von 17.11.2024

Seele gegen Wand

Let's call it praktische qualitative Anthopologie

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Migration, Integration, Refragmentation, Deintegration

Man sieht es mir nicht an, also ist es irgendwie eine Entscheidung. Meine Identität, meine Herkunft.

Ich habe meine Seite gewählt. Ich hätte vor zehn Jahren meinen israelischen Pass ablegen und einen Deutschen bekommen können; das wollte ich nicht. Ich bin loyal zu dem Land, das mir als Allererstes volle Rechte zusprach. Mir, damals noch einem Kind, einem Mädchen.

Als wir 2003 emigriert sind, wusste ich noch nichts von dem Nahost-Konflikt. Meine Mutter wohl, und sie – die auch schon in Russland die berechtigte Angst hatte, dass ich überfahren werden könnte – hatte nun berechtigte Angst vor Bomben in Bussen. Aber wir flohen aus einem Land, in dem Faschismus auf dem Vormarsch war. Aus einem Land, in dem Gruppen von Skinheads auf Antifaschisten schossen – und es wurde nicht ermittelt. Aus einem Land, in dem antisemitische Slogans auf Plakaten, antisemitische Statements in religiösen Traktaten ok waren. Aus einem Land, in dem das Leben eines Menschen durchaus käuflich war, und das Leben einer Oppositionellen oder Journalistin unter bestimmten Bedingungen ein Geburtstagsgeschenk.

Wir ließen das Erbe meiner Familie zurück. Einzelne Dinge, Bücher, Postkarten, Briefe, Möbelstücke die die Revolution, davor den ersten Weltkrieg und später die Leningrader Blockade überstanden. Meine Mutter ließ ihre Eltern zurück, die innerhalb von etwas über einem Jahr darauf sterben sollten – nicht weil wir gegangen sind, einfach nur richtig beschissenes Timing. Wir ließen zurück das Lebenswerk meiner Großeltern. Wir verließen das Netzwerk aus Menschen, die sie und uns kannten, Freunde, Professoren, Künstler, Dies, Jenes – eine soziale Infrastruktur. Und eine Wohnung im historischen Zentrum der zweites Hauptstadt des Landes. 

Das tauschten wir gegen die Demokratie ein, gegen Menschenrechte, gegen eine Polizei, die gebunden ist an Gesetze, gegen ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit, gegen ein safes Umfeld. Gegen gelebte Christliche Werte und eine zuverlässige, nachvollziehbare, regelgeleitete Bürokratie. Gegen Freundlichkeit.

Meine Eltern wollten für mich Sicherheit und Frieden – ich wollte ein Leben ohne Gewalt. Israel war für sie erste Station. Die Tickets dorthin zahlte der israelische Staat, wir hätten sie nicht zahlen können. Die Miete dort ebenfalls. Wir kamen in einem kleinen Dorf nahe Ashdod unter, in einer Drei-Zimmer-Wohnung eines gefühlt 15-Stockwerke hohen Haus; jede Wohnung hatte ein Saferoom mit Metalltür.

Ich habe in Israel frei atmen dürfen. Ein halbes Jahr ging ich zu den Hebräisch-Kursen, dann wechselte die Lehrkraft und das halbe Jahr darauf verbrachte ich in der Bibliothek. In meiner Freizeit – und ich hatte ja fast nur Freizeit – rettete ich obdachlose Babykatzen, redete mit jedem hebräisch und lernte Photoshop bei einer befreundeten Ukrainerin, die bei einem alten Farmer lebte und arbeitete.

Außerdem putze ich unsere Wohnung und verkaufte mit meiner Mutter Aquarelle von Tür zu Tür. Und übersetze für meine Eltern: das Übliche, was Migrantenkinder so tun. Ich war drei mal am Meer. Dann ging’s schon weiter.

Das alles war formell keine Flucht, aber wir hatten keine sehr safen Plan. Eine Malerin und ein Organist mit einem Schengen-Visum, mit israelischen Pässen, einer selbstgebauten elektronischen Orgel, ein Paar Konzertterminen und einem Teenager, auf der Suche nach einer besseren Zukunft und ohne Plan B. Schon die Tickets für den Hinflug waren ein Problem. Haustiere, die mit uns Hungerperioden und allerlei andere Krisen durchgemacht haben, haben wir nach Israel gebracht, konnten sie nach Deutschland aber nicht mehr mitnehmen.

Ich habe mich in Deutschland alles in allem irgendwie willkommen gefühlt; ich ließ den Menschen, mit denen ich zu tun hatte, diesbezüglich aber auch nicht viel Spielraum. Ich hatte hier endlich ein Fahrrad, ich konnte ins Schwimmbad. In der Schule hatte ich Lehrerinnen und Lehrer, die mich unterstützt haben, auch wenn ich ganz anders war als der Durchschnitt der Klasse. Ich habe irgendwie informell in einem Kindergarten geholfen. Die Kindergärtnerin hat sich mit mir hingesetzt, und vorgerechnet, dass sich der deutsche Staat die Ausländer auf Dauer nicht leisten könne, so in etwa. Sätze wie “Deine Eltern müssen sich integrieren” und “Deine Mama muss aber schnell Deutsch lernen” haben genervt, aber ganz ehrlich, ich kann mir allerlei schlimmere Formen von sozialem Druck vorstellen. Die Frage, wo ich herkomme, beantworte ich mit “Aus Israel”, weil ich von Anfang an nicht ‘Russin’ sein wollte. Ich sage nicht, dass ich wirklich glücklich war, aber es gab kontinuierlich Menschen um mich, die gezeigt waren, dass ich, – das wir – als Familie nicht egal sind. Aber die wirklich herben Enttäuschungen kamen viel später.

Und ich sage nicht, dass es einfach war. Dass ich jetzt nicht ohne Medikamente schlafen kann, hat auch mit der Migration zu tun. Ich hatte nicht viele Freunde, die kulturelle Differenzen waren stets präsent. Ich musste mich kontinuierlich anpassen – daran hat man mir auch gern und in unterschiedlichsten Situationen erinnert. Auf ein Gymnasium ging ich, weil meine Eltern das durchgesetzt haben. Das Abitur in einem Land, das schon auch Ausland war – was ich konsequent bestritten habe -, mitten im Knäuel der ungelösten familiären Probleme, kurz nach dem Tod meiner Großeltern, in schwierigen finanziellen Verhältnissen – das alles hat mir wirklich viel abverlangt. Ich hatte eine Freundin, die mich nach einem Streit kurzerhand konsequent mit Schweigen bedachte. Einen Freund, der mich – ohne Absicht – vergewaltigt hat. Eine bedingt zuverlässige, überforderte Mutter. Mein Vater hatte Krebs, die Diagnose kam zwei Monate – dann starb er. Das Englisch-Abitur schrieb ich nach. Lehrer und Lehrerinnen haben mich nach Möglichkeit unterstützt. Und noch jemand, der wie Familie war, sich aber mit meiner Mutter nicht verstand. Sich von dieser Erwartungshaltung abzugrenzen, war harte Arbeit. Arm zu sein inmitten von Wohlstand – nein, Reichtum, war Arbeit. Sich Respekt zu erarbeiten, war Arbeit.

Ich durfte als Bildungsinländerin sofort studieren. Ich hatte dank Schengen und Aufenthaltsgenehmigung sofort eine Arbeitserlaubnis und das Bafög, kurz darauf kam die Niederlassungserlaubnis. Der Aufenthaltsstatus war schon mal safe. Die Uni war der erste Ort, an dem ich zum ersten Mal daheim war. Hier zählte es plötzlich, was man liest und wie man spricht, und nicht so sehr, was man trägt, wo man im Urlaub ist und wie man sich die Beine rasiert.

Alma Mater war für mich ein Zuhause. Auch das war nicht perfekt. Ein Me-Too-Prof, der immer noch lehrt. Vetternwirtschaft und Korruption. Keine Infrastruktur, die mich wirklich gefördert hätte. Wenig und nur sehr spezielle berufliche Perspektiven für Frauen. Aber immerhin habe ich dort, an der Uni, Freunde gefunden, die immer noch meine Freunde sind. Ein Stura, der sich für Feminismus und gegen Rassismus ausspricht. Eine linke Rektorin. So viele Menschen dort haben versucht, die Werte zu leben, die auch unsere Werte waren. Und dafür kamen wir ja her: um unter Menschen zu sein, die mit uns eine Schnittmenge von Werten teilen. Ich schrieb Gedichte auf Deutsch. Ich bin einer deutschen Partei beigetreten. Ich hab’ mich als Israeli und Deutsche betrachtet: Israeli aus Loyalität, Deutsche de facto, wenn auch ohne Pass. Russland habe ich gestrichen: zu Vieles hat das Gefühl von tiefer Einsamkeit ausgelöst, von nicht enden wollendem Schrecken.

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