vonutopiensucht 20.11.2020

Utopiensucht

Alltagsbanalität trifft auf sprachliche Vielfalt. Und wie Achtsamkeit der Gegenwart die Socken auszieht.

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Gerade hatte es plötzlich angefangen zu regnen. Zwei Menschen spielen Gitarre in der überdachten Ground Kitchen. Kurz darauf siehst du wieder einige Sonnenstrahlen durch die vielen Buchen fließen. Umgeben von hunderten schmalen und einigen mächtigen Bäumen, ist der Sonnenschein in Drüben immer ein Prismenspiel.

Diese echte Idylle hatte noch keine wirkliche Vorstellung davon, dass hier in einer Woche alles voller zerstörender Maschinen, Polizei und Baumleichen sein wird. Aber eine ungenaue Ahnung. Eine sanfte, permanente, unterschwellige Anspannung.

Die zwei Gitarrenspielenden beenden ihre spontane Session. Jetzt ist die Ausrede weg, eine Pause zu machen, und es wird weitergemacht mit dem alltäglichen Tun. Du gehst vielleicht mal wieder den Hang hinunter und kommst an der Wiese an, wo der kleine Fluss, die Gleen, vorbeiplätschert.

Du gehst Flusswasser holen zum Spülen und Händewaschen. Und kannst auch einfach direkt baden gehen. Hast du vielleicht eine Woche nicht gemacht… Das klare Wasser lädt schon ein. Ist auch schon saukalt. Aber wenn mensch sich einmal reingetraut hat, dann geht’s, und dann scheint auch noch manchmal die Sonne durch die Weiden.

Mensch macht sich nackig. Nebenan fahren LKWs die Landstraße entlang. Egal.

Und du tauchst ein ins Nass und die Atmung wird flach. Danach läufst du wieder zurück in dein Dorf an den so bekannt gewordenen Barrikaden vorbei. Vorbei an North End, dem hohen Nord-Kap-Baumhaus, und dann vorbei am gemütlichen Ratschna und dein Blick geht die Steigung hoch zum ersten Tripod und dann zum zweiten.

Deine Füße biegen bei Amakha Picchu links ab, den super matschig gewordenen Weg entlang. Du kennst nach ein paar Malen die Stellen des Weges, wo es am rutschigsten ist und so manch Mensch schon ausgerutscht ist. Und dann musst du einfach etwas weiter außen den Anhänger mit den Flusswasser-Kanistern vorbeischieben.

Links kommt vielleicht auch manchmal noch mittags der Mensch vom hohen Baumhaus Pogo runter, der richtig lange geschlafen hat. Mensch war mal wieder ziemlich lange wach. Sie saßen noch am Feuer in kleiner Runde und haben über die Geschichte des Faschismus diskutiert. In den Baumhäusern rings herum hast du noch ihr Murmeln und manchmal auch ein Lachen gehört.

Die Eiche, die Pogo gehalten hat und ein ganz besonderes Zuhause für einen ganz besonderen Menschen gewesen ist, liegt jetzt ausgetreckt tot am Boden. Du siehst, wie riesig dieses Wesen war und wie alt. Du zählst die Jahresringe.

244 Jahre.

Danke Baum, für deine Zeit.

Eben vor einer Woche ging mensch noch täglich von hier den Hang rauf, und sah so gut wie immer den Rauch des Lagerfeuers aus der Ground Kitchen herauskommen. Und riechen konntest du ihn auch. Ein paar Menschen wuselten um die neue Spülstation.

Drüben wurde ein kleines bisschen weniger dreckig. Aber im Herzen bleibt es ein bunter, exzentrischer, ungeordneter Haufen aus Planen, Holz, Nägeln und sehr besonderen Menschen. Vermummte und unvermummte Gesichter leuchten dir entgegen. Oder sind zu beschäftigt und rennen halt an dir vorbei. Blätter fallen zu Boden, auch wenn du nicht dabei bist. Es ist Herbst und es sieht jeden Tag ein bisschen anders aus. Die Lichtung neben den Häusern macht den Blick breiter und du erkennst besser den Unterschied zwischen den vielen Buchen und den paar mächtigen Eichen.

Nachts fällt die Anwesenheit der Eichen besonders auf. Es ist waldstill. Eben nicht ganz still, denn der Wind lässt die Bäume rascheln, quietschen und ab und zu fällt eine Eichel 10 oder 20 Meter Tief auf Metall und es knallt einmal kurz. Aufgeweckt wirst du davon selten. Aber wenn du nachts noch eine Weile wach liegst oder mal pinkeln musst und dann noch etwas lauschst, dann kannst du dieses ungewöhnliche, einsame Geräusch der Nacht miterleben.

Wenn du dann am späten Morgen an der Ground Kitchen angekommen bist, kocht natürlich irgendwas auf dem Feuer. Eintopf, aber irgendwie immer gut. War das Essen überhaupt mal komplett verkackt? Vielleicht ein, zwei Mal gab es angebrannte Pampe. Die Menschen rund herum wuseln, bauen an ihren Behausungen weiter. Spirit Level bekommt eine Tür, dann Wände und dann einen kleinen Ofen für den anstehenden Winter.

Weißt du noch, als Spirit Level noch unfertig offen in alle Richtungen war? Du hast dicht angeschmiegt neben Menschen geschlafen, und ihr habt eure Wärme geteilt und vervielfacht.

Weißt du noch, als Spirit Level überhaupt noch existierte? Bevor es von den uniformierten Staatsgewaltätern heruntergerissen wurde? Scheiße ja, es ist erst Tage her.

Spirit Level hatte eine Couch. Es war ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer und an einem Seil hingen Klettergurte, die mensch sich ausleihen konnte, um zum Beispiel die höchsten Baumhäuser Cop Catcher und Baramborak zu erklimmen.

Es war ein Zuhause. Drüben war ein wundervolles Zuhause – international, anarchistisch, kreativ und lustig.

Und dann wurde es umstellt von gesichtslosen StaatsarbeiterInnen, die gendern nicht mögen, mit ihren Waffen und Maschinen, und die BewohnerInnen von Drüben’s Baumhäusern wurden herausgerissen. Danach wurde auch der Rest abgerissen. Und das wurde dann Arbeit genannt.

Arbeit für ein völlig aus der Zeit gefallenes Projekt. Für ein lebensverachtendes System. Und dann lachen die Idioten mit den dunkelblauen Helmen auch noch über dich, oder schreien dich an und reden die ganze Zerstörung von Zuhause und Trinkwasserschutzgebiet schön als einen einfachen Arbeitsauftrag, der ihnen auf keinen Fall nahe gehen soll. Sie klammern sich stur an ihre arbeitsvertraglich festgelegten Ideale.

Sie beugen sich diesem Arbeitsauftrag von der schwarz-kotzgrünen Landesregierung Hessens, die sich auf Gegenfragen weiterhin nur feige rausredet. Verdammte Heuchler.

Verdammte Scheiße, es geht hier um unsere Zukunft!

Und ihr seid nicht bereit, euch von der wohligen, gestrigen Idee von Bequemlichkeit zu befreien. Wir brauchen keine neue Autobahn für noch mehr Konsum-Lifestyle.

Wir brauchen Wald und Wasser.

Auch schon aus Prinzip, egal was manche Verkehrsanalysen ergeben. Und manch andere Stimmen sagen halt auch, dass der Verkehr durch die A49-Erweiterung noch schlimmer wird für die Region und insgesamt. Mehr Straßen gleich mehr Verkehr, hört sich erstmal sinnvoll an. Und was denkt sich eine deutsche Regierung, die Amazonas-Zerstörung zu verurteilen, wenn sie selbst nicht besser handelt?

Drüben schaute lange nach Norden den Hang hinunter zu den verbliebenen Bäumen und hörte zu.

Du hast der Schneise der Zerstörung, den Kettensägen schon einen Monat beim Näherkommen zugehört und gleichzeitig wurde kontinuierlich am Zuhause weitergebaut.

Aus Naivität, aus Hoffnung oder aus Prinzip? Da hatte vielleicht Mensch durchaus individuelle Gründe und Visionen. Und was bleibt aus den Visionen, da Drüben jetzt nur noch ein ausgemerkeltes Schlachtfeld ist?

Eben die Menschen. Sie bleiben.

Aber sie sind jetzt woanders. Zersplittert. In einem der vielen anderen Zuhause im Danni, das weniger Geschichte für sie hat, oder in ihrem privilegierten Plan B in der Stadt zwischen Betonwänden mit WLAN. Wo mensch weiter im Danni-Ticker über die andauernde Zerstörung lesen kann. Und das anhaltende Gefährden von Menschleben. Und die Staatsgewaltäter in Uniformen mit dem Credo „Sicherheit vor Schnelligkeit“ machen immer schneller und zerstören kopflos hier und da und überall alles, was sie bei ihrer seelenlosen Arbeit behindert.

Menschen sind müde. Und erkältet. Und beinahe so corona-gefährdet wie die weiterhin 2000fach auflaufenden Polizei-Truppen. Trotzdem: Menschen halten immer noch den Widerstand aufrecht.

Aus Prinzip? Aus Hoffnung? Aus Naivität?

Naivität ist eine schöne Kinderkrankheit. Die Gemeinschaft im Danni ist eher jung. Aber auch alt geworden schon in wenigen Monaten, im täglichen Ausfechten von Idealen und Praxis.

Und manche sind wirklich alt.

An einem Abend am Drüben-Lagerfeuer wurde dem 70-jährigen, kletternden, immer frühaufstehenden Bayer gesagt: „Voll super, dass du in deinem Alter in den Danni kommst!“

Der 70-Jährige antwortete leidenschaftlich: „Natürlich! Ich frage mich, warum nicht alle hierhin kommen!“

Sein bayerischer Akzent klang nicht ansatzweise fremd hier. Hier hat alles bunt geklungen. Drüben war eben international. Menschen aus halb Europa waren hier. Ja, auch aus Bayern, wo Naturverbundenheit und Heimat eine Art Politikum sind – nur meist sehr an das Prinzip der Grenzen gebunden.

