vondie verantwortlichen 30.11.2019

Die Verantwortlichen

Roland Schaeffer fragt sich, warum vieles schief läuft und manches gut. Und wer dafür verantwortlich ist.

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Es ist gar nicht lange her. Wer in den 50er Jahren geboren ist, hat es noch im Ohr: Das verzweifelte Jaulen eines Hundes, der von seinem Herrchen verprügelt wird. Und das Klatschen der Schläge.

Richtig, es konnte ebenso wahrscheinlich auch ein Kind sein, das so öffentlich und gewalttätig zurechtgewiesen wurde. Heute würde in beiden Fällen die Polizei alarmiert. Unsere Gesellschaft hat unendlich viel dazu gelernt. Gewalt im Umgang miteinander wird nicht mehr toleriert.

Nur wird über diesen Prozeß der Zivilisation kaum gesprochen. Das ist verständlich: Viele, die heute noch leben, sind damals Täter oder Opfer gewesen, und es gehört leider immer noch zum Familienleben, über das Leid Diskretion nach außen zu wahren. Wenn überhaupt, wird der Fortschritt betont. Er ist heute in jedem Zugabteil sichtbar, wo Mütter wie Väter mit Zwei-oder Vierjährigen in Ruhe die Zeit verspielen. Oder im Supermarkt, wo sie den Wochenendeinkauf im Dialog erledigen (der Konsens führt am Ende zu weniger Süßigkeiten als sie in früheren Zeiten im Konflikt erkämpft wurden), anstatt das Kleinkind, wie noch vor zwanzig Jahren, in den Einkaufswagen zu setzen, schlecht gelaunt durch die Regale zu hetzen und das  laute Gör mit mindestens gleicher Lautstärke anzuschimpfen (vor 50 Jahren hätte es ein paar hinter die Löffel gegeben). Dieser unglaubliche Lernprozess breitet sich, wenn auch mit jeweils spezifischen Verzögerungen, in der ganzen Welt aus. Ehefrauen nicht zu schlagen, uneheliche Kinder als gleichwertig anzuerkennen, die Menschen lieben zu lassen, wen sie wollen, die Liste der Veränderungen ist lang, sie reicht tief in den Alltag, sie setzt Jahrhunderte alte Regeln außer Kraft. Die Macht der neuen Selbstverständlichkeiten ist so groß, dass sie nach ein paar Jahrzehnten  Vorsprung heute schon wieder ins Ressentiment gewendet  werden können,  etwa gegen die „Rückständigkeit“ anderer Kulturen.

In Deutschland hat die Gesellschaft diesen säkularen Umbruch 30 Jahre lang unter CDU-Regierungen erlebt. Von den gewaltgestützten Autoritätsverhältnissen, die einmal „Ehe und Familie“ und Familie hießen, ist dabei nicht viel übrig geblieben. Nicht nur die aus der Lutherbibel überlieferte Regel, nach der, wer seine Kinder liebt, sie schlagen müsse, ist kommentarlos über Bord gegangen. Die Liste reicht von einer fundamentalen Reform der öffentlichen  Erziehung bis zum Verbot der Vergewaltigung in der Ehe, das gegen zahlreiche Stimmen aus der CDU/CSU beschlossen wurde. Nur sind dieser Partei die Fortschritte eher passiert, als dass sie sie gewollt hätte, und die  VorkämpferInnen in ihren eigenen Reihen wurden heftig angefeindet. Irgendwann war die Zeit gekommen und  die Partei musste  Festung um Festung räumen, um „mehrheitsfähig“ zu bleiben. Sie hat es in der Folgezeit möglichst vermieden, darüber zu sprechen – schließlich waren es nicht „ihre“ Wünsche und Themen. Vor allem aber hat sie nie Bilanz gezogen. Würde sie zusammenzählen, was von den Programmen übrig ist, die sie bis in die 80er Jahre hinein vertreten hat, so müsste sie bestätigen, dass sie, um den gegenwärtigen Fraktionsvorsitzenden im Baden-Württemberger Landtag zu zitieren, „inhaltlich insolvent“ ist.

Dass für diesen Zusammenbruch eines scheinbar stabilen ideologischen Gebäudes (wie für alles andere) Angela Merkel verantwortlich gemacht wird, ist verständlich, schließlich führt sie die Partei seit 20 Jahren. Wer ehrlich wäre, müsste allerdings zugeben: Es hat viel früher angefangen, schon 1982, unter Helmut Kohl. Damals waren Namen wie Rita Süssmuth, Heiner Geissler, Warnfried Dettling oder Norbert Blüm in aller Munde. Inzwischen sind sie der allgemeinen zeithistorischen Amnesie zum Opfer gefallen, gegen die auch Wikipedia nichts hilft.

