vonWolfgang Koch 19.10.2006

Wolfgang Kochs Wienblog

Vom letzten Glanz der Märchenstadt oder wie es sich an der blauen Donau gerade lebt.

Mehr über diesen Blog

Auch die Wiener haben ihren Fuji, ihren heiligen Berg – einen inneren Dynamo, um den bei Gelegenheit der Fernblick kreist. So ist es in Wintertagen nichts Ungewöhnliches, dass ein Wienbewohner einen anderen fragt: »Hast du heute den Scheeberg gesehen?« Und der antwortet: »Ja, die Luft war so klar, er war unheimlich nah.«
Der höchste Berg Niederösterreichs erstreckt sich bis auf 2.075 m Seehöhe in den sogenannten Wiener Alpen, also im Westen, und man wird immer wieder überraschende Ausblicke von Hochhäusern auf diesen Gipfel entdecken, Ausblicke, die die seelisch begabteren Menschen sammeln wie sensible Japaner den intimen Anblick des Fuji.
Im Oktober ist übrigens die letzte Gegenlegenheit in das von Berghütten und Gastronomiebetrieben gut erschlossene Gebiet zu reisen. Das geschieht am einfachsten vom niederösterreichischen Ort Puchberg aus. Entweder fährt man mit einem überteuerten Ticket der ÖBB vom Wiener Südbahnhof aus dorthin (29,- EUR für Erwachsene), oder steigt am Bahnhof Puchberg direkt vom Auto in die Zahnradbahn um.
Diese Zahnradbahn ist der Inbegriff einer Wiener Tradition aus dem Raum alpiner Transzendenz. Das heisst beinahe jedes Kind lernt sie schon früh auf Familienwanderungen kennen. Man hat das Vehikel in den letzten Jahren allerdings gründlich modernisiert: schnittige Salamander-Triebzüge und Nostalgie-Waggons bewältigen jetzt den 9,8 Kilometer langen Aufstieg von der Tal- zur Bergstation.
Modernisierung heisst in diesem Fall, die Triebwagen wurden mit im chicen Feuersalamander-Design bemalt, Orange auf Grün, es gibt jede Menge Merchandising-Souvenirs in Salamanderform oder -farben im der Kassenhalle des Bahnhofs zu kaufen und das Personal der Bahn müht sich auf Nachfrage redlich, Hochdeutsch mit den Gästen zu sprechen (»Für ausführliche Informationen steht Ihnen Ihr Zugteam gerne zur Verfügung«).
Diese technologische und PR-mässige und dienstleisterische Aufrüstung kontrasiert auf das Schärfste mit einer hinterwälderischen Bahnhofswirtschaft, einem Restaurant mit rot-weiss karierten Tischdecken, auf denen Volksmusikbeschallung Maggieflaschen zum Tanzen bringt.
Die Freude über das Neue hält aber nur so lange an, bis man im Salamander-Triebwagen selbst Platz genommen hat. Die Türen schliessen automatisch und nun gehen die Lautsprecher im »Erlebniszug« an. Da sitzt du nun in einer kakophonischen Glocke aus Kindergeschrei und gnadenlosem Tonbandgeschwätz gefangen wie Natascha Kampusch. Die nächste volle Stunde wird das Gefährt zum Alptraum, denn bei jeder Kurve gibt eine sarisanfte professionelle Lulu-Stimme unnützes Wissen über den Pfad in zwei Sprachen feil. Kein Wegabschnitt ohne Erklärung, kein Latschenfeld ohne Hinweis, kein Ausblick ohne »Und jetzt sehen Sie rechts…« oder »Und jetzt sehen Sie links…«
Das macht einen verrückt! Sämtliche im Waggon befindlichen Scheebergfreunde sind zur Halbzeit bereits derart niedergeschlagen, dass sie beim ersten Halt an der Baumgrenze wie aufgezogen ins Freie hüpfen. Dort steht zufällig der Verkaufsstand eines Hüttenwirts und man kann seinen Frust umgehend los werden. Denn auf der Baumgartner Höhe werden die mit Abstand grössten und besten Buchteln rund um Wien angeboten.
Gewiss, der Preis ist ist horribel, aber das Innenleben der Buchteln ist mit Topfen oder schokoladenbrauner Zwetschkenpowidl gestaltet, mit jener klebrig-süssen Masse, die ein witziger Kopf einmal »die böhmische Krönungssalbe« genannt hat.
Buchteln kommen, wie die meisten Wiener Mehlspeisen, aus Böhmen – sie gehörten dort einst an Freitagen und in der Fastenzeit auf den Mittagstisch. Da sie sich über ein ganzes Backblech erstrecken, nennen man sie im Ursprungsland auch »Ziegel«. Und das Wort »po-jídla« heisst zu Deutsch »nach dem Essen«, da man Zwetschken einst, wie anderes Obst, erst nach der Hauptmahlzeit reichte.
Die Riesenbuchteln vom Hochschneeberg gehören zu den Erlebnissen, die sich seit Generationen in das Gedächtnis eines jeden Wiener Kindes einprägen. Für uns Städter sind es schon längst keine verzauberten Lichtungen mehr in einem duftenden Hochwald, die das Ausflugserlebnis in die Natur ausmachen, nein, für uns sind es die die kulinarische Erlösungsmomente von den Zumutungen der Moderne.

© Wolfgang Koch 2006

next: MO

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/wienblog/2006/10/19/ein-hollenritt-in-den-wiener-alpen/

aktuell auf taz.de

kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert