Rentenalter oder sind dort längst angelangt. Nun haben Terroristen naturgemäß gewisse Schwierigkeiten mit der Altersvorsorge, sodass einer der bizarreren Aspekte der RAF-Geschichte darin besteht, dass die ehemaligen Revolutionäre heute gelegentlich Banken oder Geldtransporter überfallen, um ihr Altenteil zu sichern.
So nehmen die Geschehnisse im Stuttgarter Herbst 2017 ihren Lauf. Während die Kamera über die nächtlichen Lichter des Kessels streift, hören wir eine pathetische Erklärung, die Gudrun Ensslin zur Rechtfertigung des RAF-Terrors einst vor Gericht verkündete: „Ich sehe nicht ein, warum man das, was man jahrhundertlang getan hat und als falsch erkannt hat, weiter tun sollte. […] Aber ich will etwas getan haben dagegen.“ In der Nacht heute allerdings tun ihre damaligen Gesinnungsgenossen etwas ganz anderes. Während sie auf einen Geldtransporter warten, sehen wir noch einmal die Bilder von der Beerdigung Baaders, Ensslins und Raspes, der junge Otto Schily trottet den Särgen hinterher, Rudi Dutschke schwört am Grab: „Der Kampf geht weiter!“
Im anschließenden Morgengrauen klingelt bei der von einer Liebesnacht noch benommenen Staatsanwältin Alvarez das Handy, der Oberstaatsanwalt am anderen Ende der Leitung ist ebenfalls noch nackig. Offenbar hat es höchste Dringlichkeit, dass er ihr eine Botschaft übermittelt. Denn gerade sind die Kommissare Lannert und Bootz zu einem merkwürdigen Szenario auf einer Landstraße gerufen worden. Im Licht des frühen Morgens steht ein verunfalltes Auto, in dessen Kofferraum eine tote Frau liegt – die offenbar bereits Bekanntschaft mit der Pathologie gemacht hatte, wie die Ganzkörpernaht zeigt. Ihr Ex-Mann hatte sie aus der Kapelle entführt, um sie in Frankreich noch einmal obduzieren zu lassen, da er überzeugt davon ist, dass sie Opfer eines Verbrechens wurde. Die Staatsanwaltschaft aber erkannte auf Selbstmord und stellte die Ermittlungen ein. Der Anruf des Oberstaatsanwalts an die zuständige Alvarez diente der Sicherstellung, dass es dabei bitteschön auch zu bleiben habe.

Natürlich ermittelt das Trio jetzt erst recht, und bald schon konzentrieren sich die Nachforschungen auf den letzten Lover der angeblichen Selbstmörderin, der 1977 als V-Mann des Verfassungsschutzes geführt wurde und nebenher auch noch eine amouröse Beziehung zu einer ehemaligen, bislang nicht gefassten RAF-Terroristin unterhält. Alte Liebe rostet so wenig wie gute Waffen.
Todesnacht von Stammheim
Was sich dann im Zuge der Ermittlungen ergibt, ist ein dichtes Gespinst an Fäden, die in jenen Deutschen Herbst zurückreichen und auf die Kernfrage zusteuern: War die Todesnacht von Stammheim tatsächlich der kollektive Selbstmord, den die inhaftierten Terroristen unverständlicherweise unbemerkt vorbereiten, verabreden und durchführen konnten, wie die offizielle Version staatlicherseits heute lautet, die auch von der Mehrheit der journalistischen Beobachter geteilt wird? Oder ließ man sie absichtlich gewähren, wie viele andere noch heute annehmen, die ebenfalls mit der Materie intensiv befasst waren, darunter der ehemalige RAF-Anwalt Ströbele und der Ex-Terrorist Dellwo? Oder war es gar Mord, vom Verfassungsschutz kaltblütig durchgeführt, wie zahlreiche Verschwörungstheoretiker und eben auch die Herzzeugin Möller nicht müde wurden zu behaupten? „Das sind alles Enden einer Geschichte, die keinen Abschluss hat“, sagt ein ehemaliger Verfassungsschützer zu Kommissar Lannert. Graf ist schlau genug, sich nicht festzulegen, stattdessen spielt er in fast obszön realistisch nachgestellten Szenen die Varianten durch und schafft damit eine verstörende Bebilderung der Nacht von Stammheim im täuschend echten Retro-Look.
Wie der Film sowieso nichts ist für Freunde gerader, linearer Erzählungen und maßvoll eingesetzter Schnitte. Die Handlungsebenen springen in einem fort durcheinander, 1977 und 2017 werden kunstvoll ineinander verwoben, wir sehen die Beteiligten damals und heute, gefangen in einem Netz aus Verblendung, Fanatismus, Intrigen und beidseitiger Hybris. Mittendrin ein neben der Spur laufender V-Mann, der als „Diener zweier Herren“ auf beiden Seiten spielt, schon damals unter Claus Peymann (noch so ein historischer Bezug) im Schauspiel Stuttgart, den Hut aus der Zeit hütet er wie seinen Augapfel. Ansonsten lebt er von Hartz IV, weil er spielsüchtig ist und auch sonst ein problematischer Charakter – zahlreiche misshandelte Liebhaberinnen pflastern seinen Lebensweg. Trotzdem wird er offenkundig bis heute gedeckt vom Verfassungsschutz. Weil er eine Schlüsselfigur war, die die staatliche Version der Selbstmord-These entscheidend stützte, indem er aussagte, dass die Waffen per manipulierten Aktenordnern in die Stammheimer Zellen geschmuggelt worden waren, obwohl das gar nicht stimmte? Oder nur, wie später der Verfassungsschutz behaupten wird, weil er sie zur noch immer gesuchten Terroristin führen sollte?

Gemeinsame Sache mit den Feinden
„Der rote Schatten“ ist extrem dicht gepackt, geradezu überladen. Es hätte dem Film zweifellos gut getan, wenn er mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätte. Um ins 90-Minuten-Format zu passen, waren etwas unelegante Verdichtungen nötig: So wirkt der Dialog zwischen Lannert und Bootz, als der alte Haudegen dem jungen Kollegen die damalige Stimmung zu vermitteln versucht, ähnlich holzhammermäßig wie die historischen Schnellkurse in den Gesprächen zwischen Lannert und einem Journalisten sowie dem schon erwähnten pensionierten Verfassungsschützer. Trotzdem erstickt der Film nicht an seiner Last, was nicht zuletzt an den geschickt eingesetzten Rückblenden liegt und daran, dass die Kommissare ruhig und konzentriert durch die geballte Ladung von Handlungssträngen geleiten. So ist ein packender Verschwörungsthriller entstanden, der ironischerweise das historische Rätsel um fragliche Selbstmorde an einem fraglichen Selbstmord der Gegenwart aufhängt – und schließlich sogar spiegelt. Denn am Ende, so viel sei verraten, sehen wir wieder mehrere Enden einer Geschichte, die offenbar noch immer keinen Abschluss hat.
Zumal sie mit anderen Vorzeichen auch in der Realität immer weiter geht. Denn wie war das noch gleich mit den V-Leuten im Umfeld des NSU? „Warum macht der Staat gemeinsame Sache mit seinen Feinden?“, sagt der pensionierte Verfassungsschützer im Zwiegespräch mit Lannert, und diese Frage darf man wohl als eigentliche Essenz von Grafs ambitioniertem, vielschichtigem Stück verstehen. „Aber das war ja schon immer so“, resigniert der Mann gleich darauf. Besonders optimistisch ist das alles wahrlich nicht.