Nur war „Ehe und Familie“ eben für die CDU/CSU nicht irgendein Programmpunkt. Hier geht es um Haltungen, Rollenzuschreibungen und Hierarchien, die tief in ihrem normativen Korsett  verankert waren und das Alltagsleben gestalteten. Es geht um das (angeblich christliche) „Menschenbild“, von dem die Partei damals so gern sprach. Und  um die wichtigste Grenzziehung, die zwischen dem „wir“, den ordentlichen Leuten, und den „Anderen“, den Unmoralischen, Disziplinlosen, in wilder Ehe oder gar in gleichgeschlechtlichen Verhältnissen lebenden Milieus der 68er und später der Grünen, teilweise auch derer von SPD und FDP.  Was sich da aufgelöst hat, war die Garantie weltanschaulicher Überlegenheit und gesellschaftlicher Ordnung. Dass sich seither in konservativen Lebenswelten, weit über die CDU/CSU hinaus, ein Gefühl der Leere breitmacht, ist verständlich.

Der Historiker Andreas Rödder hat diese Geschichte der Konservativen für Deutschland kürzlich glänzend erzählt und versucht, einen eigenen, trotz aller programmatischen Verluste im Detail stabilen Begriff des politischen Konservatismus zu entwickeln. Rödder zufolge hängt dieser nicht an einzelnen Themen. Vielmehr vermeidet er Unbedingtheit und entgeht „…dem Gegenteil von Relativismus: Dogmatischem Absolutismus und Rigorismus. Sieht man es auf diese Weise, dann eröffnet die Paradoxie des Konservativen eine gelassene Menschenfreundlichkeit, der es darum geht, den Wandel der Zeiten, dessen Teil der Konservative auch selbst ist, verträglich zu gestalten…“. Parteipolitisch gesprochen hat ein Konservatismus dieser Sorte allerdings längst seine angeblichen GegnerInnen unheilbar infiziert, das Feld reicht dann von Kretschmann, Habeck oder Baerbock über Kubicki oder Baum bis weit hinein in die CSU. Aus der konservativen  Perspektive hingegen lässt sich  aus einem solchen Ansatz  weder eine politisch sichtbare Programmatik noch eine Abgrenzung zu den GegnerInnen basteln.

So bleibt heute, wo der Konservatismus einst einen festen weltanschaulichen und politischen Rahmen anbot, vor allem Konfusion. Durch die säkulare Veränderung des Alltagslebens ist in der Politik ein programmatischer Hohlraum entstanden. Dass die traditionelle Familie die „Keimzelle“ von Staat und Gesellschaft sei, war zwar immer ein ideologisches Konstrukt. Trotzdem sorgt das Aufgeben dieser Vorstellung in Teilen der Gesellschaft nicht nur für eine argumentative Leerstelle, sondern darüber hinaus für ein Gefühl des Unwohlseins und der Desorientierung.  Menschen, zumal Männer, können in ihrem unmittelbaren Umfeld die Rolle, die ihnen traditionell zustand, nicht mehr spielen, und viele empfinden den Verlust an sozialer Bindung und Anerkennung als ein von der Gesellschaft  zugefügtes Unrecht. Dabei ist an ein Zurück ist nicht zu denken. Wiedereinführung der Prügelstrafe für Kinder? Verbot der Homosexualität? Rücknahme des Verbots sexueller Gewalt gegen Ehefrauen? Es gibt tatsächlich Dinge,  die sich in Deutschland niemand mehr zu sagen traut.

Offen bleibt, wohin sich der politische Konservatismus in Deutschland entwickelt. Das ist umso beunruhigender, als die Auflösungserscheinungen ehemals hochangesehener konservativer Institutionen global zu beobachten sind, und es ist, wenn man auf die narzisstisch-autoritären Figuren schaut, die deren Nachfolge antreten möchten, ein Vorgang mit  hohen politischen Risiken.

Wer die Konkurrenz zur CDU am rechten Rand oder das „Manifest“ der sogenannten Werte-Union betrachtet, wird feststellen, dass es dort für die Ausfüllung der Leerstelle nur einen Vorschlag gibt. Wenn man schon mit Kindern, Frauen, Schwulen, Behinderten als Gleichberechtigten umgehen muss und es im eigenen Umfeld niemanden mehr gibt, dem mal einfach sagen kann, was er oder sie zu tun oder zu lassen hat, muss offenbar die eigene hierarchische Stellung an anderen Objekten deutlich gemacht werden. So bleibt als einziger „Wert“, an dem die „Werte-Union“ am Ende festhält, die Forderung nach verstärkter Diskriminierung von MigrantInnen. Es sind aber nicht nur die rassistischen Untertöne, durch die sich die  politischen Zerfallsprodukte des deutschen Konservatismus auszeichnen.

Die Suche nach Surrogaten wuchert in viele Richtungen. In der allgemeinen Verwirrung werden plötzlich disziplinarisch belangte Beamte wie Hans-Georg Maaßen oder Rainer Wendt zu „konservativen“ Bannerträgern – Leute also, die gerade an der klassisch „konservativen“ Beamtentugend der öffentlichen Zurückhaltung und sprachlichen Disziplin gescheitert sind oder beim Gehalt geschummelt haben. Früher undenkbare irrationale Ausbrüche werden Alltag – bis hin zu einer herausgehobenen Persönlichkeit wie dem früheren deutschen Papst, der über die ihm verhasste 68er-Generation behauptet, es sei deren Zügellosigkeit gewesen, der die Katholische Kirche ihre Missbrauchsprobleme verdanke. Vor allem aber wenden sich die post-konservativen Gruppierungen und der organisierte Rechtsnationalismus gegen das Prinzip der wissenschaftlichen Überprüfbarkeit selbst. Die  Klimawissenschaft wird so zu einer interessengeleiteten Erzählung einer ideologisch gegnerischen Gruppierung umgedeutet.

