vonHeiko Werning 03.11.2017

Reptilienfonds

Heiko Werning und Jakob Hein über das tägliche Fressen und Gefressenwerden in den Wüsten, Sümpfen und Dschungeln dieser Welt.

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Ein Albtraum wird Wirklichkeit: Die Frau des Filialleiters einer Bank in der niedersächsischen Provinz wird am hellichten Tag auf einem Waldweg aus ihrem Auto heraus entführt. Die Täter fordern innerhalb weniger Stunden ihr Lösegeld. Der Filialleiter misstraut der Polizei und will die Geldübergabe selbst in die Hand nehmen, doch die Sache geht schief. Ein Nervenkrieg beginnt, mit bangem Warten auf ein Lebenszeichen vom Opfer – während zunehmend der Mann der Entführten selbst ins Fadenkreuz der Ermittler rückt.

Der TATORT hat schon einen Lauf derzeit. RAF-Terror mit politischer Großdiskussion, Porno-TATORT mit schäumender Boulevardpresse, die die nassen Unterhöschen fremder Leute lieber exklusiv im eigenen Blatt zu Geld machen möchte, Horror-Ermittlungen gegen leibhaftig gewordene Geister, und am Ende kommt bestimmt auch bald wieder ein Murot … Ob auch „Der Fall Holdt“ unter die ominöse Obergrenze für „experimentelle TATORTe“ fallen würde? Wer jedenfalls einen der früher üblichen, eher beschaulichen Lindholm-Ausleger der Reihe erwartet, dürfte diesmal bitter enttäuscht werden. Alle anderen aber dürfen sich auf einen herausragenden Film freuen, der sicherlich der bisher beste der norddeutschen Kommissarin ist. Der Film, wohlgemerkt. Für die im Film beschriebene Leistung der Polizei lässt sich dasselbe wahrlich nicht sagen.

LKA-Ermittlerin Lindholm geht den Ehemann der Entführten an – persönliche Projektionen inklusive

Versifftes Krimistück mit Lindholm?

Alles beginnt damit, dass Charlotte Lindholm einen prickelnden Disco-Abend mit ihrem Lover verbringt und zwischen den heißen Tänzen mal kurz an die frische Luft geht, weil das Frauenklo mal wieder überfüllt ist – also kurz zum Pullern zwischen die parkenden Autos gehockt. So viel gesellschaftliche Realität hat ausgerechnet den Berliner Tagesspiegel schon im Vorfeld in Schnappatmung versetzt, als wäre der Vorgang nicht gerade in der Hauptstadt sanitäre Selbstverständlichkeit. Aber eine Kommissarin, die sich hinhockt, um sich „aus der allergrößten Pipi-Not zu befreien“, wie es dort rührend komisch heißt, war dann offenbar doch zu viel für den hauptstädtischen Beobachter, der schon zuvor den nackten Stedefreund und die Münchener Porno-Eskapaden mit ansehen musste: „Fehlt nur noch, dass der nächste Mörder ein Koprophiler ist“, wehklagte er also, und: „Der TATORT ist jetzt zum versauten und versifften Krimistück verkommen.“ Und das von unseren Rundfunkgebühren!, hat er vergessen hinzuzusetzen.

Dabei ist die Notdurft ein dramaturgisch perfekter Dreh, denn die gerne etwas autoklaviert wirkende LKA-Ermittlerin wird dadurch nicht nur plötzlich sehr menschlich, sie erlebt im nächsten Moment auch ein tief nachwirkendes Trauma, das eben auch dieser besonderen, eben peinlichen Situation geschuldet ist. Eine Bande enthemmter Jungmänner beobachtet sie nämlich in jener „Pipi-Not“ und filmt natürlich prompt mit dem Handy (vermutlich, um die Sequenz dem „Tagesspiegel“ anzubieten). Lindholm ist empört und geht in gewohnter polizeilicher Autorität auf die schamlosen Persönlichkeitsrechtsverletzer zu. Doch hier auf dem Disco-Parkplatz ist sie keine Kommissarin, sondern einfach nur eine Frau, die plötzlich das erfährt, was immer noch viel zu viele Frauen regelmäßig erfahren müssen. Shetoo. Die Männer machen sich über sie lustig, erniedrigen sie und schlagen schließlich die, die es gewagt hat, Widerworte zu geben,  brutal zusammen. Gedemütigt und unter Schmerzen flüchtet Lindholm vom Schauplatz, ohne Hilfe zu holen und ohne sich von ihrem Freund zu verabschieden, um sich weinend in ihrem Bett zu verkriechen. Doch auch dort findet sie keine Ruhe – der Chef ist am Telefon und kommandiert sie zum „Fall Holdt“ ab. Lindholm will sich erst widersetzen, doch der Mann hört ihr gar nicht zu, schließlich fügt sie sich. Ein, wie sich später zeigen wird, fataler Fehler, denn aus dem seelischen Gleichgewicht geworfen, übermüdet und mit Schmerzen, Schuldgefühlen und falscher Scham kämpfend, ist Lindholm in denkbar schlechter Verfassung, um den heiklen Entführungsfall kompetent zu betreuen.