Drüben war grenzenlos. „Burn down the borders“ stand über der Ground Kitchen.

Am dritten Tag der Räumungen und Rodungen wurden genau dort ein paar Leucht- und Feuerwerkskörper von Aktivistis gezündet. Sowas landete dann in den Zeitungen und sogar in der Tagesschau-Berichterstattung wurde es erwähnt.

Diese eine Feuerwerksrakete brachte massig Trubel, und die Cops rannten alle zum Rauch und hörten kurzzeitig auf, das erst vor ein paar Tagen gebaute Baumhaus Danger Zone abzureißen, in dem sich auch Carola Rackete kurz vorher räumen ließ.

Dann rannten die Menschen weg, die das grelle Licht des wütenden Widerstands angezündet hatten.

Und du triffst sie wieder schnaufend am kleinen, plätschernden Fluss an. Mensch auf dem Weg ins Home-Office im Gasthaus Jacob fragt sie, wie es gelaufen ist?

„Hammer! Wir sind denen vor der Nase weggerannt! War richtig knapp!“

„Ja, ich hab’s gesehen. Sah aus wie an Sylvester. Nur ganz kurz halt.“

„Hast du gefilmt?“

„Ging leider alles zu schnell…“

Abends sieht sich die halbe Gruppe am Lagerfeuer wieder, wo schon fast alles abgerissen wurde. Die Küche existiert faktisch gar nicht mehr. Eine Hand voll Aktivitis sitzt noch immer an derselben Feuerstelle wie vor der Bodenräumung. Ohne Essensregal, ohne die Wände aus Planen. Immer noch derselbe Ort, aber völlig anders.

Eigentlich nicht mehr derselbe Ort.

Es wird Gitarre gespielt. Und widerständige und selbstgedichtete Lieder werden gesungen. Menschen, die gerade aus der Gefangenensammelstelle wiederkommen und noch völlig aufgedreht sind, singen laut mit. Es ist nur ein bisschen kalt. Und es wird gelacht. Vielleicht ein letztes Mal in Drüben.

Dann ist es schon wieder morgens. Viele haben nicht geschlafen, sondern weiter am Widerstrand gebaut. Es ist Tag 4 der Danni-Räumung. Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Ein Mensch, der wie ein Baum heißt, baut immer noch an letzten Barrikaden neben einem kleinen Tripod. Es kommt eine Person, die diesen besetzen will.

„Ist der Tripod sicher?“

„Achtung bei der Schaukel! Die ist etwas wackelig. Der Tripod an sich ist sicher gebunden. Ich war dabei.“

Der Mensch geht hoch – vorsichtig.

Und dann kommen auch schon die uniformierten Bodentruppen.

An diesem Tag wird kein Mensch vom Dreibeiner fallen – aber morgen! 4 Meter tief ist die Person gefallen. Weil ein nicht-denkender Uniform-Mensch ein Sicherungsseil durchgeschnitten hat, ohne zu überlegen, was dahinterstecken könnte.

Ein Menschenleben.

Und das war dann auch in vielen Zeitungen, und die Polizei dementiert erst, gibt dann zu, versichert wieder „Sicherheit vor Schnelligkeit“ und rastet dann erst richtig aus, sodass ein Mensch am nächsten Tag wieder einen schweren Unfall hat, weil wieder ein Seil von der Exekutive der Unmenschlichkeit durchgeschnitten wurde.

Und das liest du dann im Internet und du weißt genau, das hätte auch dir passieren können. Weil du irgendwie doch noch damit rechnest, dass Beamte keine schlechte Presse wollen.

Dieser Einsatz ist Wahnsinn geworden. Er war schon vorher Wahnsinn, aber jetzt ist er ein rücksichtsloser Kampf. Und sogar die kotzgrünen PolitikerInnen aus Hessen finden Polizeigewalt und Asphalt weiter gut, egal wie sehr es eskaliert und wie viel mehr Menschen Woche um Woche auch deutschlandweit protestieren und die Stimmung sich immer mehr gegen die einst noch authentische Oppositionspartei wendet.

Die Rodung und ihre gewalttätige Durchsetzung machen den vorher so wunderschönen, real-utopischen Lebensort des Dannenröder Waldes zur tragischen Bühne einer scheingrünen Politik, die Geld dem Leben vorzieht. Und die den Ernst der Lage, des globalen, ökologischen Ausnahmezustandes einfach nicht wahrhaben will.

Du läufst den Hang hinauf zum Lagerfeuer. Buchen, Eichen und Fichten, die es in ein paar Tagen nicht mehr geben wird, rascheln im Herbstwind. Menschen sprechen in gutem und schlechtem Englisch über Faschismus, Naturschutz, über Erleuchtung und darüber, was als nächstes gebaut werden kann.

Ihr könnt uns vielleicht ein Loch ins Herz fällen, aber der Widerstand wird nicht aufhören, egal, wo wir sind.

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https://blogs.taz.de/utopiensucht/2020/11/20/memorandum-an-ein-zerstoertes-baumhausdorf/

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