Die Krise der CDU/CSU wird zwar dank Merkels Kanzlerschaft, die vieles überdeckt, noch begrenzt.   Die notwendige programmatische Erneuerung konservativer Politik allerdings ist unter den gegenwärtigen Bedingungen kaum zu denken. Anstatt sich auf Zukunftsfragen des Klimawandels und der digitalen Machtkonzentration, die die soziale Marktwirtschaft und die Freiheit bedrohen, zu konzentrieren, richten sich  die programmatischen Suchbewegungen auf die Wiederherstellung einer angeblich gefährdeten Ordnung. Auch dabei spielt der Faktor Migration eine Hauptrolle. Die Rufe nach mehr „Härte“ und strengeren Strafen richten sich gegen Gesetzesbrecher allgemein (wohl ahnend, dass sie dabei ebenfalls eine stark migrantisch geprägte Unterschicht treffen). In der Sache sind sie vor allem durch entschlossene Nicht-Wahrnehmung  der  sinkenden Kriminalitätsgefährdung und, auch hier, von wissenschaftlichen Argumenten gekennzeichnet. So ist bis in die obersten Spitzen des deutschen Feuilletons klar, dass die Bedrohung unserer Gesellschaft (wie immer) von unten kommt, die Polizei durch sozialarbeiterische Einwände angekränkelt ist und überhaupt mehr durchgegriffen werden sollte. Selbst für einen klugen liberalkonservativen Intellektuellen wie Thomas Schmid scheint die wissenschaftliche Kriminologie kein Gegenstand der Neugierde zu sein. Dabei gibt es sie, die Wissenschaft, die von der Wirklichkeit des Verbrechens, von den Möglichkeiten zu seiner Verhinderung und von der Sinnhaftigkeit der Strafen handelt. Wo sie das staatliche Handeln beeinflussen darf, ist sie häufig praktisch erfolgreich, und sie kann das mit Zahlen und Vergleichen beweisen. Die angeprangerte „Kuscheljustiz“ hilft tatsächlich, kriminelle Karrieren zu beenden, sie sorgt wirksam für Möglichkeiten zum Neuanfang, wo sonst die nächste Straftat stünde. Nur ist das Alltag und Statistik und bleibt deshalb im Vergleich zur blutigroten Faszination des Einzelfalls, mausegrau. Für rationale Strategien der Kriminalitätsbekämpfung bleibt bei der irrlichternden konservativen Sinnsuche kein Raum.

Vielleicht gehört zu dem von Andreas Rödder beschriebenen konservativen Paradox eben auch, dass man die eigene Geschichte durchdenken und anerkennen muss  – damit man dann etwas Neues anfangen kann. Wo wird die Tatsache öffentlich begrüßt, dass die Generationen, die da ohne Gewalt aufgewachsen sind, mindestens ebenso höflich, freundlich, klug und fleißig sind wie die Älteren? Wäre es nicht an der Zeit, solche Erfolge zu feiern und das alte konservative Menschenbild zu korrigieren?

Damit aus der Erneuerungspartei wider Willen eine ebenso undogmatische wie handlungsfreudige konservative Partei der „gelassenen Menschenfreundlichkeit“ würde, müsste sie sich trauen, die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit zu führen. Sie hätte dabei wahrlich nicht nur Fehler zu beklagen, im Gegenteil. Um ihre Leistungen im großen Prozess der Zivilisierung unseres Umgangs miteinander darzustellen, brauchte die CDU/CSU weder zu schwindeln noch aufzuschneiden. Und was den vermeintlichen Bruch Angela Merkels mit der Migrationspolitik der CDU angeht: Es war ein CDU-Bundeskanzler, der in den 80er Jahren vielen Tausenden unbegleiteter junge Menschen aus den damaligen Kriegsgebieten Irak, Iran und Afghanistan eine legale Einreise nach Deutschland ohne Überprüfung ihrer Fluchtgründe ermöglichte. Und als der damalige  CDU-Oberbürgermeister in Frankfurt 250 vietnamesischen Flüchtlingen Asyl in der Stadt anbot, flog sein Büroleiter extra nach Honkong, um sie persönlich abzuholen. Er hieß Alexander Gauland.

Wer sich als Erneuerungspartei wider Willen präsentiert und eigene Leistungen dort öffentlich beschweigt, wo sie den Alltag am spürbarsten prägen, wird  keine Wahlen gewinnen, kein Zukunftsprogramm entwickeln und auch die Abgrenzung zum extremistischen Rechtsnationalismus bleibt dann ein Drahtseilakt. Es wäre besser, die CDU/CSU machte endlich die Köpfe und Herzen frei für den politischen Neuanfang, den das verängstigte Land und die verzagte Partei so dringend brauchen.

 

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