Bei der jungen Lindholm-Widergängerin ist die Welt noch in Ordnung

Lindholm vs. Lindholm

Zumal ihr als zuständige Polizistin vor Ort diesmal eine Art junge Wiedergängerin an die Seite gestellt wird, die Lindholm bis auf die Jacke gleicht, nur eben alles das ist, was die altgediente Kommissarin zumindest nach jener schicksalhaften Nacht nicht mehr ist: selbstbewusst, mit professioneller Distanz, topfit, spielerisch mit Kollegen flirtend. Während Lindholm immer übellauniger und dünnhäutiger durch den Fall wankt, mal die eigenen Kollegen anfährt, mal den Ehemann des Opfers angeht, ganz offenbar ihre eigene Wut über ihre Peiniger in den Fall trägt und schließlich auch noch einen fatalen Fehler begeht. Während die junge Lindholm-Epigone sich zunehmend gegen die ältere Kollegin in Position bringt. Was alles eben auch schief laufen kann bei der polizeilichen Arbeit, nicht zuletzt aufgrund überkommener gesellschaftlicher Strukturen in der Gender-Frage, ist – neben dem eigentlichen Fall – das zweite große Thema dieses ambitionierten Films.

Vielleicht sollte noch erwähnt werden, dass „Der Fall Holdt“ sich eng an einen prominenten echten Kriminalfall anlehnt – auch in der Wirklichkeit läuft Polizeiarbeit halt nicht immer pannenfrei ab. Für den Film selbst tut das reale Vorbild eigentlich nichts zur Sache und soll deshalb hier auch nicht näher erörtert werden, zumal der Blick in die echten Vorgänge eigentlich schon zu viel über den Film verrät. Trotzdem ist die enge Anbindung an die Realität von Vorteil, sie verleiht dem Film eine zusätzliche Schärfe und Authentizität, und sie ist quasi ein Schutzschild gegen Vorwürfe, hier habe man doch wohl ziemlich überzogen. Hat man eben nicht.

Zeug zum Klassiker

„Der Fall Holdt“ funktioniert auf zwei Ebenen ganz wunderbar: Er ist ein packender Entführungskrimi, bei dem der Zuschauer bis zum Schluss im Unklaren über die Hintergründe bleibt. Ohne zu viel zu verraten: Niemand wird sich am Ende beschweren können, er habe gleich gewusst, wer der Täter ist. Das ständige Hin und Her der Verdächtigungen bei gleichzeitiger Ungewissheit darüber, ob das Opfer überhaupt noch lebt, sorgt für einen straff gespannten Spannungsbogen. Gleichzeitig aber erleben wir, wie sehr persönliche Belastungen der Polizisten eine Rolle spielen. Auch Kommissare sind eben nur Menschen mit all ihren Fehlern – selten hat ein TATORT das in dieser gnadenlosen Kompromisslosigkeit vorgeführt, und das ausgerechnet beim Liebling der Massen: Charlotte Lindholm. Hier muss auch ausdrücklich die schauspielerische Leistung von Maria Furtwängler betont werden, die die strauchelnde Kommissarin mit überraschender Eindringlichkeit spielt. Da dürften am Ende die Zuschauertelefone wieder heiß laufen. Dass ganz nebenbei auch noch das Thema Gewalt gegen Frauen und von Männern geprägte Machtstrukturen durchaus geschickt eingeflochten wird, krönt diesen ebenso ungewöhnlichen wie ausgezeichneten Film, der das Zeug hat zu einem der großen Klassiker der Reihe, an den man sich womöglich dereinst auch beim Jubiläum zum 2.000 TATORT noch wird erinnern können. Und das ausgerechnet bei Frau Lindholm! (Rezensent kopfschüttelnd ab)

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